Politischer Selbstbedienungsladen
Politiker und Beamte der EU genehmigen sich automatische Anpassung ihrer hohen Einkommen an steigende Inflationsrate
Foto: Stephan Bratek/geralt / pixelio.de
BRÜSSEL. Während die Normalbürger - Arbeitnehmer, Rentner und Selbständige - mit großen Existenzsorgen der zweistelligen Inflationsrate entgegensehen und die Gewerkschaften verzweifelt einen bescheidenen Inflationsausgleich zu erstreiten versuchen, gönnen sich die gut verdienenden Politiker und Beamten auf der EU-Ebene einen vollen Inflationsausgleich per automatischer Anpassung rückwirkend zum 1. Juli 2022. Dieses interne Papier wurde vor einer Woche bekannt, aber kaum beachtet, als die EU-Bürger durch Krieg und Energiepreisexplosion abgelenkt waren. Wen verwundert es, dass die politik- und parteiverdrossenen Bürgerinnen und Bürger aktuellen Umfragen zufolge nur noch geringes Vertrauen in die Politik und die Parteien haben und zu einem Drittel glauben, in einer Scheindemokratie zu leben, in der die Politiker mit ihrer Selbstbedienungsmentalität sich immer mehr vom einfachen Wahlvolk abheben.
Sollte die EU (nach einem internen Papier des Haushaltsdirektors der EU-Kommission für den Haushaltsauschuss des Europaparlaments) ihre Pläne zur Gehaltserhöhung um fast 7% gegen die Kritik einiger Mitgliedsländer voraussichtlich durchsetzen, hätte das folgende Effekte: Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erhält dem Bericht zufolge 2.015 Euro mehr Grundgehalt (zu ihrem Monatsgehalt von 27.000 € incl. Aufwandsentschädigung bzw. zum Bruttojahresgehalt von ca. 325.000 €). Die übrigen EU-Kommissare (mit 20.000 € Grundgehalt) bekämen 1.643 Euro mehr Geld.
Automatischer Anpassungsmechanismus bei den Diäten
Die Diäten der EU-Abgeordneten (von 9.400 € zuzüglich großzügiger Sitzungsgelder und Übernachtungskosten) würden um 632 Euro erhöht. Je nach Besoldungsgruppe steigt das Gehalt eines EU-Beamten um 210 bis 1.460 Euro im Monat. (Endgültige Zahlen zu der fälligen Gehaltserhöhung legt die EU-Statistikbehörde Eurostat Ende Oktober vor). Bei den EU-Gehaltserhöhungen greift ein automatischer Anpassungsmechanismus, der die Bezüge entsprechend der Inflationsrate erhöht. Wegen stark gestiegener Energiepreise hatte die Inflation in der Euro-Zone zuletzt ein Rekordniveau erreicht.
Die allzu üppige Versorgung der EU-Mandatsträger
Dass unsere Abgeordneten nur ein „Mandat auf Zeit“ ausüben, ist unseren zumeist lebenslangen „Berufspolitikern“ nicht geläufig. Aber so ein Mandat im EU-Parlament ist allzu verlockend, weil äußerst lukrativ: Die Abgeordneten erhalten nicht nur ein steuerpflichtiges „Gehalt“ – so heißen die Diäten in Straßburg – von über 8.850 Euro zuzüglich 4.200 Euro Aufwandsentschädigung plus 152 Euro Tagegeld für jede Übernachtung, sondern obendrein für jede Teilnahme an Beratungen noch 304 Euro Sitzungsgeld, automatisch auch ohne Eintragung in die Anwesenheitsliste. Alles zusammen summiert sich auf insgesamt fast 18.000 Euro monatlich oder 214.000 Euro im Jahr (nach Zahlen von 2019). Hinzu kommt natürlich die Erstattung aller Reisekosten erster Klasse, bis zu 4.234 Euro pro Jahr. Bei Erkrankung haben sie Anspruch auf Zweidrittel Erstattung ihrer medizinischen Kosten. Derweil gehen die Wähler mit oder ohne „Gelbwesten“ auf die Straße, weil die arbeitenden Menschen ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten können. Das sollte die Volksvertreter auch im EU-Parlament nachdenklich machen.
