Natur und Psyche - Ein Plädoyer für Schutz und Erhalt umgebender Grünstrukturen
Zum Gesundheitsaspekt von Grün- und Freiflächen

Natürliche Landschaftsstrukturen und landwirtschaftliche Nutzflächen am Beispiel des Lottentals in Stiepel
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In den letzten Monaten ist leider vermehrt feststellbar, dass Grün- und Freiflächen nur noch im Hinblick auf ihren Wert als Bauland/Baulandreserve aufgefasst und lediglich als baulich ungenutzte Flächen angesehen werden. Der Gesundheitsfaktor unserer die Siedlungsgebiete umgebenden landwirtschaftlich genutzten Flächen und/oder die Siedlung durchziehenden Brach-, Grün- und Gehölzstrukturen wird dagegen geradezu sträflich vernachlässigt. Dabei wird die körperliche und seelische Gesundheit des Menschen maßbeglich von den Strukturen mitbestimmt, in deren Mitte er sein Zuhause definiert.
Menschen lassen sich dort nieder, wo sie um Strukturen wissen, die ein gesundes und zufriedenes körperliches und seelisches Wohlbefinden garantieren können. Sie treffen ihre Entscheidung nicht nur mit Blick auf die vorhandene Infrastruktur, sondern auch anhand der Existenz und Erreichbarkeit umgebender Grünstrukturen; suchen eine Anbindung an ihre natürlichen Lebensgrundlagen und den Bezug zu landwirtschaftlichen Flächen, um sich ihrer Herkunft zu erinnern und nicht zu entfremden.

Die wider besseres Wissen und gegen jegliche Vernunft fortschreitende Inanspruchnahme, Rodung, Bebauung, Versiegelung und somit unwiederbringliche Zerstörung gewachsener natürlicher Lebensraumstrukturen von Pflanze, Mensch und Tier wird deshalb zu einem enormen Stressfaktor für das seelische Erleben, der sich auf alle Körperfunktionen auswirkt. So bedeutet jede Vernichtung natürlicher Flächen immer auch eine Überlebensraumzerstörung des in Symbiose lebenden Menschen.

Das compact-Heft "Natur und Psyche" 2018 der Zeitschrift PSYCHOLOGIE HEUTE könnte kaum zu einem besseren Zeitpunkt ins Regal gekommen sein. In den enthaltenen Beiträgen lassen sich hinreichende Gründe dafür finden, die uns umgebenden natürlichen Grünstrukturen mit anderen Augen zu sehen. Der Wert von Natur und Landschaft und ihrer strukturellen Bestandteile rechtfertigt durchaus, unseren kleinen und großen innerstädtischen Flächen und unseren Freiraumstrukturen einen Gesundheitsfaktor zuzuweisen und diesen in die Eignungsbewertung avisierter Baulandflächen einfließen zu lassen; die ins Auge gefassten Bauflächen also durchaus auch als zu erhaltende Gesundheitsflächen zu definieren und als solche zu erhalten. 

Natur als Kraftquelle

Die Natur regt alle Sinne des Menschen gleichermaßen an, Wetter, Klima und Landschaft haben einen entscheidenden Einfluss auf das Seelenleben. Die wohltuende Wirkung von natürlichen Landschaften, Parkanlagen, Bäumen, Sträuchern und Verbundstrukturen ist allgemein bekannt. Diese Wirkung beweist sich schon alleine dadurch, dass jeder von uns diese natürlichen Strukturen und Elemente das ganze Jahr über in jeglicher Form nutzt, um sich erholen und regenerieren zu können und den Tank wieder aufzuladen, damit er den Alltagsanforderungen weiterhin standhalten kann.

