Mehr als 200 Millionen Euro – 42 neue Straßenbahnen

Die Einzelradfahrwerke der Straßenbahnen vom Typ NF6D (im Bild) machen Probleme - jetzt strebt die Bogestra (hier zu sehen Vorstand Gisbert Schlotzhauer und Aufsichtsrat Dr. Ottilie Scholz) die große Lösung an.
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  • Die Einzelradfahrwerke der Straßenbahnen vom Typ NF6D (im Bild) machen Probleme - jetzt strebt die Bogestra (hier zu sehen Vorstand Gisbert Schlotzhauer und Aufsichtsrat Dr. Ottilie Scholz) die große Lösung an.
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In diesen Straßenbahnen steckte vom ersten Tag an der Wurm. Was die Firma Siemens/Düwag da in den Jahren 1992 und 1994 auslieferte, sorgte von Beginn an für Kopfzerbrechen. Es krankt unter anderem am Fahrwerk – die Bogestra macht nun beim Typ NF6D eine Vollbremsung. Die „Schrott-Bahnen“ kommen vorzeitig zum Altmetall.

Gisbert Schlotzhauer, Bogestra-Vorstand für Personal, Kommunikation und Infrastruktur, über die anfälligen Bahnen: „Sie haben uns vom ersten Tag an vor Herausforderungen gestellt. Erst 2006 zur Fußball-Weltmeisterschaft war die volle Verfügbarkeit der Fahrzeuge gegeben.“
War der Anlauf bereits missglückt, wurde es danach noch schlimmer. Große Probleme verursachten später Risse in der Rohbaukonstruktion an Fenster- und Türecken, die immer wieder auftreten und nur mit einem immensen Aufwand repariert werden können.

Erst innovativ, dann schnell ausgemustert

Als weitere Sollbruchstelle der Wagen entpuppten sich die Anfang der 1990er Jahre als innovativ gefeierten Einzelradfahrwerke, die gegossen sind. Seinerzeit die Lösung für die ersten Niederflurfahrzeuge, doch bald bereits aus der Produktion. Weil der Guss unter Belastung zu Rissen neigt.
Wie im Sommer 2014, als auf Gelsenkirchener Stadtgebiet bei 70 Stundenkilometern eine sogenannte Achsbrücke brach. Schlotzhauer: „Da hatten wir die Hoffnung, dass es sich um einen Einzelfall handelt. In der Nacht vom 27. zum 28. Januar wurde dann aber klar, dass es sich um ein grundsätzliches, erhebliches Problem handelt.“ Da fiel in der Werkstatt eine weitere Achsbrücke mit Rissbildung auf, woraufhin die Bogestra die Höchstgesschwindigkeit der Bahnen auf 30 Stundenkilometer drosselte. Nun die komplette Vollbremsung.

Bis zu 130 Millionen für die Straßenbahnen

Der Bogestra-Aufsichtsrat beschloss in einer Sondersitzung am Freitag, 6. März, unter dem Vorsitz der Bochumer Oberbürgermeisterin Dr. Ottilie Scholz einstimmig, im Rahmen einer Ersatzbeschaffung vorzeitig 42 neue Straßenbahnen in einem europaweiten Ausschreibungsverfahren zeitnah zu kaufen. Als Investitionssumme stehen bis zu 130 Millionen Euro im Raum. Dazu kommen acht weitere Optionsfahrzeuge. Das Ausschreibungsverfahren beginnt noch im März. Die Auslieferung der ersten Fahrzeuge ist für 2016, die Auslieferung der letzten Fahrzeuge für 2020 geplant. Die Optionsfahrzeuge könnten 2023 bis 2024 geliefert werden. Ottilie Scholz: „Schnelles und konsequentes Handeln war angesagt, die Angelegenheit duldet keinen Aufschub. Die Investitionen werden über den genannten Zeitraum getaktet.“ Klar, dass sich das Unternehmen das Geld auf dem Kapitalmarkt beschaffen muss.

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Frage nach der ÖPNV-Finanzierung

Andreas Kerber, Bogestra-Vorstand für Finanzen, Betrieb und Kunde, nennt in diesem Zusammenhang als Verhandlungspartner die Europäische Investitionsbank und die KfW-Förderbank. Das aktuell günstige Zinsniveau kommt dem Kreditnehmer entgegen. Kerber: „Grundsätzlich gilt es, über die Finanzierung des öffentlichen Personennahverkehrs mit Land und Bund zu sprechen, über reine Infrastrukturfinanzierungen hinaus. Das Gesamtkonstrukt – mit der Folge der chronischen Unterfinanzierung – muss überdacht werden.“