Fürstliche Altersversorgung der ausscheidenden EU-Abgeordneten
EU-Abgeordneten steht bei Nichtwiederwahl zwei Jahre lang nach Ausscheiden aus dem Parlament eine Übergangsvergütung von insgesamt bis zu 354.000 Euro zu, nämlich in Höhe eines Monatsgehaltes pro Jahr der oft langjährigen Mandatsträger, also X Jahre mal 8.850 €. Schon nach nur einer Wahlperiode erwirbt ein EU-Abgeordneter einen Altersversorgungsanspruch in Höhe von 1405 € monatlich (bei 10 Wahlperioden also ein Vielfaches) schon ab dem 63. Lebensjahr (ohne einen Cent in die Rentenkasse einzuzahlen), derweil der deutsche Durchschnittsrentner nach 45 Jahren auf nur 1175 Euro ab dem 67. Lebensjahr kommt (Stand 2019). Die Altersversorgung der EU-Abgeordneten entspricht für jedes volle Jahr der Ausübung des Mandats 3,5 % der Dienstbezüge, insgesamt jedoch nicht mehr als 70 %, für Langzeit-Abgeordnete also bis rund 84.000 € Rente im Jahr oder 7.000 € im Monat.
Gleichzeitiges oder anschließendes Zubrot durch Lobbytätigkeiten
Eine solch luxuriöse Versorgung wie bei der EU gibt es nicht einmal für die Abgeordneten in unserem Bundes- und Landesparlament. Da es für die Europaabgeordneten keine Direktwahlkreise gibt, sondern nur Listenwahl, entstehen für sie auch kaum Kosten für Wahlkreisarbeit. Trotzdem erhalten sie für jeden Mitarbeiter bis zu 21.209 Euro monatlich, so dass ein EU-Abgeordneter aus Rumänien als Spitzenreiter 19 Mitarbeiter eingestellt hat. Dass mehr als ein Drittel der Europa-Abgeordneten noch bezahlten Berater- und Nebentätigkeiten auch für Lobbyorganisationen nachgehen, mit bis zu 100.000 Euro Nebenverdienst im Jahr, ist bei „Transparency international“ nachzulesen.
Politische Transparenz in Krisenzeiten unverzichtbar
Schätzungsweise 25.000 Lobbyisten mit einem Jahresbudget von 1,5 Milliarden Euro nehmen in Brüssel laut Lobbycontrol Einfluss auf die EU-Institutionen. Etwa 70 Prozent von ihnen arbeiten für Unternehmen und Wirtschaftsverbände. Sie genießen privilegierte Zugänge zu den Kommissaren. Und sie überhäufen die Abgeordneten mit ihren Änderungsanträgen für Gesetzesvorlagen. Die europäische Demokratie läuft Gefahr, zu einer wirtschaftsdominierten Lobbykratie ausgehöhlt zu werden. Besonders in Krisenzeiten ist es wichtig, politische Entscheidungen auf demokratische und transparente Weise zu fällen. Andernfalls ist es den Bürger:innen nicht möglich, die Entscheider:innen in die Verantwortung zu nehmen. Daran musste die EU-Bürgerbeauftragte nun auch EU-Kommission und Rat erinnern, die gegen die seit kurzem geltenden Transparenz-Richtlinien verstoßen. Die Distanz der EU-Eliten zu den Bürgerinnen und Bürgern in Europa ist unendlich groß, sie zeigt sich aber auch in der abgehobenen Subkultur auf nationaler Politik-Ebene.
"Gratismentalität" oder "Vollkaskomentalität" bei Bürgern oder bei Politikern?
Hatte nicht erst kürzlich Finanzminister Christian Lindner (FDP) den Wunsch der einkommensschwachen Menschen und Armutsrentner nach Verlängerung des 9-€-Tickets als "Gratismentalität" oder "Vollkaskomentalität" abgekanzelt, derweil er selber als privilegierter Politiker auf Steuerzahlerkosten die Bahncard 100 ohne Einschränkung auch privat gratis nutzen darf ? Bis März 2022 erhielten die Abgeordneten auch eine kostenlose Vielfliegerkarte bei der Lufthansa und behalten weiterhin die Vorteile eines "Lufthansa-Senator-Status", obwohl sich die Volksvereter bei derzeit 10.323 € Diäten (plus 4.583 € Kostenpauschale) ein bezahltes Bahn- oder Flugticket Ticket leisten könnten.