Dass es sich bei diesen natürlichen Strukturen um die Kraftquellen des Menschen handelt und er sich nirgends so gut erholt, wie in Begegnungen mit der Natur, ist laut PSYCHOLOGIE HEUTE mittlerweile durch viele wissenschaftliche Studien nachgewiesen. Forschungsergebnisse aus der Naturpsychologie* zeigen, dass „grüne Räume“ körperlich, seelisch und kognitiv stärken und gesund halten.
Dabei hat - um auf das geplante Bebauungsgebiet „Gerthe-West“ Bezug zu nehmen - bereits der Kontakt zu den kleinen natürlichen grünen Flecken der Umgebung eine substantiell positive Wirkung auf Konzentration und Gesundheit. Im Grünen finden Körper und Seele zur Ruhe, die Konzentrations- und Leistungsfähigkeit regenerieren sich, die Kreativität wird angeregt und die Lernfähigkeit verbessert.
Ein solcher Erholungseffekt entsteht, weil die natürlichen Strukturen aus sich selbst heraus die sogenannte „schweifende, mühe- und absichtslose Art der Aufmerksamkeit“* anregen. Im „Modus der absichtslosen Aufmerksamkeit“ (Kaplan & Kaplan, Universität Michigan) verbrachte Zeit fördert die Denkfähigkeit und die Ideenfindung, wobei die aktive Bewegung im Freien einen zusätzlichen Anteil an der geistig-seelischen Erholung hat. Dieser geistig seelischen Erholung steht nach Kaplan & Kaplan die „gezielte, willkürliche“, fordernde Art der „Aufmerksamkeit“ entgegen, die z.B. in städtischen Bereichen gefordert ist. Diese ist es, die den Menschen rasch erschöpfen lässt („Aufmerksamkeitserholungstheorie“ nach Kaplan & Kaplan)*.

Körperliche Effekte der Naturbegegnung

Neben der geistig-seelischen Erholung hat ein Aufenthalt in der Natur auch körperliche Effekte. Die beruhigende Wirkung führt zum Abbau von Stresshormonen, dieser bewirkt wiederum eine Stabilisierung des Herz-Kreislauf- und des Immunsystems. („Stresserholungstheorie“ nach Roger Ulrich, US-Architekturprofessor)* Beide Theorien sind durch jahrzehntelange Forschung auf diesem Gebiet bestätigt.
Nach einer Studie von Fuller/Shanahan, Universität Queensland, zeigten sich bei Probanden, die täglich 30 Minuten in Grünstrukturen unterwegs waren, bessere Herz-Kreislaufwerte und weniger Anfälligkeit für Depressionen und Ängste. Dabei sollen Baumgruppen, Wiesen und Vorgärten die Gesundheit sogar bei kaum bewusster Wahrnehmung fördern.
Jolanda Maas von der Universität Amsterdam fand zudem in einer Studie heraus: Wer in der Nähe städtischer oder ländlicher Grünflächen lebt, leidet seltener an Atemwegserkrankungen, Allergien, Bluthochdruck, Schwindel und Kopfschmerzen und fühlt sich zudem seelisch besser, ist weniger ängstlich und gestresst und erkrankt auch seltener an psychischen Störungen. Der Aufenthalt in natürlichen Strukturen wirkt dem Gefühl existentieller Leere entgegen.

Eine Wildnis für Kinder

In Bezug auf die in Gerthe/Hiltrop ebenfalls zur Disposition stehende Bebauung der „Wildnis für Kinder“ ist entscheidend, dass gerade sie zu einer gesunden Entwicklung die motorischen Lernanreize natürlicher Strukturen, eine konzentrationsfördernde Umgebung i.S. ungezwungen „absichtsloser Aufmerksamkeit“, ursprüngliche Strukturen zum Toben, Verstecken, Ausprobieren und zur Selbsterfahrung brauchen. Dem US-Publizisten Richard Louv zufolge ist bei häufig im Grünen verbrachter Zeit ein selteneres Auftreten von Aufmerksamkeitsdefizitsyndromen zu beobachten. Kindern fehle heute durch zunehmende Digitalisierung und Verstädterung vor allem „Vitamin N“; er spricht hier auch von einem „Naturdefizitsyndrom“. Eine Zunahme von Naturkontakten könne eine heilsame Wirkung auf junge Menschen entfalten und den eingeengten Wahrnehmungshorizont wieder weiten (Louv: „Das letzte Kind im Wald“)*.

