Netzwerke
~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~
„Uuuui!“
war das erste, was ich an dem Morgen vor zwei Tagen sagte, als ich um die Ecke des Balkons bog und mich Aug‘ in Aug‘ mit einer Kreuzspinne sah.
Das ausgesprochen imposante Tier hatte sein nahezu unsichtbares Kunstwerk unmittelbar rechts der Balkontür passgenau in Kopfhöhe schräg zum Fenster aufgespannt und zwischen meiner Topfrose und der Dachrinne verankert.
Weiß der Teufel, wie das flugunfähige Spinnentier dort hinaufgekommen war.
Na gut, von jetzt an hieß es aufpassen, wenn ich nicht gefrühstückt werden wollte.
Wegen der Vielfalt der Gedanken im Innern meines Kopfes war ich allerdings nicht gut genug im Aufpassen. Ich merkte es daran, dass das Exemplar an die Arbeit ging und flickte, was das Zeug hielt. In Anschluss blieb es drohend in der Mitte seines Netzes hängen und schaukelte, damit ich ja Bescheid wusste.
Gestern Mittag schien die Sonne; und die Sonne und ein Netbook vertragen sich nicht wirklich gut, wenn daneben auch noch Brot und Wurst und Butter liegen, weil die Mittagszeit Kopf und Bauch zur Ordnung ruft. Die Markise!
Die Markise ist das zweite imposante Exemplar, das unseren Balkon bewohnt und ein Netz von Schatten über unsere Köpfe spannt, wenn es zu heiß wird. Sie hat nur einen Nachteil. Sie braucht Platz und einen freien Luftraum. Wenn ich sie aufspannen will, spannt sie das Netzt der Spinne ab, weil sie an der Dachrinne vorbei muss. Und die Dachrinne ist aktuell der auserkoren wichtigste Ankerplatz der Netzverspannung meines neuen Haustieres.
Weil ich zerlaufene Butter auf dem Brot nicht leiden mag, da sie die Wurst ins Rutschen bringt, begann ich die Haltbarkeit der Fäden auszutesten, für die sich auch die Industrie interessiert. Ich fuhr sachte die Markise aus und – peng! Dem Netzwerk ging die Luft aus. Offenbar Materialimport aus China und keine deutsche Ware. Meine Kreuzspinne ging an die Arbeit.
Was gestern Abend noch war, außer diesem Weltuntergang aus Gewitter und 45 mm Dauerregen weiß ich nicht. Ich schlief irgendwann. Mein Prachtexemplar auf dem Balkon aber war über Nacht nicht untätig geblieben. Ich sah es heute Morgen, als ich um die Ecke des Balkons bog und nichts passierte. Das Tier hatte aus dem zweifachen Fehlversuch gelernt und sein Netz wieder aufgespannt.
Verankert zwischen Rollladenführung und Fensterbank hing das nagelneue, nahezu unsichtbare Kunstwerk nun exakt ausgerichtet parallel zum Wohnzimmerfenster.
Nein, das hier war nicht Import aus China. Diese Ingenieurkunst war made in Germany. Eindeutig!
Ob allerdings auch jemand darin hängenbleibt? Ich weiß ja nicht. So interessant ist das Innere unseres Wohnzimmers dann eigentlich ja doch nicht.
© Sabine Schemmann, Freie Erzählungen, September 2014
Autor:Sabine Schemmann aus Bochum |
1 Kommentar
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.