"Grenzen des politischen Anstands überschritten"
Der "Stern" kritisierte: Mit dem pauschalen Vorwurf einer allgemeinen "Gratismentalität" in der Bevölkerung habe Christian Lindner die Grenzen des politischen Anstands überschritten", um von der eigenen Gratismentalität abzulenken. "Gratismentalität" sei das etwas vornehmere Wort für "Schnorrer" als Pauschal-Vorwurf mancher Reicher an die Armen. Nicht ohne Grund sinken deshalb die Umfragewerte und Wahlergebnisse für die FDP, die sich in der Ampel-Koalition als bloßer Bremser aller sozialen Vorhaben betätigt und die Interessen der Reichen hütet. Mit einem ähnlichen Verhalten und Pauschal-Vorwurf ist die "Partei der Besserverdienenden" schon einmal aus dem Bundestag geflogen. Inzwischen gilt für die FDP offenbar: "Lieber falsch regieren als gar nicht regieren." Der selbstkritische Blick auf die eigenen Privilegien der Volksvertreter, die wie selbstverständlich auf Steuerzahlerkosten in Anspruch genommen werden, bleibt aus, weil die Abgeordenten gerade in Krisenzeiten dafür jede Sensibilität vermissen lassen,
Privilegien bei der Abgeordentenversorgung der Bundestagsabgeordneten
Obwohl die Bundestagsabgeordneten nicht in die gesetzliche Rentenkasse einzahlen, erhalten sie aus der Steuerkasse schon nach kurzer Zeit üppige Pensionen, von denen die Arbeitnehmer nach 45 Jahren Einzahlung nur träumen können (mit nur 1.311 € Durchschnitts-Bruttorente). Schon nach 27 jahren erreichen demgegenüber die Abgeordenten den Höchstbetrag von fast 6.800 € (Altpolitiker bis 10.000 €) . Der Bund gibt für die Altersentschädigung an ausgeschiedene Mitglieder des Bundestags mehr als 50 Millionen Euro im Jahr aus. beim Ausscheiden eines Abgeordneten aus dem Bundestag erhält er ein Überbrückungsgeld von 9.542 € pro Mandatsjahr, nach 18 jahren eine Summe von 172.000 €. Mit der Rekordzahl von 726 Mandaten ist der deutsche Bundestag die größte frei gewählte nationale Parlamentskammer der Welt. So funktioniert der politische Selbstbedienungsladen.
Verzögerte Transparenz über Nebentätigkeiten und Lobbyarbeit von Abgeordneten
Obwohl inzwischen gesetzlich festgelegt wurde, dass nach der Bundestagswahl die Abgeordneten nun endlich ihre Nebeneinkünfte auf Euro und Cent offenlegen müssen und bezahlte Lobbyarbeit neben dem Mandat verboten wurde, ebenso Beratung von Kunden in puncto Lobbyarbeit, kann nicht nachvollzogen werden, ob sich Abgeordete an die neuen Regeln des Gesetzes halten. Es darf nicht sein, dass die Öffentlichkeit nun bald ein Jahr nach der Bundestagswahl immer noch keine Informationen über die Nebentätigkeiten ihrer Abgeordneten erhält! Die Organisation Lobbycontrol fordert die Ampel und die Bundestagsverwaltung auf, hier nun sehr zügig zur Tat zu schreiten. Fast ein Jahr nach der Bundestagswahl sehen wir von den Nebentätigkeiten und den Nebenverdiensten: genau gar nichts! Das ist untragbar. Mögliche Interessenkonflikte bleiben unsichtbar. Die Regierung und das Parlament mauern, indem sie sich hinter "rechtlichen Problemen" und "langwierigen Beratungen im Ältestenrat" verstecken.
