Bochum und Wattenscheid – Warum veröden die Stadtviertel?

Einkaufsstraße im Stadtviertel Monteverde (Via E. Jenner) in Rom kurz nach Ende der Mittagsruhe, Geschäfte aller Art und Weihnachtsdekoration.
  • Einkaufsstraße im Stadtviertel Monteverde (Via E. Jenner) in Rom kurz nach Ende der Mittagsruhe, Geschäfte aller Art und Weihnachtsdekoration.
  • hochgeladen von Dr. Volker Steude

Werne, Leithe, Hamme, Gerthe, Wattenscheid, und viele weitere Stadtviertel veröden. Immer mehr Billig-Shops, Spielhallen und leere Geschäfte prägen das Bild. Auf vielen Stadteilmärkten gibt es kaum noch eine handvoll Stände. Die Menschen kaufen nicht mehr in ihrem Stadtviertel ein, sondern fahren mit dem Auto in die Einkaufzentren Hannibal, Ruhrpark oder andere, die nur mit dem PKW aber kaum zu Fuß oder dem Rad erreichbar sind. In denen man nur kaufen kann, wo aber niemand wohnt.

Ganz anders z.B. in Italien. Jedes gewachsene Stadtviertel hat seinen großzügigen fast täglichen (außer Sonntag) Markt und seine eigene Einkaufsstraße. Dort sind viele kleine Geschäfte, Mode, Haushaltswaren, Bäcker, Metzger, Konditor, alles andere vorhanden und es gibt kaum Leerstände. Wie lässt sich dieser Gegensatz erklären?

In Italien sind die Menschen genauso autovernarrt wie bei uns im Ruhrgebiet. Die Einkaufsstraße im Viertel ist von den Anwohnern zugeparkt, überall herrscht Verkehrschaos. Die Bürgersteige sind kaum 3m breit, auf der Straße steht der Verkehr mal wieder im Stau. Trotzdem sind die Geschäfte belebt. Überall schleppen Menschen Tüten aus den Geschäften. An einer besonders ruhigen Shoppingatmosphäre kann es also nicht liegen, dass die Menschen in ihrem Viertel kaufen.

Wie immer gibt es nicht einen einzigen Grund für den Unterschied in der Entwicklung der Stadtviertel in deutschen und italienischen Großstädten, sondern sind diese vielfältig.

Bei uns wird immer wieder angeführt, der Einkauf in den Einkaufszentren wäre billiger als der in den Einzelhandelsgeschäften. Dieses Argument scheint bei den Italiener ohne jede Relevanz und das obwohl etwa ein Römer durchschnittlich nur 60% des Einkommens erzielt, was ein Berliner verdient. Italiener müssten also eigentlich viel mehr an billigen Einkäufen interessiert sein als wir.

Was bewegt die Italiener im Stadtviertel einzukaufen und nicht im Einkaufszentrum außerhalb des Wohngebietes? Es gibt schlicht kaum Geschäftszentren, die nicht in Wohnvierteln liegen. Nicht in Wohnviertel integrierte Einkaufszentren werden nicht angenommen.

Aufgrund des ständigen Verkehrschaos insbesondere in den italienischen Großstädten, dauert es viel zu lange ein auch nur ein paar Kilometer entfernt liegendes Einkaufszentrum anzusteuern. Auch Bus und Bahn sind keine Alternative, die ÖPNV-Netze sind in den meisten Städten noch unterentwickelter als bei uns im Ruhrgebiet.

Aufgrund des Leitbildes der autogerechten Stadt hat man in Bochum und Wattenscheid hingegen den Einkauf mit dem Auto abseits des eigenen Stadtviertels gezielt gefördert. Schnell und bequem lassen sich im Ruhrgebiet die verschiedensten autogerechten Einkaufszentren mit dem eigenen PKW erreichen. Insbesondere diese Tatsache ließ immer weitere solcher Zentren aus dem Boden wachsen, die immer mehr Konkurrenz für die Geschäfte in den Stadtviertel bedeuteten.

