Sprit- und Heizkosten
Zeitungsverleger mit zynischer Kampagne als „Retter in der Not“?


NRW/RUHRGEBIET/DORSTEN. „Du kannst dir die Heiz- und Spritkosten nicht mehr leisten?“ Mit dieser mitleidigen Frage werben derzeit Zeitungsverleger über die in Dorsten ansässige „LensingLogistik“ um Zusteller (Zeitungsboten) mit dem Lockruf: „Verdien dir was dazu!“ Mit dem Angebot eines „sicheren Zuverdienstes“ bieten sie „Minijobs, Teilzeit- oder Vollbeschäftigung für Schüler, Studenten, Berufstätige, Arbeitssuchende und Rentner“. Damit verstehen sie sich offenbar als „rettende Helfer in der Not“ für diejenigen, die sich ansonsten wegen der Inflation und Energiepreisexplosion vielleicht verschulden müssten. Deshalb kommt ein Zweitjob wie gerufen?

Noch von 2015 bis 2018 verweigerten übrigens dieselben Verleger (dank ihrer politischen Lobbyisten) ihren fleißigen Zustellern den für alle anderen geltenden gesetzlichen Mindestlohn - und bieten nun, nachdem sie händeringend fehlende Zusteller im Ruhrgebiet und Westmünsterland suchen, „faire Bezahlung“. (Dafür fordern sie aber als Ausgleich  staatliche Subventionen für ihre angeblich wirtschaftlich notleidende Branche). Ist das nun ein hilfreiches oder eher ein zynisches Angebot angesichts drohender finanzieller Nöte an diejenigen, die ohne einen zusätzlichen Nebenjob nicht über die Runden kommen? Ein anderer Verlag inserierte: "Passt zu dir und deinem Leben. Werde jetzt Zeitungsbote."

Wie in den USA können tatsächlich viele ArbeitnehmerInnen auch in Deutschland seit längerem nur noch mit einem zusätzlichen Zweit- und Drittjob überleben, da sie von ihrem normalen Arbeitslohn allein nicht leben können. Bisher betraf das vorwiegend prekär Beschäftigte, inzwischen auch Normalverdiener in den unteren bis mittleren Gehaltsgruppen – und das jetzt rapide zunehmend in den Zeiten der hohen Inflation und Energiepreisexplosion.

Hilfreiches Angebot oder Zumutung für die Umworbenen?

Ihnen wird von den Verlegern nun angeboten, frühmorgens (ab 3 oder 4 Uhr nachts bei jedem Wetter) mittels zurückzulegender Kilometer „in schweren Zeiten etwas für ihre Gesundheit tun“ zu können mit einem Zusatzjob als Zeitungszusteller oder Zustellerin in nächtlichen Morgenstunden. (Eine berufliche Doppelbelastung sei der Gesundheit dienlich?) Also für voll Berufstätige zusätzlich noch vor der anstrengenden 8 bis 10 Stundenschicht mit Pendlerzeit, oder für in Teilzeit tätige Mütter und Väter noch vor dem Weg zum Kindergarten. Aber auch für Schüler vor dem stressigen Schultag zur Unterstützung ihrer bedürftigen Eltern, damit diese ihre Energierechnungen davon bezahlen können. Oder als Angebot für betagte Rentner, damit sie nicht Pfandflaschen sammeln müssen?

Aufschlussreiche Kongresse der Zeitungsverleger-Verbände mit Lobbyisten

Wer die Vorgeschichte kennt, kann den Zynismus dieses „großzügigen Hilfsangebotes“ der Verleger besser einschätzen: Vor wenigen Tagen hielt der Bundesverband der Zeitungsverleger seinen Jahreskongress ab unter dem bisherigen umstrittenen Präsidenten Mathias Döpfner vom Springer-Verlag und mit FDP-Finanzminister Lindner als Gastredner.

Und am 30. August, vor zweieinhalb Wochen hielt der nordrhein-westfälische Verband der Zeitungsverleger (mit dem stellv. Vorsitzenden Lambert Lensing-Wolff als Verlagserbe der Ruhr-Nachrichten) seinen Jahreskongress ab, und zwar mit NRW-Ministerpräsident Wüst (CDU) als Gastredner, der bei den Verlegern einstmals ein und aus ging.

Alte Seilschaften wiederbelebt?

