"Du musst hier weg, nach Europa, egal in welches Land"

Durch halb Europa ist Jesidi* vor dem Terror im Nordirak geflüchtet. Die Bochumer Wohngruppe Kassiopeia der Ev. Stiftung Overdyck wurde sein Zuhause. Inzwischen ist er 18, darf in Deutschland bleiben – und hat doch weiter Angst.

Acht Monate warst du ohne deine Familie auf der Flucht. Wie oft hast du gezweifelt, ob du sicher ankommst?
In einer großen Stadt im Mittelmeerraum bin ich von meinen Freunden getrennt worden. Nachts habe ich auf der Straße geschlafen, ich verstand die Sprache nicht, hatte kein Geld. Manche Menschen haben gesehen, wie ich aussah und haben mir etwas zugesteckt. Dauernd kam die Polizei und hat mich kontrolliert. Ein freundlicher Polizist brachte mich schließlich ins Krankenhaus, da war es warm und sicher. Aber nach ein paar Tagen musste ich es wieder verlassen. Ich spreche etwas Arabisch und habe einen Ägypter angebettelt, damit ich meine Eltern anrufen kann. Zwei Stunden habe ich unter Tränen auf ihn eingeredet, dann hat er mir für drei Minuten sein Telefon gegeben. Schließlich hat der Mann mir auch geholfen, andere Jesiden zu finden.

Wann hast du gespürt, dass es für Jesiden im Nordirak gefährlich wird?
Ich war ja noch klein, aber 2007 haben radikale Moslems in der Nähe unseres Dorfes zwei Lkw in die Luft gesprengt. Da begann die Angst. Als dann 2011 jesidische Geschäfte angezündet wurden, war klar: Bald stehen Terroristen auch vor unserer Tür.

Dann haben deine Eltern dich weggeschickt.
Mein Vater hat gesagt: Du musst hier weg, nach Europa, egal in welches Land. Ich wusste nichts, kannte nichts und habe nur geweint. Aber er meinte, ich dürfte im Irak nicht mehr leben. Jedes Auto auf der Straße ist eine Gefahr, überall kann eine Bombe stecken. Wir bleiben, wir sind alt. Aber du musst gehen. Das hat er gesagt. Er hat jemandem Geld gegeben, viel Geld, damit er mich über die Grenze in die Türkei bringt. Ich habe das alles nicht verstanden, aber schließlich habe ich mein Dorf verlassen.

Was waren deine ersten Eindrücke von Deutschland?
Ein Auto hat uns über die Grenze gebracht, und als wir in Garmisch-Patenkirchen ausstiegen, haben uns direkt Polizisten erwischt. Die wussten nicht, wer wir waren und wo wir herkamen. Deshalb bin ich drei Tage im Kinderknast gelandet. Aber sie haben mich gut behandelt, haben mir Essen gegeben und einen Arzt geholt. Der sagte: Du bist richtig krank. Ich hatte etwas an der Lunge, kam für zwei Monate nach München ins Krankenhaus und musste jeden Tag 13 Medikamente nehmen. Dann endlich konnte ich gesund nach Dortmund fahren, wo mein Bruder lebt.

Welche Vorstellungen hattest du vom Leben hier?
Ich wusste nur, dass es eine Demokratie ist und man dort gut mit Menschen umgeht. Als ich in Dortmund angekommen war, habe ich mich auf dem Amt gemeldet und wurde gleich nach Kassiopeia vermittelt. Erst hatte ich Schwierigkeiten, konnte kein Deutsch, habe die Kultur nicht verstanden. Deshalb saß ich oft alleine in meinem Zimmer. Aber dann bin ich zur Schule gegangen, habe gesehen, wie Bochum ist, habe Freunde und Freundinnen kennengelernt. Inzwischen steht fest, dass ich in Deutschland bleiben darf.

In der Wohngruppe Kassiopeia leben junge Menschen, die schlimme Dinge erlebt haben und davor geflohen sind. Hat das beim Austausch geholfen?
Erst hatten wir untereinander etwas Stress, viele sind traumatisiert, auch ich habe anfangs jede Nacht geweint. Auch die Afrikaner hier haben Krieg erlebt. Wir haben uns dann alle besser kennengelernt, unterhalten uns, gehen gemeinsam raus. Ob Schwarz oder Weiß ist egal.

Im Nordirak wütet die Terrormiliz IS. Weißt du, wie es Familie und Freunden zuhause geht?
Ich war schon in Deutschland, als ich im Fernsehen sah, wie IS die Jesiden attackierte. Ich habe einen Freund im Irak angerufen. Er wollte mich beruhigen, aber ich habe gleich gemerkt, dass er mich anlügt, damit ich mir keine Sorgen mache. Ich habe drei Tage nicht geschlafen, dauernd telefoniert und habe mich so hilflos gefühlt. Ich bin zu Demonstrationen von Jesiden im Ruhrgebiet gegangen, während sich Freunde im Irak Waffen besorgten, um sich der Verteidigung anzuschließen. Im Nordirak werden Jesiden abgeschlachtet und vergewaltigt. Warum, was haben wir getan? Wir sind friedliche Leute! Unser Dorf ist fast menschenleer, aber zwei meiner Schwestern leben noch dort. Sie haben sich Gift besorgt, wenn IS kommt, wollen sie das nehmen, um den Terroristen nicht in die Hände zu fallen. So planen das alle. Meine Eltern sind an einem geheimen Ort in Sicherheit. Ich hoffe, sie können auch bald nach Deutschland kommen.

Tut Europa genug?
Die Länder liefern Waffen und organisieren Hilfstransporte. Das ist gut. Aber jetzt ist der Winter gekommen, die Menschen brauchen noch mehr Hilfe.
Deutschland diskutiert darüber, wie viele Flüchtlinge aufgenommen werden können.
Deutschland sollte die aufnehmen, die aus politischen oder religiösen Gründen fliehen müssen. Nicht die, die das Land nicht respektieren und sich nicht anpassen wollen.

Du bist 18 geworden und musst aus Kassiopeia ausziehen. Wie geht es für dich weiter?
Ich ziehe in die Nähe von Frankfurt, wo eine meine Schwestern wohnt. Dort werde ich arbeiten gehen. Schule ist nicht so mein Ding. In den Irak zurück möchte ich nicht mehr. Mein Wunsch ist es, hier in Frieden und mit Demokratie zu leben, ohne Töten, ohne Blut. Unsere Kinder sollen hier aufwachsen. Ohne Angst.

*Name geändert

Autor:

Felix Ehlert aus Bochum

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