Auch können die Geschäfte in den Einkaufsstraßen der Stadtviertel in italienischen Großstädten in der Regel wesentlich wirtschaftlicher arbeiten als bei uns. Die meisten Geschäftsinhaber sind gleichzeitig Eigentümer ihres Ladenlokales. Eine Miete entfällt und muss nicht verdient werden. Wie bei den Wohnungen (80% der Römer z.B. wohnen in den eigenen 4 Wänden) werden nur die wenigsten Geschäfte in vermieteten Lokalen betrieben. Entsprechend kann der italienische Einzelhändler seine Preise günstiger kalkulieren und viel eher von seinem Geschäft leben.

Auch die liberalen Öffnungszeiten haben seit jeher den selbständigen Einzelhandel in Italien begünstigt. Wirkliche Ladenschlusszeiten gab es in Italien nie. Eine Öffnung der Geschäfte an jedem Tag der Woche zwischen 5 und 21 Uhr erlaubt. Die meisten Geschäfte waren also schon immer bis 20:00 Uhr geöffnet. Die meisten auch am Samstag, nicht wenige auch sonntags (dafür montags dann zu).

Die bei uns bis in die 90er gültigen restriktiven Öffnungszeiten (bis 1996 wochentags bis 18:30 Uhr, außer Donnerstag (ab 1989), Sa bis 14 Uhr) waren auf Alleinverdiener-Familien ausgerichtet, bei denen die Frau den ganzen Tag Zeit hatte die Einkäufe zu erledigen. Die zunehmende Zahl der Haushalte mit Doppelverdienern oder Alleinstehenden mussten in Deutschland aufgrund des frühen Ladenschlusses zwangsweise ihre Einkäufe am Samstag erledigen oder nach Arbeitsende am Ende des Wochentages. Aufgrund des geringen Zeitfensters wurde somit ein Einkauf in einem Einkaufszentrum außerhalb des eigenen Viertels zu einer bestechenden Alternative. Kurz in den riesigen Supermarkt, alles zusammengerafft, ins Auto gepackt und fertig. Zeit, mehrere Geschäfte anzusteuern und auf dem Markt die gewünschten Waren auszusuchen, war nach der Arbeit kaum vorhanden oder sollte lieber für andere Tätigkeiten als Einkaufen genutzt werden. Unter diesen Bedingungen wurde das Einkaufen außerhalb der Stadtviertel in Einkaufszentren für viele äußerst attraktiv. Der Niedergang der Geschäfte in den Stadtvierteln war die logische Folge.

Mit dem Einkauf in wohnortentfernten Zentren mussten aber nicht nur immer mehr Geschäfte in den Stadtvierteln die Segel streichen, sondern auch das Verhältnis der Bewohner zu ihrem Viertel ging immer weiter verloren. Während in Italienern viele Bewohner noch immer eine ganz besondere Beziehung zu den Läden und Marktständen pflegen, bei denen sie einkaufen, gibt es vergleichbares bei uns kaum noch. Viele Italiener würden nie bei anderen Geschäften einkaufen, wenn sie zu einem Geschäftsinhaber ihres Vertrauens im Viertel ein persönliches Verhältnis aufgebaut haben. Aufbauend auf diesem Vertrauensverhältnis können die meisten Geschäfte in den Stadtvierteln auch heute noch gut existieren.

Selbstverständlich befindet sich in jedem Stadtviertel ein Markt (in der Regel mit Markthalle) direkt an der Einkaufsstraße, nicht meilenweit von den Läden entfernt, wie in Werne oder hinterm Hauptbahnhof, wie lange Zeit in Bochum. Wochenmärkte für Lebensmittel sind Mo.-Sa. von 6 Uhr bis Mittag geöffnet, einige auch bis 18/19 Uhr.