Damit waren alte Verbündete als Seilschaft unter sich, denn Hendrik Wüst war (nach mehrjähriger Tätigkeit für einen anderen Lobbyverband) zwischen 2010 und 2017 Geschäftsführer des Zeitungsverlegerverbandes NRW und damit ihr hauptamtlicher Lobbyist, zugleich nebenamtlich als Politiker auch im Landtag vertreten. (Als junger Generalsekretär der Landes-CDU hatte er damals in der BILD-Zeitung des Verlegers Matthias Döpfner vom Springer-Konzern in einem Interview die zynische Forderung erhoben, Arbeitslose auch "zum Aufsammeln von Hundekot und Drogenspritzen" zu zwingen - somit der richtige Ansprechpartner für die Verleger in Arbeitnehmerbelangen.)

Jahrelang verweigerter Mindestlohn für die Zeitungszusteller

Just während dieser Zeit mit ihrem Verbands-Lobbyisten Hendrik Wüst forderten die stets jammernden, aber gut verdienenden Verleger damals mit seiner Hilfe gegen alle Widerstände erfolgreich eine Ausnahmeregelung von der (bundesweit eingeführten und allgemeingültigen) Mindestlohnregelung, zum Verdruss der Gewerkschaften und der Betroffenen. Damit wurde der Job des Zeitungszustellers oder der Zustellerin zunehmend unattraktiv und viele suchten sich einen anderen Job.

Dreiste Forderungen der Verleger an die Politik

Seither ist es schwer, für diesen anstrengenden Job noch Arbeitskräfte zu finden, auch für das in zahlreichen Geschäftsfeldern führend tätige Medienhaus Lensing-Media als größtes Zeitungsunternehmen in NRW und Familienunternehmen (dessen Gründer seinerzeit CDU-Spitzenpolitiker in NRW war). Doch die um Jahre verzögerte Gewährung des Mindeslohnes auch für Zeitungszusteller wollen sich die Zeitungsverleger nun mit staatlichen Subventionen dafür ausgleichen lassen, so lautet ihre dreiste Forderung an die Politik.

Verleger fordern finanzielle Unterstützung zur Bezahlung der Zeitungsboten

Auch bei ihrem diesjährigen Kongress vor 3 Wochen in NRW bettelten die Zeitungsverleger bei den anwesenden Politikern wie Landesvater Hendrik Wüst (CDU) oder Finanzminister Lindner (FDP) um Fördermittel und „ausreichende finanzielle Unterstützung für die frühmorgendliche Zeitungszustellung“, da diese sonst unwirtschaftlich wäre. Hendrik Wüst, der vormalige Zeitungsverleger-Lobbyist, versprach, sich auch in seiner neuen Funktion politisch dafür einzusetzen. (Schließlich hatten die Verleger seine Ministerpräsidenten-Kandidatur außerordentlich begrüßt und medial unterstützt).

"Flächendeckende Informationsversorgung akut gefährdet"?

Natürlich wollen Millionen Haushalte in NRW aktuelle lokale Informationen der (fusionierten) Zeitungen ins Haus geliefert bekommen. Nun aber würden die massiv gestiegenen Energie- und Papierpreise auch die Zeitungsverlage treffen und die „flächendeckende lokale Informationsversorgung akut gefährden“, so die Klage des Verleger-Lobbyverbandes.

Verleger beendeten selber die Medienvielfalt durch Pressekonzentration

Das Argument der Verleger, dass damit zugleich auch die „lokale Medienvielfalt“ gefährdet sei, klingt aus deren Mund allerdings unglaubwürdig, da sie als Betreiber der Medienkonzentration im Ruhrgebiet und in NRW eben die vorherige „lokale Medienvielfalt“ beendet haben, aber damit satte Gewinne (auch auf Kosten der Zusteller und Journalisten sowie der schlecht bezahlten freien Mitarbeiter in den personell reduzierten Redaktionen) erzielt haben. Dazu haben ihnen die 13 Mio. verbliebenen Leser in NRW verholfen, trotz der zunehmenden Konkurrenz der sozialen Online-Medien, (wozu eigentlich auch der Lokalkompass mit seinen kostenlosen Bürgerreportern gehört).

Zeitungshaus als Top-Familienunternehmen mit 194 Mio. € Jahresumsatz

Der geschätzte Umsatz des Lensing-Media-Familienunternehmens beträgt (laut Mittelstands-Zeitschrift „Die Deutsche Wirtschaft“) immerhin fast 194 Mio. Euro und liegt damit im Ranking der umsatzstärksten Top-Familienunternehmen auf Platz 1242. „Unternehmen wie die Lensing Media GmbH & Co KG stellen das dynamische Rückgrat der deutschen Wirtschaft dar“, so ist dort nachzulesen. Damit sollte doch eigentlich auch für die Zeitungzusteller ein attraktiver Lohn abfallen, umso höher, als es hier einen akuten Mangel an Job-Interessenten gibt – so funktioniert der Arbeitsmarkt in einer Marktwirtschaft.

