Schauspielhaus Bochum: „Theater des Jahres 2022“
Mit Hamlet, Alkestis und der Hermannsschlacht zum besten Theater Deutschlands
Als sich die Stadt Bochum für das 100jährige Jubiläum ihres Schauspielhauses nach einem Intendanten umsah, der nicht nur die Feierlichkeiten erfolgreich schmeißen, sondern auch für überregional erfolgreiches Spitzentheater sorgen sollte, fiel die Wahl auf Johan Simons. Und man kann sagen: Mission erfüllt. Nach der kommenden Spielzeit hat sich der Intendant nach fünf Jahren auf weitere drei mit der Stadt Bochum geeinigt.
Erstmals nach vierzig Jahren ist das Schauspielhaus Bochum 2022 nun zum zweiten Mal zum „Theater des Jahres“ gekürt worden:
Ein Titel, den die Theaterfachzeitschrift „Theater heute“ seit 1976 jährlich vergibt. Und der als wichtigste Auszeichnungen für ein Ensemble in der gesamten deutschsprachigen Theaterlandschaft überhaupt gilt. Zuletzt an Bochum unter Claus Peymann 1982 vergeben. Der dann das Burgtheater Wien übernahm.
Dass sich was tat in der überregionalen Wahrnehmung des nicht nur im Revier führenden Schauspielhauses, war schon nicht zu übersehen durch die Einladung der Johan-Simons-Regie von „Hamlet“ mit Sandra Hüller zum Berliner Theatertreffen 2020. (Die erste nach 20 Jahren!) Immer volles Haus - aber mitten im Lauf kam der Corona-Lockdown. Das Theatertreffen fand online und auf "3sat" statt, dort mit ungewöhnlich hohen Klick- bzw. Zuschauer-Zahlen.
Corona zwang zu neuen Theaterformen, sollte nicht der Kontakt zum Publikum ganz verloren gehen:
Auch Bochum versuchte auf die fast vorstellungslose Zeit zu reagieren. Es entstanden herausragend hybride Video-Arbeiten wie z.B. „Viel Gut Essen“, das dann auch szenisch gezeigt werden konnte. Aber sobald die Theater wieder öffnen konnten, wurde losgelegt: Mancher spielte um sein Leben. Doch das theater-live-entwöhnte Publikum muss wie befürchtet immer noch zurückgewonnen werden. Nicht nur in Bochum.
Und so haben sich Johan Simons und sein Bochumer Ensemble wirklich über diese ganz besondere Auszeichnung gefreut.
„Theater heute“ schrieb: „Bochum als Theater mit einem diversen, exzellenten Ensemble, das selbst gelegentliche Regie-Ausrutscher durch stoisch starkes Spiel abfedert.“ Na ja.
Der lange Atem hat sich gelohnt und auch die Strategie, dem Virus und seinen
schweren kulturellen Long-Covid-Folgen ein Theater auf hohem und
höchsten Niveau entgegen zusetzen.
Oder wie Simons es bei seiner Dankesrede auf der Bühne ausdrückte: "Eine Spielzeit, die gezeigt hat, wie ermutigend, beglückend, anregend und hinterfragend das gemeinsame Theatererlebnis sein kann, Ich bin davon überzeugt, dass das Theater notwendiger ist, als jemals zuvor – als Ort der Reflexion, der Diskussion, aber auch als Schutzraum für neue Gedanken.“ Ja, so isset. Oder auch nicht: Wie immer macht die Mischung den feinen Unterschied!
Und: Theater ist nicht nur Tragödie, sondern immer auch Komödie !
So ist, wer einfach nur mal herzlich ablachen möchte, beim Abend „Hermannsschlacht, allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie“ goldrichtig aufgehoben!
Wir nahmen die Gelegenheit wahr, sowohl kurz vor und nach der Vorstellung mit „zwei der Recken" aus dieser legendären „Schlachtschüssel“ zu sprechen: Titelheld Bernd Rademacher und Dominik Dos-Reis (der u.a. Hermanns Sohn Rinold spielt) waren schon im „Hamlet“ als Vater Polonius und Sohn Laertes besetzt. Und sind auch in der "neuen Hermannsschlacht" eine echte Bereicherung:
Rademacher, germanisch-recklinghäuser Herkunft (so hat er schon Peymanns legendäre "Hermannsschlacht" als Zuschauer erlebt) und der junge Dominik mit portugiesisch-französischem Papa und österreichischer Mama sind gute Beispiele für die kreative Diversität im Ensemble. Die Probenarbeit mit Regisseurin Barbara Bürk und Clemens Sienknecht, der auch eine vor-tragende Rolle in Bochums "neuer Hermannsschlacht" spielt, sei in jeder Hinsicht eine Herausforderung gewesen. Musikalisch, wie szenisch - und überhaupt:
Das Publikum zum guten, freien Ablachen ohne geringste Häme zu bringen, ist vielleicht die höchste Kunst in diesen Zeiten:
Die Zuschauer vergessen tatsächlich den Alltag und lachen sich schlapp. Umjubelte Gesangseinlagen und ein "nicht enden wollender" Applaus mit vielen Verbeugungsrunden sind der Lohn für das großartige Hermann-Ensemble, dem auch Marius Huth (u.a. Sohn Adelhard), Michael Lippold (gnadenlos gut u.a. als Quintilius Varus), Veronika Nickl (als Hermanns Thusnelda), Friedrich Paravicini (Maestro) - und nicht zu vergessen die echten Bochumer Bürger u.a. als umwerfende römische Söldnertruppe - angehören.