Nicht verschwiegen werden darf ein weiterer Faktor, in Italien war in fast allen Jahrzehnten nach 1945 die Bedrohung durch Arbeitslosigkeit deutlich höher als bei uns, weshalb die Übernahme des Familiengeschäftes durch die Kinder der Inhaber deutlich attraktiver war als bei uns. Geschäftsinhaber im Einzelhandel arbeiten selbst und ständig mit einem erheblichen unternehmerischen Risiko, bei Verdienstmöglichkeiten, die bei uns häufig unter denen von angestellt Beschäftigten mit festen Arbeitszeiten lagen. Entsprechend zogen die Kinder der Übernahme des Einzelhandelsgeschäftes nicht selten eine angestellte Beschäftigung vor. Entsprechend wurden bei uns auch viele Einzelhandelsgeschäfte aufgrund mangelnder Nachfolger für immer geschlossen.

Der Vergleich zwischen den Stadtvierteln in italienischen Großstädten und bei uns zeigt, dass die Gründe für den Niedergang bei uns vielfältig waren und sich der Aufbau von funktionierenden Stadteilstrukturen nicht so leicht wieder herstellen lassen wird. Wir Ruhrgebietsmenschen sind mittlerweile an die Fahrt ins Einkaufszentrum gewöhnt und werden nicht ohne weiteres zu einem Einkauf in unserem Viertel zurückkehren. Nur in wenigen Stadtvierteln wie in Linden haben attraktive Strukturen überlebt. In vielen Vierteln sind kaum noch Strukturen vorhanden, auf denen man aufbauen könnte.

Eines zeigt der Vergleich mit italienischen Großstädten besonders deutlich. Eine Belebung der Stadtteilzentren wird nur erfolgreich sein, wenn diese ein umfangreiches Angebot bereithalten, attraktiv gestaltet sind und dort neue Geschäfte entstehen, zu denen die Bewohner ein Vertrauensverhältnis entwickeln. Die Identifizierung der Menschen mit ihrem Viertel ist die entscheidende Voraussetzung für das Gelingen der Weiterentwicklung der Viertel. Dies wird nur gelingen, wenn die Bürger aus den Vierteln über die Reaktivierung ihrer Stadteilzentren mitbestimmen und diese aktiv begleiten können.

In einem ersten Schritt muss also die Bevölkerung für eine Teilnahme an dem Reaktivierungsprozess gewonnen werden. Sind die Bewohner der Viertel nicht an der Reaktivierung interessiert, werden sie diese nicht annehmen und die Entwicklung wird zwangsläufig scheitern.

Ein erster Schritt bei der Reaktivierung eines Stadtviertels wurde jetzt am Springerplatz gemacht. Der Platz wurde umgestaltet und attraktiver. Jetzt wird versucht einen Abendmarkt zu etablieren. Ob das schon ausreicht oder weitere Bemühungen erforderlich sind, da kann man durchaus skeptisch sein. Das wird sich erst noch zeigen. Auch gab es bei der Planung und Umgestaltung eine Bürgerbeteiligung mit einem Beirat. Dazu bemerkte Bezirksbürgermeister Dieter Heldt (SPD), “Es hat doch nicht weh getan, die Bürger zu beteiligen“ (WAZ vom 20.12.13).

Diese Art des Stadtumbaus geht in die richtige Richtung, auch wenn die Aktivitäten bezogen auf die ganz Bochum und Wattenscheid noch sehr überschaubar sind und die Bemühungen auch im Griesenbruch, Goldhamme und Stahlhausen wohl noch deutlich verstärkt werden müssen, damit am Ende die Verödung der Stadtviertel dauerhaft aufgehalten bzw. eine Umkehr des bisherigen Niedergangs erreicht werden kann.

Volker Steude,
BoWäH - Bochum und Wattenscheid ändern mit Herz
(ruhrblogxpublik)

Autor:

Dr. Volker Steude aus Bochum

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