Aktion macht auf prekäre Lage in der Corona-Krise aufmerksam - Tontechniker Jens Schilling aus Bochum im Interview
"Kulturgesichter 0234" rückt Soloselbständige in den Fokus: "Corona ist oft der Todesstoß!"

Mit diesem Foto ist Jens Schilling Teil der Bochumer Initiative "Kulturgesichter 0234".  Foto: BECKDESIGN
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Mit der Aktion „Kulturgesichter 0234“ wollen Betroffene auf die prekäre Lage der Veranstaltungsbrache in der Corona-Pandemie aufmerksam machen. Zu denen, die unter dem Hashtag „ohneunsistsstill“ dem Schicksal in Bochum ein Gesicht geben, gehört Jens Schilling, der als Tontechniker und Veranstaltungsmeister unter anderem für das Zeltfestival Ruhr arbeitet. Im Interview spricht der 52-jährige Familienvater offen über die Situation der Branche und der Soloselbständigen – und spart Kritik nicht aus.

Hallo Herr Schilling, mit welchen Gedanken sind Sie als Soloselbständiger in der Corona-Pandemie in das neue Jahr gestartet?
Von den letzten neun Monaten hatte ich immerhin etwa drei Monate mit ausreichendem Umsatz – sechs Monate hat es aber auch mich relativ hart erwischt. Ich habe eine Zeit damit überbrückt, dass ich ein komplettes Bad renoviert habe und dadurch zum Glück nicht so viel Zeit hatte, abends mit grauen Wolken über dem Kopf im Bett zu liegen. Aber in den letzten zwei Monaten wurde es auch für mich hart: Perspektiven, die man sich im letzten Jahr etwas gutgläubig selbst gebaut hat, weichen langsam der Realität. Meine latent optimistische Sicht auf das neue Jahr musste ich etwas revidieren.

Setzt Ihnen der zweite Lockdown noch mehr zu?
Für mich kam der zweite Lockdown nicht unerwartet. Das war abzusehen. Und ich glaube nicht, dass uns dieses Thema bis März, April loslassen wird. Im vergangenen Jahr wurde die Situation auch erst mit dem Frühling besser.

Fragezeichen für Festivals

Verbinden sich damit beruflich entsprechende Hoffnungen für die Sommermonate?
Wie viele in dieser Branche bin ich nicht über einen Kamm zu scheren. Jeder hat seine individuellen Schwerpunkte, Kunden, Hoch- und Tiefphasen. Ich bin recht regelmäßig im Messebereich tätig und habe da einen Auftraggeber, für den ich die Veranstaltungsleitung übernehme und der ganzjährig spielt – auf den setze ich Hoffnungen. Messen und Firmenveranstaltungen wird es nach meiner Einschätzung eher wieder geben können als zum Beispiel Konzerte, da dort Hygienekonzepte besser umgesetzt werden können. Große Festivals wie Rock am Ring oder Juicy Beats würde ich aktuell eher mit einem Fragezeichen versehen. Da muss die Impfstrategie aufgehen und die Gäste müssen das natürlich auch als risikolos wahrnehmen. Die Branche will unbedingt, aber solche Veranstaltungen müssen auch sicher umgesetzt und gut verkauft sein, um wirtschaftlich zu funktionieren.

Als Veranstaltungsmeister - wie hier beim Zeltfestival Ruhr - ist Jens Schilling in normalen Zeiten ein gefragter Mann. Seit Corona das Leben auch in der Kultur- und Veranstaltungsbranche brach liegen lässt, leidet der Familienvater wie viele andere Soloselbständige zunehmend unter der prekären Lage. Foto: Walter Fischer / Funke Foto Services
  • Als Veranstaltungsmeister - wie hier beim Zeltfestival Ruhr - ist Jens Schilling in normalen Zeiten ein gefragter Mann. Seit Corona das Leben auch in der Kultur- und Veranstaltungsbranche brach liegen lässt, leidet der Familienvater wie viele andere Soloselbständige zunehmend unter der prekären Lage. Foto: Walter Fischer / Funke Foto Services
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Muss man sich Sorgen machen um die kulturelle Vielfalt in unserem Land?
Große Festivals würde ich im weiteren Sinne zur Unterhaltungskultur zählen. Ohne den Bands, die im Sommer unterwegs sind, etwas Böses zu wollen: Das Publikum vor der Bühne will nicht nur Kultur genießen, sondern auch einfach unterhalten werden, gemeinsam feiern. Außerdem sprechen wir hier von Unternehmen, die mit der Situation trotz katastrophaler Auswirkungen vielleicht doch etwas besser umgehen können als ein Einzelkämpfer. Es trifft dort aber auch die Bands, die hauptsächlich vom Touren leben und eine riesengroße Anzahl an mittelständischen Firmen und selbstständigen Dienstleistern im technischen Bereich. Ich würde das als Mischung aus Kultur- und Wirtschaftsinteressen sehen. Worum ich mir vor allem Sorgen mache, das ist die kleinere Kultur: Kulturschaffende, die am Rand des Existenzminimums leben. Selbstausbeuter, die Nischenkultur machen. Ensembles, die von der Hand in den Mund leben und nicht vom subventionierten Hochkulturbereich profitieren. Ich fürchte, dass da sehr vieles verloren gehen kann, weil es öffentlich gar nicht breit wahrgenommen wird. Ich glaube, dass das eine ganz wichtige, oft auch sehr regionale, Vielfalt voller bunter Seelen ist. Corona ist für Künstler in diesem Bereich oft der Todesstoß. Diesen Wert und die damit verbundenen Schicksale nimmt die große Politik kaum wahr.

