Auch das noch...
Über die Dinge am Rand

Ist Ihnen auch schon aufgefallen, dass sich das Leben immer mehr am Rand abspielt? Am Rand des Universums werden die Fragen der Menschheit beantwortet werden, heißt es. Oder auch: Am Rand der Gesellschaft soll’s bunt und aufregend sein. Wir alle müssten uns mal Gedanken über bedrohte Paradiese am Rand der Welt machen oder über Staaten, die am Rand der Pleite stehen oder über Menschen, die sich am Rand der Legalität bewegen.

Meistens komme ich aber gar nicht so richtig zum Nachdenken, da mich zahlreiche Randnotizen über etliche weitere Randerscheinungen auf Trab halten und weil all diese Dinge am Rand überwiegend unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Dazu gehört auch dieses Phänomen, was wir aus den täglichen 20-Uhr-Nachrichten kennen: Am Rand der Gespräche konnte keine Einigung erzielt werden.

In dem Zusammenhang fällt mir meine sehr frühe Kinderzeit ein, als wir zur Stadtranderholung entsandt wurden. Die schlechte Luft und der Lärm im Ruhrgebiet Mitte der Sechziger Jahre galten als nicht gesund für unsere Entwicklung, deshalb wurden wir in Busse verfrachtet, die uns ein paar Kilometer von der Wohnung entfernt in ein Idyll mit plätscherndem Flüsschen, üppiger Vegetation und malerischen Bauernhöfen abseits der Zechen, Stahl- und Chemiewerke brachten.

Der Erholungseffekt allerdings tendierte gegen Null, denn im Kohlenpott, in dem ich aufwuchs, war es zu jener Zeit schlecht möglich, saubere Luft am Rand der Stadt inhalieren zu können, da sich an der Grenze bereits die nächste Stadt mit Zechen, Stahl- und Chemiewerken anschloss. Und wenn man Pech hatte, dann waren die Industrieanlagen dort noch größer und lauter als in der eigenen Stadt. Die grünen Grenzgebiete, von Schafen, Pferden und Kühen bevölkert, die dort weideten, dienten somit für ein allgemeines gutes Gefühl, allerdings nicht zur Reinigung der Bronchien. Da ging es einem mitten in der Stadt gesundheitlich viel besser.

Innovationen naturwissenschaftlich-technischer Natur finden zuweilen ebenfalls am Rand statt. Das kennt man aus Berichten, die sich beispielsweise mit Ausstellungsmessen befassen. Eine Zigarettenpapierfabrikationsfirma hat vor einiger Zeit „Cut Corners“-Blättchen auf den Markt gebracht. Es handelt sich dabei um Blättchen, deren Ecken am rechten und am linken Rand um wenige Millimeter abgeschnitten wurden.

Früher verfuhr man so auch mit den Hüllen von Schallplatten, die aus dem aktuellen Preis-Katalog herausgenommen und dann verbilligt veräußert wurden. Die in der Regel nur einseitig beschnittenen Exemplare nannte man „Cut Out Records“. Von Vinyl-Liebhabern wurden sie nicht gekauft, denn sie verurteilten diesen Akt der Cover-Beschneidung als barbarisch, da der ideele und monetäre Wert einer solchen Schallplatte durch diese Prozedur enorm geschmälert wurde. Nun, bei den „Cut Corners“-Blättchen sei es so, dass jetzt eindeutig zu erkennen sei, auf welcher Seite die Klebefläche liege. Das sei früher so nicht gewesen, denn da habe die Klebefläche auf der falschen Seite gelegen, informiert das Unternehmen.

Viele Schallplattenbesitzer, die überdurchnittlich oft selbstdrehende Takabraucher sind, ich gehöre dazu, haben diese offensichtlich bahnbrechende Neuerung, die sich da stillschweigend am Rand einer Stadt im Bergischen Land vollzogen hat, gar nicht bemerkt und sind nun verwundert, weil sich doch nichts verändert hat. Das Blättchen hat man jahrzehntelang und bis auf den heutigen Tag stets tadellos um den Tabak herum ordentlich drehen und kleben können. Und die Selbstgedrehte, genussvoll konsumiert, brennt auch nach wie vor in etwa so lang, wie zum Beispiel das feurige Eröffnungsstück Gitano dauert, das sich auf der zweiten Seite der wunderbaren LP „Amigos“ aus dem Jahr 1976 findet, nämlich rund sieben Minuten.

Ich bin grundsätzlich dafür, alle Ereignisse und Katastrophen und Erfindungen und Nervenzusammenbrüche und sonstige Vorfälle, die da stets und ständig am Rand geschehen, einfach mal wieder in ihrer Gesamtheit in die Mitte zu rücken. Denn genau da gehören die Dinge hin, genau da hat man sie im Blick, um sie beurteilen und mit einer Meinung versehen zu können. Die temperamentvolle Musik höre und erlebe ich bei meiner gerade erwähnten Schallplatte von Santana auch nur in der Mitte zwischen der Einlauf- und Auslaufrille, keineswegs am Rand oder darüber hinaus. Das wäre auch Quatsch, denn dann bliebe es mucksmäuschenstill im Raum, weil die Nadel entweder sinnlos im Freien schwingen oder aber am Plattenrand schaben, komische Geräusche von sich geben und irgendwann kaputt gehen würde.

Das weiß ich einfach. Und dazu muss ich nicht über den Tellerrand schauen.

Autor:

Ulli Engelbrecht aus Bochum

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