Geschmiedete statt gegossener Achsen

Zurück zu den hiesigen Problem-Bahnen. Die Firma GHH Radsatz in Oberhausen tauscht nun nach und nach die gegossenen Achsen gegen geschmiedete Exemplare aus. Für die damit verbundenen Arbeiten werden pro Fahrwerk bis zu drei Monate benötigt. Auch wenn die GHH Radsatz – wie mit der Bogestra vereinbart – die Achsen mehrerer Fahrwerke gleichzeitig durch neue Achsen ersetzt, ist bei diesem Programm insgesamt mit einer Dauer von mehreren Jahren zu rechnen. Alleine die Kosten für die externe Bearbeitung eines Fahrwerks belaufen sich auf rund 17 000 Euro, dazu kommen noch Personalkosten und Standzeiten. Jedes NF6D-Fahrzeug besitzt zwei Einzelradfahrwerke.
Darüber hinaus wurde vereinbart, dass die Spezialfirma parallel zum Austauschprogramm ein Überprüfungsprogramm durchführt. Dabei wird mittels eines mit der Technischen Aufsichtsbehörde abgesprochenen Verfahrens die Schadensfreiheit der untersuchten Achsen festgestellt. Die Fahrwerke, die das Überprüfungsprogramm erfolgreich durchlaufen haben, wären danach wieder für Fahrten mit Geschwindigkeiten bis 50 Stundenkilometern freigegeben.
Die Bogestra geht davon aus, dass durch die Rückkehr weiterer Fahrwerke aus dem Austausch- und Überprüfungsprogramm nach und nach eine steigende Anzahl von NF6D-Fahrzeugen zur Verfügung steht, die wieder mit Geschwindigkeiten jenseits von 30 Stundenkilometern unterwegs sein können. Das würde die Möglichkeit eröffnen, NF6D-Fahrzeuge wieder auf den Linien 308/318 einzusetzen und so Variobahnen für den Einsatz auf anderen Linien verfügbar zu machen, beziehungsweise mehr Spielraum für die Sonderverkehre bei Großveranstaltungen zu bekommen. Für die Heimspiele von Schalke 04 und des VfL Bochum können aktuell die besagten NF6D nicht eingesetzt werden.

Tägliche Überprüfung aller NF6D

Alle derzeit eingesetzten NF6D-Fahrzeuge werden täglich mittels Mehrfachmessung des betroffenen Bauteils auf Auffälligkeiten überprüft. Ottilie Scholz: „Für die hier zu leistenden Sonderschichten gilt den Mitarbeitern der Werkstatt ein ganz dickes Dankeschön!“
„Herausforderungen“ von Beginn an, wie Gisbert Schlotzhauer sagt. Hersteller Siemens/Düwag nahm sich davon wenig bis nichts an, nutzte schlitzohrig eine Art Schlupfloch im Vertrag. Obwohl im sogenannten „Lastenheft“ (hier werden die Anforderungen an ein neues Fahrzeug durch den Auftraggeber definiert) auch ein „sicherer Fahrbetrieb für mindestens 35 Jahre“ festgeschrieben wurde. Schlotzhauer: „Siemens-Mitarbeiter waren ständig im Haus, damals noch im Betriebshof Gerthe. Wir kamen auf keinen Nenner, es wurde der Klageweg beschritten. Letztlich stufte das Gericht das Lastenheft als nachrangig ein.“ Schon bei der zuletzt georderten Variobahn wurde nach den negativen Erfahrungen das Lastenheft zu einem Hauptbestandteil des Kaufvertrags.

Ertüchtigung der U35 - 200 Millionen insgesamt

In der besagten Aufsichtsratssitzung wurden auch Investitionen beschlossen, um die rund 25 Jahre alten Fahrzeuge der U35 (Typ B-Wagen) in den kommenden Jahren zu modernisieren. Der Weg den Fahrzeugbestand von 25 B-Wagen in modernisierter Form weiter zu nutzen, ist möglich, weil die Fahrzeuge voraussichtlich noch über die dafür notwendige Substanz verfügen. Der Aufsichtsrat beschloss daher die technische Ausrüstung für 25 Fahrzeuge für die Jahre 2023 bis 2027. Um die Modernisierung in dieser Zeit zu realisieren und keine Qualitätseinbußen beim Verkehr der „CampusLinie“ zu erleiden, ist es erforderlich, den Fahrzeugbestand zu erweitern. So wurde die Beschaffung von sechs Regelspur-Schienenfahrzeugen beschlossen. Sie sollen in den Jahren 2021 und 2022 ausgeliefert werden.
Die Kosten für die neuen Straßenbahnen und die Ertüchtigung der U35 werden die Grenze von 200 Millionen Euro übersteigen.

Mahnung an den Bundesverkehrsminister

Autor:

Marc Keiterling aus Essen

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