RT 2018: Die Neue an der Spitze der Ruhrtriennale
Stefanie Carp holt mehr als 920 Künstler aus 30 Ländern ins Revier, viele nach Bochum
Seit dem 1. November arbeitet Stefanie Carp an ihrer ersten Ruhrtriennale-Spielzeit im RT-Stammsitz an der Jahrhunderthalle. Sie ist die erste Frau an der künstlerischen Spitze des stets auf drei Spielzeiten ausgelegten Engagements. Und Intendantinnen sind, bei aller längst gelebten Gleichberechtigung, noch recht dünn gesät in der Theaterwelt. Die neue Rolle in der ersten Reihe scheint auch für sie im Gespräch noch ein wenig ungewohnt.
Ihr Bruder Peter Carp war langjähriger Theater-Intendant in Oberhausen, bevor er kürzlich das Theater in Freiburg übernahm. U.a. deswegen ist sie auch nicht unvertraut mit den Eigenheiten der weltweit einzigartigen Theaterdichte unserer Region.
Dass Stefanie Carp netzwerken kann, hat sie in sieben Jahren als Schauspieldirektorin der Wiener Festwochen ebenfalls stressfest bewiesen. Sie hält sich auf dem Laufenden und schaut nach Möglichkeit selbst überall auf der Welt interessantes Theater an.
Vor Jahren (2004) hat sie auch mal mit RT-Vorgänger Johan Simons gearbeitet, anläßlich seiner Inszenierung von Houellebecqs „Elementarteilchen“ am Schauspielhaus Zürich. Als Dramaturgin ist ihr die Position zwischen Theatertexten und der szenischen Umsetzung bestens vertraut. Ihre dramaturgische Arbeit prägte berühmte Inszenierungen, ermöglichte zahlreichen Regie-Ausnahmetalenten, bestens beschützt, ungewöhnliche künstlerische Entfaltung. Als akribischer Analystin mit Sinn fürs auch finanziell Machbare wurde sie von „ihren“ bisherigen Intendanten denn auch besonders geschätzt. Dass sie selbst erst jetzt an die Spitze vordringen konnte, ist sicher auch ihrer Dezenz in eigener Sache geschuldet.
Es ehrt Stefanie Carp auch, dass sie ihren Respekt vor den einmaligen, geschichts-durchtränkten Industrie-Kulissen und Eindrucks-Spielstätten der Ruhrtriennale nicht cool verbirgt. Sie läßt sie auf sich wirken. Carp: „Klassische Theaterformen wären hier verschenkt. nicht alle Künstler diesen Räumen gewachsen.“
Sie erzählt von ihrer Arbeitsweise:
„Theater ist immer Teamarbeit, künstlerische Prozesse immer individuell“. Sie liebt das „nächtelange Ausbrüten von Ideen“ im Team, wenn sich plötzlich spannende Situationen entwickeln. Viele Inszenierungen ihres künstlerichen Partners Christoph Marthaler sind so entstanden.
Stefanie Carp hat den scheuen, aber in seiner Kunst kompromisslosen Regisseur mit nach Bochum gebracht: Wo er mit einem unvollendeten Musiktheaterwerk des amerikanischen Komponisten Charles Ives „Universe, incomplete“ in der Jahrhunderthalle am 17. August seinen Einstand gibt. „Seine“ Ausstatterin Anna Viebrock hat auch schon mal für die Proben (zum Gewöhnen an die Hallen-Dimensionen) einen lebensgroßen Dinosaurier hineingestellt. „Wir werden die Halle bis in den hintersten Winkel bespielen.“ , so Marthaler mit glänzenden Augen bei der Vorstellung seines Projektes. Die Vorfreude ist bei allen im neuen Team zu spüren.
Alles ganz in der Tradition der Ruhrtriennale,
die jedes Jahr dem Revier das persönliche Erleben besonderer internationaler Kunst- und Kultur-Ereignisse direkt vor der Haustür serviert. Musik, Tanz und Theater sind Ausdrucksformen, die jeder versteht, der sich darauf einlässt. Das baut auch Ängste ab und schafft Gemeinsamkeiten.
#nofear (keine Angst) heißt auch das bunte Programm der Jungen Triennale: 2018 will man sich gleich dem großen Thema Sexualität widmen. Auch ein Festivalzentrum wird es wieder vor der Jahrhunderthalle geben: Die Berliner Künstlergruppe „raumlabor“ eröffnet am 17. August ab 18 Uhr ihren „Third space“. Ein aus Flugzeugteilen über die drei Carp-Spielzeiten weiter wachsendes, irgendwie gestrandetes Raumding. Geeignet für alles Kommunikative unter den „Passagieren“: Geplant sind Workshops, Basteln und Weiterbauen, Filmvorführungen, Tanz, Disco und Diskussionen mit Künstlern: Eintritt frei!
Am 31. August präsentiert die Jahrhunderthalle ein weiteres anspruchsvolles musikalisch-szenisches Highlight: „Das Floss der Medusa“ von Hans Werner Henze:
Musikalische Leitung: Bochums GMD Steven Sloane. Die Fregatte „Medusa“ sollte 1816 den französischen Gouverneur in die Kolonie Senegal bringen. Ein unerfahrener Kapitän navigierte das Schiff auf eine Sandbank, Rettungsboote gab es nur für die Kaufleute und Offiziere. 150 Matrosen, Soldaten und Arbeiter wurden auf einem Floss ihrem Schicksal überlassen, Kannibalismus brach aus. Henze schrieb ein Oratorium mit einem Chor der Lebenden und einem immer größer werdenden Chor der Toten. Den Kompositionsauftrag erhielt Henze im wilden 1968er Jahr. Bei der Uraufführung in Hamburg stürmten Musikstudenten die Bühne mit roter Fahne und Che-Guevara-Bild, dem war das Werk gewidmet. Henze hob die linke Faust und weigerte sich Fahne und Bild zu entfernen. Eine Hundertschaft Polizisten beendete die Uraufführung. Für Henze war das „Floss der Medusa“ hoch aktuell: „Opfer der Herzlosigkeit von Egoisten aus der Welt der Reichen und Mächtigen“. Sein prophetisches Fazit damals schon: „Die Dritte Welt wird kommen - und Europa wird ihr die Tür öffnen müssen!“.