Regierung sagt prompt staatliche Förderung für Verleger zu

Die Verleger rufen dazu trotz guter Umsätze nach staatlicher Förderung des Zeitungsvertriebs. Finanzminister Lindner (FDP) hat auf deren Bundesverbandstagung bereits zugesagt, ihnen „finanziell unter die Arme zu greifen“ und das Wirtschaftsministerium prüft bereits geflissentlich geeignete Förderinstrumente. Denn laut Lindner ist „die Zustellung von Zeitungen und Zeitschriften Teil unserer Infrastruktur“. Hartnäckiger Lobbyismus macht sich also zumindest für die Verleger bezahlt, weniger für die Zeitungszusteller. Doch die akute Notlage der Haushalte und Familien in der Inflations- und Energiepreiskrise kommt gerade recht, um auf Erfolg der Stellenausschreibungen der Verlage für neue Zeitungszusteller zu hoffen, auch wenn diese weniger freiwillig als vielmehr notgedrungen solchen Nebenjob kräftezehrend annehmen und dafür auf ihren nächtlichen Schlaf verzichten.

Gehaltsspannen der Zeitungszusteller in Deutschland

Das Bruttogehalt der wenigen in Vollzeit tätigen Zeitungszusteller liegt in Deutschland im Mittel bei 2.709 € im Monat (in NRW 2.749 € ) oder 33.596 € im Jahr, 50% liegen aber darunter mit 2.411 € im Monat oder 29.893 € im Jahr (und 50% darüber mit 3.045 E im Monat oder 37.758 € im Jahr), also ähnlich wie bei Briefträgern oder Paketzustellern. (Quelle: Gehalt.de). Im Ranking der 16 Bundesländer wird in 4 Bundesländern deutlich mehr als in NRW gezahlt (Spitzenreiter Baden-Württemberg mit 2.933 € im Monat). In NRW ist also noch „Luft nach oben“. Verlangt wird von den Zeitungsboten Flexibilität, eigenständiges Arbeiten und Zuverlässigkeit sowie Ortskenntnisse und Wetterfestigkeit, ferner ein eigenes Transportmittel, das nicht von den Verlagen gestellt wird.

Arbeitsbedingungen der Zeitungzusteller als klassischer Nebenjob

In der Regel wird aber Zeitungszusteller als Nebenjob betrachtet und ausgeübt, um sich „etwas dazu zu verdienen". Erst seit 2017 erhalten die Zeitungszusteller den gesetzlichen Mindestlohn. Vorher hatte die Verleger-Lobby unter Protest der Gewerkschaften einen niedrigeren Lohn durchgesetzt. Die meisten Verlage der Tageszeitungen zahlen einen Stundensatz (manche auch einen Stücklohn d.h. der Stundenlohn ergibt sich hier aus der Schnelligkeit), wobei die Arbeitszeit mit der Ankunft an der ersten Verteilstelle beginnt. Unbezahlt bleiben die Wartezeiten an der Verteilstelle, bis die gedruckte Zeitung eintrifft sowie das Sortieren und Umschichten in ein Transportmittel. (Quelle. Focus-online).

Verzicht auf Nachtruhe für Zahlung der Stromrechnung?

Nach einem Arbeitsgerichtsurteil von 2020 haben Zeitungszusteller einen Anspruch auf Nachtzuschlag in Höhe von 30%, wenn sie dauerhaft auch nachts Zeitungen austragen. Das ist das Mindeste, wenn die Zusteller auf ihre nächtliche Erholung und Ruhephase zur Schlafenszeit verzichten, obwohl sie nach dem Zeitungaustragen dann noch ihrem Hauptjob nachgehen müssen, in der Hoffnung, dass beides zusammen vielleicht ausreicht, die Gas- und Stromrechnung zu bezahlen...

Mit schlechtem Gewissen die Zeitung aus dem Briefkasten holen?

Als Zeitungsleser können wir den Zustellern nur unendlich dankbar sein, aber fortan die Zeitung nur noch mit schlechtem Gewissen aus dem Briefkasten holen. Besser wären gutbezahlte Vollzeitjobs für die Zeitungszusteller mit einer Vergütung, die auch für die aktuelle Gas- und Stromrechnung reicht. Sonst müssten auch die Vollzeit-Zeitungszusteller obendrein noch einen anderweitigen Zweitjob suchen….

Wilhelm Neurohr, 17. September 2022

Autor:

Wilhelm Neurohr aus Haltern

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