Der letzte Funke Hoffnung ist erloschen - Rückeroberung der "IS-Gebiete"

Jilan Abdal (links) spricht mit Evileen Jalo Taha in ihrer Wohnung in Süddeutschland. | Foto: Abdal
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  • Jilan Abdal (links) spricht mit Evileen Jalo Taha in ihrer Wohnung in Süddeutschland.
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Die Lage im Nordirak hat sich seit Mai 2015, als der Stadtspiegel erstmals über die Bochumer Architektin und Aktivistin Jilan Abdal berichtete, etwas verbessert. Die Peschmerga konnten weite Teile der vom „Islamischen Staat“ (IS) besetzten Gebiete wieder befreien. Dabei handelt es sich um Teile des im August 2014 er-oberten Gebiets Shingal.

Allerdings ist nicht alles daran positiv: Denn mit der Rückkehr in die Heimatstädte hält auch die Gewissheit über den Verlust der Angehörigen Einzug.
„Als ich nach der Arbeit auf mein Telefon schaute, hatte Evileen Jalo Taha mehrmals angerufen, obwohl sie weiß, dass ich den ganzen Tag arbeite. Ich wusste sofort, nun war etwas Schlimmes geschehen!“ Jilan Abdal rief sofort zurück, konnte die Stimme am anderen Ende aber kaum verstehen. Aus den durch Schluchzen und Wehklagen unterbrochenen Sätzen mutmaßte sie, dass für Evileen Jalo Taha das zur endgültigen Wahrheit wurde, das sie sich bisher nur widerwillig anzunehmen zwang. Nun war der letzte Funke Hoffnung erloschen, denn man hatte ihre Mutter, Schwiegermutter und Schwägerin in einen Massengrab entdeckt und identifiziert. Von ihren sieben Brüdern, dem Vater und den vier Neffen fehlt noch jede Spur.

Evileen Jalo Taha ist 23 Jahre alt. Seit nun sieben Monaten lebt sie mit ihrer Schwester und weiteren Frauen in einem Wohnheim in Baden-Württemberg. Die Frauen sind schwer traumatisiert aus dem Irak ausgeflogen worden. Sie haben nicht nur größtenteils ihre komplette Verwandtschaft durch Massaker des IS verloren, sondern sind zudem als Sklavinnen verschleppt worden und wurden dann systematisch sexuell, psychisch und physisch missbraucht. Einige der Frauen, denen nun von der baden-württembergischen Regierung geholfen wird, kennt die Bochumer Architektin noch von ihrer Reise in den Irak. Sie war im Frühjahr 2015 in der Region Shingal, um ihre Verwandten wiederzusehen und um in den Flüchtlingslagern humanitäre Hilfe zu leisten.

Während dieser Reise lernte sie auch Evileen Jalo Taha kennen. Sie war am 3. August 2014, als der IS den gezielten Völkermord im Dorf Koço inŞShingal verübte. „Das gesamte Dorf wurde eingekesselt und es wurde uns ein Ultimatum gestellt. Wer nicht innerhalb von drei Tagen konvertiert, der wird sterben, sagten sie uns“, erzählt Jalo Taha. „Eine Flucht aus Koço war nicht möglich. Das Dorf war von anderen, größtenteils arabischen, Dörfern umgeben, deren Einwohner sich dem IS anschlossen.“ Dies berichtete Evileen. Sie hatte einige der Gesichter wiedererkannt“, sagt Jilan Abdal.

Nach Ablauf des Ultimatums trieben die Terroristen die Männer und Frauen auseinander, denn sie hatten sich nicht bereit erklärt, ihren jesidischen Glauben aufzugeben. Vielmehr schrien sie „Hol Hola Tawisî-Melek“(Heil sei Tawisî-Melek). Die Frauen wurden dann in die oberen Räume einer Schule geführt. Sie hörten von unten Schüsse. Etwa 7.000 Männer befanden sich dort. Darunter Evileen Jalo Tahas Vater, sieben Brüder und vier Neffen. Jalo Taha hofft noch immer, dass sie nicht direkt erschossen wurden, sondern sich noch in Gefangenschaft befinden – wie es bei ihr selbst einst der Fall war. Aber die Wahrscheinlichkeit ist nach dem Fund der Massengräber eher gering.

