Lokalkompass-Erzählungen
Das Vorhaben
Er war schon viele Male hier gewesen, um sich vorzustellen, wie es sein würde, wenn der Moment gekommen war; wenn er sich entschieden haben würde, das Geplante zu vollenden.
Er ließ den Blick schweifen. Das hier war ein guter Ort; einer, um Entschlüsse reifen zu lassen; und einer, von dem er jedes Mal ein ganzes Stück entschiedener zurückkehrte, um tags darauf einen neuen Anlauf zu nehmen. Und dann noch einen, und noch einen, bis er sich seiner Sache sicher war.
Auch heute war er wieder hergekommen. Von der Außenterrasse des Bahnhofscafés hatte man einen umfassenden Blick über das Geschehen auf dem weitläufigen Vorplatz. Gerade eben entlud wieder einer der zahlreichen Linienbusse einen neuen Schwall Menschen, der sich über die gepflasterten Flächen ergoss. Einige von ihnen strömten den Taxen entgegen, die mit laufenden Motoren auf Fahrgäste warteten, andere verschwanden in der gläsernen Dunkelheit des Gebäudes. Viele der Reisenden plagten sich mit Koffern, Taschen und Rucksäcken ab und brachen unter der Last des eingepackten Lebens fast zusammen, andere hingegen trugen kein Gepäck mit sich. So viele Menschen... So viel geballtes Leben... So viele Schicksale... So viele Rädchen im Getriebe...
Die Vielzahl der Eindrücke, die sich hier stets aufs Neue aufdrängten und um seine Aufmerksamkeit stritten, vermischte sich mit seinen Plänen zu einem verlockenden Konstrukt.
Er verließ das Café, stieg die Treppen hinunter und überquerte raschen Schrittes den quirligen Vorplatz, um sich entschlossen unter sie zu mischen und unauffällig mit ihnen zu schwimmen. Mit kräftigen Zügen zerteilte er den wabernden Brei hupender Autos, quengelnder Kinder, schimpfender Mütter, lachender Jugendlicher, aufdringlicher Kaffeedüfte und quäkender Lautsprecherdurchsagen.
Es war soweit. Das war er, der Moment, in dem sich alles ändern würde; in dem er selbst an der Schraube des Geschehens drehen und sich die Zukunft in seine Hände legen würde. Jetzt hieß es Abschied nehmen. Von sich selbst. Von diesem Leben und dem Zuviel des Lebens; von dem, was ihn so lange schon verwirrte. Irgendwann musste man das tun.
Als ihn die Trillerpfeife des Schaffners von Gleis 9 zur Besinnung brachte, sah er ein letztes Mal zurück. Dann blickte er nach vorn, streifte mit Entschiedenheit seine Hülle ab und stieg ein, um den Tiefen seines Selbst entgegen zu fahren. Er war gespannt, was er dort finden würde.
* * * * *
© Sabine Schemmann, Freie Erzählungen April 2019, entstanden im Rahmen der Teilnahme an einer Kreativen Schreibwerkstatt
Autor:Sabine Schemmann aus Bochum |
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