Der jahrzehntelang erfahrene Rademacher (siehe Lokalkompass-Porträt) gibt zu, dass er anfangs gar nicht glauben konnte, wie gut die Gags und ihr Timing funktionieren. Doch spätestens nach seinem „I am the walrus...“-Beatles-Song liegt ihm das Publikum zu Füßen. Auch als „alter Hase“ hat er noch immer Lampenfieber vor jeder Aufführung, gut, dass er sich in der (für ihn hier ausführlichen) Masken-Sitzung vorab noch fokussieren kann. Natürlich sind der junge und der - ältere, der "große" und der kleinere Bühnenkünstler stolz auf "ihr" Schauspielhaus und den Titel „Theater des Jahres“. Und das zu Recht!
Alkestis im "Camping Epidauros"
Es war auch für den jungen Dominik ein spannendes Jahr: Er probte und spielte im antiken Epidauros, "am Ort, wo das Theater ja mal erfunden wurde.“ Johan Simons hat dort im berühmen Halbrund „Alkestis“ inszeniert, das vor rund 2500 Jahren (genauer 438 vor unserer Zeitrechnung) vom griechischen Klassiker Euripides geschrieben wurde. Für Dominik war es ein unvergessliches Erlebnis: „Unter freiem Himmel an einem solchen Ort zu spielen! So nah ist man den Elementen ja selten ausgesetzt - was für die alten Griechen ja auch eine Begegnung mit den Göttern war. Epidauros war ein Ort der Heilung und Theater ein Teil der Therapie. Wenn während der Vorstellung Alkestis vom Tod in die Unterwelt gebracht wird, ging auch die Sonne hinter uns unter. Das war schon etwas sehr Besonderes!“.
Bei Simons fährt der personifizierte Tod einen alten Leichenwagen und Alkestis steigt nach ihrer Karaoke-Einlage von Vicky Leandros Hammersong „Du weißt, ich liebe das Leben.“ einfach in den Sarg durch die hintere Klappe. Der Tod will losfahren, aber - es tut sich nichts. Frustriert klappt er die Motorhaube hoch. Wer einmal in Griechenland Urlaub gemacht hat, glaubt das sofort.
Simons hat alles auf einem Campingplatz angesiedelt. Dominik spielt eines der Kinder, die Alkestis (Anne Rietmeijer, beste Nachwuchsschauspielerin des Jahres 2021) verlassen muss.
Die Szene trifft ins Herz. Sie geht freiwillig für ihren Mann in die Unterwelt. Weil kein anderer sich bereit findet, das Opfer für den König auf sich zu nehmen. Nicht mal sein alter Vater, der sein Leben ja gelebt hat. Steven Scharf als „gütiger Herrscher Admetos“ duelliert sich verbal auf großartige Weise mit seinem Vater (Stefan Hunstein), der überhaupt gar nicht einsehen will, warum er für den Sohn auf sein Leben verzichten soll.
Die vertraute simonsche "Kitschbremse" verhindert Schlimmeres:
Herakles (Pierre Bokma) kommt spontan als Rucksack-Tourist vorbei und regelt das mit Tod, Unterwelt und so auf seine Weise. Der ADAC braucht für den Pannen-Leichenwagen nicht zu kommen.
Das internationale Publikum in Epidauros hat wohl erst langsam nach Stückbeginn begriffen, dass der Camping-Wohnwagen und die leider in Griechenland üblichen weißen Block-Plastikstühle das Bühnenbild waren. Und dass es Schauspieler waren, die dort zu sehen waren. Doch die klassische Geschichte etablierte sich schnell und wurde mit großem Applaus gefeiert. Sie ist jetzt im Schauspielhaus Bochum zu sehen, wenn auch ohne den originalen Sonnen-Untergang.
Erlebis fürs Leben:
Dominik erzählt, dass er sich am letzten Abend heimlich in Epidauros mit einem Kuss auf den antiken Steinboden im riesigen Bühnenhalbrund verabschieden wollte. Und sich erschrocken hat, als ihn im selben Moment jemand auf Englisch fragte, wer er sei und woher er komme. Wie sich herausstellte, kam die Frage von einem alten Bühnen-Techniker des Epidauros-Festivals. Er erklärte Dominik, dass er in seinem gesamten Berufsleben bisher nur drei Schauspieler getroffen habe, die sich auf diese Weise von der Bühne verabschiedet hätten. „This is respect“, gab er ihm mit auf den Weg. Ein kurzes Erlebnis für ein ganzes Schauspieler-Leben.
Weiteres Sehenswertes mit Dominik Dos-Reis im „Theater des Jahres“ sind auch die überregional ebenfalls hoch gelobte Gorki-Inszenierung „Kinder der Sonne“ oder „Das Gespenst der Normalität“ (auf Anhieb in der Shortlist fürs Theatertreffen Berlin). Wir drücken weiter die Daumen. Toi, Toi, Toi - Glückwunsch zur Arbeit und zur erneuten Auszeichnung!
News 2023: Alfred-Kerr-Preis für Dominik Dos-Reis!
Im Mai 2023 wurde beim Berliner Theatertreffen anläßlich des Gastspiels "Kinder der Sonne" (Gorki / Regie Mateja Koležnik) vom Bochumer Schauspielhaus Dominik Dos-Reis für seine Darstellung des Boris Nikolajewitsch Tschepurnoi mit dem renommierten Alfred-Kerr-Darstellerpreis ausgezeichnet, der nach einem der wichtigsten deutschen Theaterkritiker der Vergangenheit benannt ist. (cd)
Programm und Termine unter www.schauspielhausbochum.de
Autor:Caro Dai aus Essen-Werden |
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