Der IS verschleppte alle Frauen und Mädchen nach Mosul. Von dort wurde Evileen Jalo Taha mit weiteren neunundfünfzig Frauen nach Al-Raqqa in Syrien gebracht. Auf dem Sklavenmarkt des IS in Syrien wurden sie und sechs weitere Jesidinnen von einem Libanesen gekauft, der in Australien aufwuchs und nun mit seiner Frau in Syrien lebt. „Dabei hatte ich noch Glück, denn ich musste in dem Haus der Frau dienen, also kochen und putzen. Ich hatte eine bessere Stellung als die anderen Frauen, die viel schlimmere Aufgaben hatten“, schildert sie.
Zweieinhalb Monate war sie so gefangen. Zur Flucht verhalf Jalo Taha letztlich die Ehefrau des Peinigers, indem sie ihr ein Handy mit Fotos der Außenansicht des Hauses gab (siehe Foto), in dem sie gefangen gehalten wurde. So konnte sie ihren verbliebenen Bruder kontaktieren und ihm die Bilder schicken. Der Bruder beauftragte dann Schleuser damit, sie dort herauszuholen. Es gelang beim ersten Versuch, alle sieben Frauen zu retten.

Obwohl die Freiheit und die gelungene Flucht ein großes Glück darstellen, kann man in diesem Fall nicht von einem Happy End sprechen. Die jungen Frauen tragen tiefe psychische Narben, die dringend behandelt werden müssen. Circa 1.100 solcher schwer traumatisierter Jesidinnen mit ihren Angehörigen, die auch allesamt traumatisiert sind, werden bis Ende Januar deutschlandweit, unter anderem in Baden-Württemberg und Niedersachsen, Zuflucht in Wohnheimen mit psychologischer Betreuung finden. Damit ist das Programm, welches in Baden-Württemberg initiiert wurde, vorerst abgeschlossen. „Ich bin dem Land Baden-Württemberg sehr dankbar und wünsche mir, dass auch weitere Bundesländer diesem Beispiel folgen und ebenfalls Projekte dieser Art auf den Weg bringen. Schließlich befinden sich noch über 1.000 Frauen im Krisengebiet, die ein ähnliches Schicksal wie Evileen erleiden mussten“, äußert Jilan Abdal. „Die Frauen sind ganz allein in unserem Land. Es geht ihnen psychisch sehr schlecht. Als Evileen sich bei mir meldete und stetig von ihrem Trauma berichtete, beschloss ich, mich mit ihr zu treffen und ihr zu helfen. Seitdem versuche ich, möglichst viel freie Zeit mit den Frauen in Süddeutschland zu verbringen“, sagt die Bochumer Architektin. Sie spricht mit ihnen, übersetzt ins Kurdische, beantwortet Fragen und versucht, den Frauen einen Zugang zum alltäglichen Leben zu schaffen. „Ich versuche, ihnen eine Lebensperspektive aufzuzeigen“, erklärt sie.

Einfach ist ihr Vorhaben nicht. Denn immer wieder werfen die Ereignisse in dem Kriegsgebiet ihren langen Schatten bis nach Europa. So freute sich Jilan Abdal zunächst über die Rückeroberung und Befreiung von Shingal durch die jesidischen Widerstandskämpfer und Peschmerga. Zeitgleich brach aber für Evileen Jalo Taha eine Welt zusammen, da sie nun vom Tod ihrer nächsten Verwandten erfuhr, wodurch der letzte Funke Hoffnung erlosch. „Evileen sagte zu mir, sie sei nun fertig mit der Welt. Auch ich dachte, nicht mal die kleine Freude über die Befreiung bleibt einem, sondern wieder sind es nur Trauer und Schrecken, die überdauern“, sagt Jilan Abdal.

Jilan Abdal (links) spricht mit Evileen Jalo Taha in ihrer Wohnung in Süddeutschland. | Foto: Abdal
Das Haus in Al-Raqqa, in dem Evileen Jalo Taha gefangen gehalten wurde. | Foto: privat
Autor:

Harald Gerhäußer aus Bochum

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