Wer sich für immer mehr Baugebiete ausspricht, muss sich bewusst sein: Es liegt in der Verantwortung aller, Kindern fußläufig erreichbare Naturerlebnisräume zugänglich zu machen und ihnen solche siedlungsumgebenden Strukturen zu erhalten, damit ihnen eine authentische, erholsame Naturerfahrung möglich ist. Eine verantwortungsvolle grüne Stadtplanung ist unerlässlich, wenn uns die Entwicklung und Gesundheit unserer Kinder am Herzen liegen.

Schutzgebietsstatus kontra Baulandbegehrlicheiten

Einen nicht zu vernachlässigenden Einfluss auf die - nicht nur seelische -Befindlichkeit von Anwohnern und Erholung suchenden Bochumern hat darüber hinaus die Tatsache, dass ein zuvor aus gutem Grund unter Landschaftsschutz gestelltes Gebiet keinen Schutz mehr genießen soll, weil Baulandbegehrlichkeiten mehr Wert beigemessen wird, als dem Erhalt eines funktionsfähigen natürlichen Gefüges. Hier leidet letztlich das Sicherheitsgefühl, weil – einem Wohnungseinbruch nicht unähnlich – ein Einbruch in einen gesichert und somit im Bestandssinne sicher erklärten Landschaftsbestandteil erfolgt; Sicherheit folglich als trügerische, instabile, nur vermeintliche und somit jederzeit ungültig erklärbare Ordnung erfahren wird. Der zur Erhaltung seelischer Gesundheit erforderliche „sichere Ort“ als innerer und äußerer Rückzugsort des sensiblen Menschen geht verloren, das individuelle Sicherheits- und Ordnungsgefühl erfährt eine Erschütterung. Gleichzeitig leiden die Glaubwürdigkeit der Vollzieher von Schutzgebietsausweisungen und die Glaubwürdigkeit des Schutzgebietszweckes und seiner Bewertung, wenn schützenswerte Strukturen problemlos totgebaut werden dürfen und das gegebene Wort nicht mehr zählt. Wer als Naturliebhaber täglich von "seinen" Grünstrukturen profitiert und angesichts der Entwicklungen in "Gerthe-West" nach innen horcht, mag sich hier  wiederfinden. 

Existenzrecht für unbebaute Flächen

Die noch vorhandenen, Bochum durchziehenden, auch im Sinne des Biotopverbundes vernetzenden Grünstrukturen durch Bebauung und Versiegelung dem Wohnumfeld der hier lebenden Bürger, dem Klima und dem Orts- und Landschaftsbild entziehen zu wollen, wäre angesichts prognostiziert rückläufiger Bevölkerungszahlen also das fatal falsche Signal für eine Stadt, die ohnehin sowohl um das Überleben historisch gewachsener Strukturen, als auch um ihr ästhetisches Überleben kämpft.
Eine Stadt ohne vernetzende und umgebende Grünstrukturen ist weder eine ästhetische, noch eine lebenswerte, noch eine im Hinblick auf den körperlichen und seelischen Aspekt gesunde Stadt.
Eine Stadt ist nur dann eine lebenswerte Stadt, ein lebenswerter Wohn-Raum, wenn sie unbebauten Flächen ein Existenzrecht einräumt und die Funktionen Wohnen und Erholen gleichberechtig nebeneinander stellt; wenn beidem ausreichend „Raum“ gegeben wird.

Statt immer wieder neu in ausgetretenen Pfaden die immer gleichen Fehler zu wiederholen, muss sich Bochum dringend erst einmal neu erfinden und konzipieren, ohne blind und kurzsichtig die zum Überleben aller entscheidenden Grünstrukturen wie Gehölz-, Grün- und Brachflächen sowie die bewusst unter Schutz gestellten Landschaftsbereiche zu vernichten.

* Beitrag unter Nutzung der Quelle "PSYCHOLOGIE HEUTE compact, Heft 54: „Natur und Psyche – Wie Draußensein uns stärkt, fordert und befreit“, Beltz 2018

Autor:

Sabine Schemmann aus Bochum

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