"...denen geht's richtig beschissen"

Jetzt sprechen wir von den klassischen Soloselbständigen. Brauchen sie mehr Aufmerksamkeit?
Dazu gibt es ja jetzt glücklicherweise Initiativen, die zumindest für eine gewisse Aufmerksamkeit gesorgt haben, wie etwa die „Kulturgesichter“ oder auch „Alarmstufe Rot“. Bei den Kulturgesichtern kommen viele der Selbständigen aus dem Bereich der Unterhaltungsbranche und der Veranstaltungstechnik und sind direkt betroffen. Die meisten von uns haben echte Sorgen. Das sind wirtschaftliche Sorgen, die wir mit anderen Branchen wie der Gastronomie oder dem Tourismus teilen, denen geht's auch richtig beschissen.

Sehen Sie auch eine Chance für Soloselbständige aus dem erwähnten kulturellen Schattenbereich, sich in den Fokus zu rücken?
Ehrlich gesagt bin ich da eher pessimistisch. Bei „Alarmstufe Rot“ zum Beispiel sind die treibenden Kräfte eher bei Firmen und Verbänden aus der Veranstaltungswirtschaft zu finden. Die produzieren Kultur mit, erschaffen sie aber nicht unbedingt. Damit möchte ich die Initiativen auf keinen Fall klein reden, schließlich steckt dahinter ein ganzer Wirtschaftszweig und repräsentiert sehr viele Soloselbstständige wie auch mich. Ich glaube aber, dass der eigentliche, kleine Kulturproduzent auch hier eher unterrepräsentiert ist.

Wie schätzen Sie die finanziellen Hilfsmöglichkeiten für Soloselbständige ein?

Der erste Eindruck war, dass die Politik schnell, vielleicht auch zu schnell viel angekündigt und in Teilen auch umgesetzt hat, dann aber immer wieder nachbessern musste. Es gab eine große Unsicherheit bei Menschen wie mir. Im ersten Paket war bei der Soforthilfe immer von Betriebsausgaben die Rede, für die die Hilfen gedacht waren. Ich hätte aber wie etliche andere Soloselbständige gar keine nennenswerten Betriebsausgaben im eigentlichen Sinne gehabt. Menschen wie ich kamen in diesem ersten Hilfsangebot eigentlich nicht wirklich vor. Außerdem erschien mir das damals alles wackelig formuliert. Ich möchte auch nicht irgendwann einen Strafbefehl wegen Subventionsbetrug im Briefkasten haben. Ich persönlich habe es bisher mit Rücklagen und familiärer Unterstützung ohne staatliche Hilfen geschafft. Ich muss da für mich auch zwischen Not und Bedarf unterscheiden. Ich möchte aber hier nicht über andere urteilen. Wer in einer wirtschaftlich prekären Situation ist, wer Alleinverdiener ist, monatlich drückende Kosten, altersbedingt vielleicht noch keine Rücklagen und keine andere Unterstützung etwa durch die Familie hat, der hat ein riesiges Problem.

HartzIV als letzter Ausweg?

Für einige bleibt nur der Antrag auf Grundsicherung.
Ich kenne Betroffene, die jetzt Hartz IV beantragt haben. Dieser Schritt fällt sicher nicht leicht. Und ob man da wieder herauskommt? Ich weiß es nicht… Ich kann im Übrigen auch überhaupt nicht einschätzen, was aus unserer Branche wird, wenn alles hoffentlich mal wieder anläuft. Wie viele Firmen kommen wirklich wieder auf die Beine? Wie viele müssen vielleicht nach drei Monaten doch noch aufgeben? Was ändert sich? Da ist viel Ungewissheit.

Die wirtschaftlichen Aspekte sind das eine - aber auch soziale Kontakte bleiben bei vielen Soloselbständigen auf der Strecke?

Ich arbeite seit knapp 30 Jahren in diesem Bereich und habe jetzt schmerzlich festgestellt, wie groß der Anteil der beruflichen Kontakte unter meinen sozialen Kontakten ist. Ich freue mich auch jedes Jahr nicht hauptsächlich auf die großen Festivals wegen der Musik. Ich sehe dort in schöner Regelmäßigkeit eine wirklich große Gruppe an guten Freunden. Menschen, mit denen ich über die Jahrzehnte großartige Erlebnisse geteilt habe. Die fehlen mir total! Und ich weiß, dass es da ganz vielen Kollegen ähnlich geht.

Was macht das mit einem in Sachen Stimmung?

In den letzten Monaten habe ich durchaus nachts mal im Bett gelegen und gedacht, es könnte langsam mal Zeit sein, zum Arzt zu gehen und nach einem Stimmungsaufheller zu fragen. (lacht) Ganz im Ernst: Das geht mir langsam echt an die Nieren. Und das gilt auch für die Untätigkeit. Ich konnte mich beschäftigen, ich kann auch sehr gut eine Weile rumsitzen, aber irgendwann ist das vorbei. Wer in diesem Bereich tätig ist, muss eine gewisse Leidenschaft mitbringen für das, was wir machen. Irgendwann vermisst man einfach sein altes berufliches Leben. Was in meinem Fall eben auch bedeutet: Tolle Leute - und manchmal auch schlechtes Essen, laute Musik und lange Autofahrten.

Autor:

Dietmar Nolte aus Dortmund-West

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