Auch auf die Tanzkunst-Premiere „Exodus“ von Sasha Waltz & Guests am 15. September in der Jahrhunderthalle dürfen sich aktive Zuschauer freuen:
Sie werden Teil dieser besonderen „Technik der Hervorrufens von Ausnahmezuständen“ sein.
Zurück zu den Anfängen
Mit Bochum verbindet Stefanie Carp Lebensentscheidendes: Hier hat sie 22-jährig bei Claus Peymann ihre erste Dramaturgie-Hospitanz überhaupt angetreten. Und sie erinnert sich noch gut an die intensiven Proben mit beeindruckenden Schauspielern wie Peter Brombacher und Johann Adam Oest. An herrliche, wie auch an kritische Momente. Oest hat wohl gemerkt, dass ihr da mal was ganz schön nahe ging und hat sie mit ihr unvergesslichen Worten getröstet: „Das ist manchmal so am Theater“. Und vor ihrer ersten Premiere hat Peter Brombacher sie überraschend an den Schultern gepackt und ihr herzhaft dreimal „toi, toi, toi“ rufend über die linke Schulter gespuckt. Mit diesem bekannten Theater-Ritual war Stefanie Carp bis dahin nicht vertraut und - hat sich furchtbar erschrocken... Der Beginn einer langen Theaterkarriere. Frau Intendantin, wir wünschen: Toi, Toi, Toi für die erste eigene Ruhrtriennale! Ohne Spucken. cd
Zur Person:
Dr. Stefanie Carp (* 1956 in Hamburg) prägte als Dramaturgin an verschiedenen hochrangigen deutschsprachigen Theatern Spielpläne und Produktionen: Düsseldorfer Schauspielhaus, Theater Basel, Deutsches Schauspielhaus in Hamburg, Volksbühne Berlin. Theater-Leitungs-Erfahrungen sammelte sie als Co-Intendantin und Chefdramaturgin von Christoph Marthaler am Zürcher Schauspielhaus. Zwei Spielzeiten wirkte sie als Chefdramaturgin an der Volksbühne Berlin bei Intendant Frank Castorf und sieben Jahre verantwortete sie als Direktorin das Schauspielprogramm der Wiener Festwochen- Seit dem 1. November 2017 ist sie die erste Frau an der künstlerischen Spitze der Ruhrtriennale, für die Jahre 2018 bis 2020.
Ruhrtriennale Highlights in Bochum 2018:
16. August ab 18 Uhr Eröffnung von „Third space“ / raumlabor aus Berlin baut über drei Spielzeiten aus Flugzeugteilen ein neues Festivalzentrum vor der Jahrhunderthalle immer weiter aus. Und im Westpark dahinter Präsentation der Skulptur „Appeal to the youth of all nations“ vom documenta Künstler Olu Oguibe. Beides zu Freiem Eintritt.
17. August, 20.30 Uhr: Musiktheater-Weltpremiere „Universe, incomplete“
von Komponist Charles Ives in der Jahrhunderthalle, Regie: Christoph Marthaler, Ausstattung: Anna Viebrock. Musikalische Leitung: Titus Engel, u.a. mit den Bochumer Symphonikern. Weitere Termine: 18. / 19. / 22. / 23. / 24. / 25. August, immer 20.30 Uhr. Karten: ruhr3.com/universe
18. August, 20 Uhr: Ethno-, E- und Indipop mit „Young Fathers“
in der Turbinenhalle an der Jahrhunderthalle. Karten: ruhr3.com/fathers
31. August, 21 Uhr: Inszeniertes Konzert / Oratorium: „Das Floss der Medusa“ von Hans Werner Henze in der Jahrhunderthalle. Musikalische Leitung: Steven Sloane, Regie: Kornél Mundruczó. Weitere Termine: 31. / 01. / 02. September, immer 21 Uhr. Karten: ruhr3.com/medusa
5. + 6. September, 21 Uhr: Opera Installation „Filiseti Mekidesi“,
Komposition und Künstlerische Gesamtleitung Elliott Sharp: Eine Meditation über die Suche nach dem sicheren, gefahrlosen und neutralen Ort. Karten: ruhr3.com/filiseti
8. September, 17 Uhr: Symposium „Training für die Zukunft. Ein Pre-Enactment“, Vorträge, Diskussionen und praktische Übungen, Kommunikation auf Englisch. Konzept: Jonas Staal und Florian Malzacher. Karten: ruhr3.com/zukunft
15. September, 20 Uhr: Tanz / Elektrosound „ Exodus“
von Choreographin Sasha Waltz & Guests - Soundwalk Collective in der Jahrhunderthalle. Tanz als Technik des “Hervorrufens von Ausnahme-Zuständen”. Weitere Termine: 15. / 16. 7 18. 19. / 20. September, immer 20 Uhr. Karten: ruhr3.com/exodus
Autor:Caro Dai aus Essen-Werden |
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