Anspruch und Wirklichkeit einer bürgernahen Politik klaffen weit auseinander
In der momentanen Krisensituation, in der alle politischen Akteuren eifrig beteuern, wie sehr ihr Herz plötzlich den jahrzehntelang vernachlässigten Bedürftigen im Lande gilt mit den eiligst geschürten "Hilfspaketen", lässt nicht wirklich erkennen, dass dem Anspruch einer bürgernahen Politik Rechnung getragen wird. Obwohl beispielsweise das neue "Bürgergeld" der Ampelkoalition mit dem Versprechen eingeführt wurde, dass damit "Hartz IV bald Geschichte" sei, erweist sich in Wirklichkeit nicht als ein versprochener "Systemwechsel". Von einer grundlegenden Reform unserer sozialen Sicherheitssysteme und einem echten sozialpolitischen "Kulturwandel" kann im Ergebnis nicht die Rede sein. Und auch die Behebung der Wohnungsnot mit dem Versprechen bezahlbarer Wohnungen ist nicht in Sicht, erst recht keine sozial gerechte Steuerreform. Stattdessen werden die Menschen auf drastischen Wohlstandverlust eingeschworen, vor allem auch diejenigen 16 Millionen armutsbetroffenen oder-gefährdeten in Deutschland, die schon bisher am Wohlstand gar nicht oder kaum teilhatten, weil sie sich schon lange oder dauerhaft am Existenzminimum bewegen.
Sozialer Sprengstoff bei Zunahme der Kluft zwischen arm und reich
Die durch die Krise noch drastisch zunehemende Kluft zwischen arm und reich in diesem Land mit Alters- und Kinderarmut sowie zunehmenden Schlangen vor Tafeln und Suppenküchen ist nicht erst durch die Energiekrise und Inflation oder die Kriegsfolgen ursächlich aufgekommen, sondern besteht schon seit über 30 Jahren mit ungebremster Zunahme, wie in den jährlichen Armutsberichten der Bundesregierungen und Koalitionen aller Coleur nachzulesen. "Kinderarmut ist eine Schande für so ein reiches Land" , sagte nach 16 Jahren Regierungszeit die dafür mit verantwortliche Kanzlerin Angela Merkel in ihrer vorletzten Regierungserklärung im Bundestag.
Doch trotz des sozialen Sprengstoffs gilt die vordringliche Sorge der Politiker der eigenen Absicherung ihres hohen Einkommens durch rückwirkenden Inflationsausgleich in voller Höhe, wie es die EU-Politiker vorleben? Das ist es, was in den harten Krisenzeiten den Menschen im Lande aufstößt, von denen z. B. bei den Kommunal- und Landtagswahlen in NRW jeder Zweite der Wahl ferngeblieben ist und in Niedersachsen den Rechtspoulisten der AfD zweistellige Stimmenzahlen eingebracht hat. Trotzdem "weiter so", obwohl die politische Selbstbedienungsmentalität der Politik und der Demokratie schadet?
Wilhelm Neurohr, 18. Oktober 2022
NACHTRAG vom 09. November 2022:
Das EU-Parlament hat auf diesen Artikel im Lokalkompass über sein Bürgerreferat am 9. November 2022 reagiert. Es bestätigt per Email die hier dargestellten Angaben über die derzeitige Höhe der Diäten für die EU-Abgeordneten, die als "Dienstbezüge" bezeichnet werden. Zugleich informiert es darüber, dass es erst im Juni 2022 eine Erhöhung von 2,4% gegeben hat (gemäß den Verfahrensregeln einer gültigen EU-Verordnung). Über die darüber hinaus geplante weitere Erhöhung rückwirkend zum Juli 2022 zwecks Ausgleich für die steigende Inflationsrate sei bisher noch kein Beschluss gefasst worden.
Anmerkung: Der Artikel im Lokalompass bezog sich auf ein vertrauliches Vorschlagspapier des Haushaltsdirektores der EU-Kommission, das an die Presse gelangt war. Es ist wohl sehr wahrscheinlich, dass der Vorschlag zur nochmaligen Erhöhung der Dienstbezüge für alle EU-Parlamentarier und EU-Bamten ohne gesonderte Information der Öffentlichkeit in das Beschlussverfahren gebracht wird.
Autor:Wilhelm Neurohr aus Haltern | |
Webseite von Wilhelm Neurohr |
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