Mein die Rache im Alten Testament, denn...
Mein ist die Rache im alten Testament, ...denn Mensch sollte nicht richten und urteilen.
Mein ist die Rache - eine Erzählung
Das schmiedeeiserne Tor quietschte in den Angeln. Unter Karins Sohlen knirschte grauer Schotter eines grauen Tages. Sie rauchte eine Zigarette nach der anderen, drückte Zigaretten aus, zündete neue an, abwartend, unter stammblätternden Platanen in dem leichten Nieselregen. In angenehmer Entfernung, verdeckt durch Thujas und Büsche, wurde der schwarze Sarg zu Grabe getragen, schwarze Menschen gaben Geleit. Schwarze Regenschirme glänzten.
Karin beobachtete ein fliehendes Kaninchen, das leicht und anmutig über den Weg sprang und in einem Schlupfloch verschwand.
Nun war sie tot, die schwarze Witwe, diese Frau, die sie geboren hatte.
Sie hatte sich im Leben nach Tod des Mannes der Kirche verschrieben, als Presbyterin, Bezirksfrau, Religionslehrerin und wie süchtig jegliche an sie heran getragene Aufgaben angenommen. Sie lehrte, ohne zu handeln, verkündete ohne zu glauben mit der Herrschaft kirchlicher Macht.
Wenn aber Jesus nicht richten sondern aufrichten wollte, Menschen Freiheit geben, nicht Schuld und Strafe, zu verteilen, Menschen zu richten,...
Wenn Karin dachte, was die Mutter im falschen Glauben und bösartigem Unglauben gemeint und gelehrt hatte, das Recht der Kirche als ihr eigenes anzunehmen, um im guten Glauben Brutalität und Grausamkeit zu tun, wie eben auch die Kriege geführt werden, um zu vernichten, nicht um sich zu einigen, so war Mutter nie in Verbindung gewesen von dem, was grundliegend alle Religionen vertraten.
In Karin entstand ein undeutlicher Film aus tiefen dunklen Fluten und Bilder des Grauens setzten sich wahllos aneinander, alte bösartige Trigger, die sie nicht vergaß.
Regentropfen sammelten sich auf einem Blatt, hüpften, sprangen, flossen zum nächsten. Pitsch! Sie lösten sich und landeten auf Karins Brille. Mit dem bunten Halstuch wischte sie die Brille trocken, zündete sich eine neue Zigarette an, sog gierig daran. Die abfallende Asche beschmutzte ihren Anorak, doch sie bemerkte es nicht. Erinnerungen zuckten durch ihre Stirn wie flammend grelle Schmerzensblitze.
Mutter hatte Kirchengruppen geleitet, da Kronenkeruz der Kirche erhalten, aber sich oftmals verächtlich über die zu Betreuenden augesprochen.
Karins Unbehagen über die Kirche verstärkte sich ganz persönlich. Die Scheinheiligkeit und Dogmensucht, Verurteilung moralischer Schuld war ein diffus angelegter Betrug zur Macht, der nichts mit der Person Jesus zu tun hatte. Mutter benutzte die Kirche und die Kirche benutzte sie. Mit Glauben hatte das nichts zu tun. Hatte die Kirche überhaupt etwas mit Glauben zu tun, oder verteilte sie in der Maske der Gutmenschen die Machtbefugnisse von einmn zum anderen?
Durch Mutter, die nicht lebte was sie sagte und nicht sagte was sie lebte
hatte Karin über Religion und Glauben gegrübelt, denn was sie lernte, waren Falschheit und Lügen, die nicht aus einer Religion kamen, einer gespaltenen Orientierungslosigkeit, die boshaft nach Außen gerichtet wurde. Als Kind hatte sei einmal gelesen: „Mein ist die Rache, spricht der Herr!“ eine Idee aus dem Alten Testament und es gefiel ihr, denn irgendwann würde sie sich an der Mutter rächen.
Wenn Karin an das letzte Lebensjahr von Mutter sah, überkam sie Ekel. Mutter wurde dement, vergaß und vergaß, dass sie vergaß, lebte im Augenblick mit einer Halbwertzeit von zwei Minuten. Sie saß ungewaschen mit fettigen Haaren, nach Urin riechend, mit langen schmutzigen Fingernägeln zu hause, wollte aber auf keinen Fall in ein Heim. Die Schwester als Mutters Liebling entsprach ihrem Willen, doch kam nur sonntags zum Kaffee.
Karin putzte Mutters Wohnung, bis es ihr zu widerlich wurde. Kam sie dort hinein, rang sie nach Atem und stürzte auf den Balkon. „Musst du schon wieder rauchen?“ keifte es hinter ihr her.
Endlich kam Mutter doch in ein Heim und wurde immer weniger.
„ Guter Gott, war das Strafe genug? “ dachte Karin und fragte sich zum tausendsten Mal: „Warum hat sie mich abgelehnt? Warum war ich nicht gewolllt?"
In ihrer Kehle begann es zu würgen, Halsmuskeln zogen sich krampfhaft zusammen. Sie gähnte bewusst mehrere Male, ohne Erleichterung zu verspüren.
Der Schrei blieb aus, der Schmerz in der Kehle stecken. Sie zündete sich eine weitere Zigarette an. Mit einiger Zufriedenheit blickte sie auf ihr kleines geordnetes Leben. Die Zigaretten waren die einzige Sucht einer nicht zum Schreien bereiten Kehle.
„Will ich Rache?“ fragte sie sich. „ Soll ich der Rache ein Gewicht geben und allen und mir selbst schaden?“ Zwischen Sanftmut und Vergebung, Zorn und Wut über die erlittene Ungerechtigkeit schwankte sie hin une her. Wo war die Wahrheit hinter all den Lügen?
Karin wünschte, sie könne den Kindheitswunsch, geliebt zu werden, die Illusion, es allen recht zu machen, loslassen. Die Vergangenheit war in der Gegenwart nicht zu finden, nur im eigenen Blick, die Haltung darauf.
Der schwarze Sarg wurde hinab gelassen, der schwarze Pastor murmelte ein „Vaterunser“. Die Schwester schluchzte. Sie hatte nun keinen mehr, der sie so bedingungslos unterstützte.
Karins schmerzender Kopf sinnierte:“Würden sich Vergehen wie ein Karma selbst richten? Nein, das war nicht wahr. Wenn aber die Kirche als Betätigungsfeld für machtgierige Personen benutzt wurde, die – Jesus – sagen und sich selbst meinten? Nach ihrem eigenen Glauben war Gott in Allem vorhanden und schädigte man einen anderen, schädigte man die gesamt verbundene Einheit.
Plötzlich wurde Karins Übelkeit stark, immer stärker. Sie presste die Halsmuskeln fest zusammen und schluckte, biss sich auf die Zähne, versuchte ein Gähnen – doch ihr Körper war stärker. In einem riesigen Schwall entlud sich Scham, Ekel und Wut, mitten auf einem Grabstein mit der Aufschrift: „Christus spricht: Ich lebe und ihr sollt auch leben.“
Raus! Alles raus! Abgeben!
Es war einfacher, loszulassen als zurückzuhalten. Verkrampfungen lösten sich in einer Art Schüttelfrost. Zitternd wischte sich Karin den Mund, ordnete die Haare und ging, ganz langsam, wie in Trance, von der Grabstätte, vom Friedhof fort.
Sie versuchte, tief zu atmen und den gesenkten Kopf zu heben, sich aufzurichten und sie wuchs. Sie wurde größer und sah die Bäume, den Himmel, alles was sie umgab.
Die Filme des Gestern verblassten in weißen Nebelschwaden, je weiter sie ging, zogen wie alte Träume hinweg, verflüchtigten sich in Wolkenstreifen.„Mein ist die Rache,spricht der Herr,“ dachte Karin, „ Ja, aus dem Alten Testament und daran war viel Wahres. Menschen, die doch klein und unwissend sind, haben nicht das Recht, sich gegenseitig zu strafen und zu richten, da sie das Gesamte, auf dem das Leben beruht, nicht überblicken können."
Die Last ihrer Schultern sank bei jedem Schritt ein Stück weiter von ihr ab und der regennasse Boden nahm sie auf, versenkte die abgleitende Schwere im Erdreich. Karin blickte nicht zurück. Langsam, kaum merklich, entstand in ihr eine friedliche Ruhe. Sie atmete tief ein und ihr Sinn bestand aus Gehen und Atmen, Gehen und Atmen.
Durch das regennasse Grau des Himmels brach ein winziger Sonnenstrahl hervor und erhellte die niederfallenden Herbstblätter. Karins Mundwinkel entspannten sich zu dem Versuch eines Lächelns.
In ihr summte eine alte Melodie:
„In Mueders Stuebele, do goht der Mh, Mh, Mh,
in Mudders Stübele, do goht der Wind.
Muss fast verfrieren vor lauter Mh, Mh, Mh,
muss fast verfrieren vor lauter Wind."
Am nächsten Papierkorb warf Karin die Zigaretten fort – und rauchte nicht mehr.
Autor:Ingrid Dressel aus Bochum |
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