KIndesmissbrauch - Schicksal Pollux
Kindesmissbrauch - Klassenkamerad "Pollux"

"Pollux" - Auf der Klassenfahrt nach London
„When I woke up this morning, you were on my mind...“
Das Radio spielte diesen Song, den ich liebte, wenn ich an ihn dachte, den Klassenkameraden, den Stillen, Zurückhaltenden. Er hatte sich in sich selbst verschlossen, dass es nicht möglich war, sich mit ihm zu befreunden. Dabei hätte ich es gerne getan.
Im Sommer unternahm die Klasse eine Fahrt nach London. Wir waren in Gastfamilien untergebracht, wurden mit einem Glas Tee geweckt und bekamen dann ein englisches Frühstück, Ham and Eggs and Beans, was schwer im Magen lag.
Außer den üblichen Sehenswürdigkeiten faszinierte mich die Tate Galerie mit den großformatigen Bildern wie von Jackson Pollock. Als Höhepunkt sah die Klasse das Musical „Hair“ in Originalfassung, für ein protestantisches Mädchen eine gewisse Herausforderung, da das gesamte Ensemble plötzlich nackt auf der Bühne stand.
„Pollux“, wie er mit seinem halblangen Beatleschnitt und dem über den Ohren gerundeten Pony genannt wurde, sah aus wie die entsprechende Comicfigur. Er nahm mich zu seinen englischen Verwandten mit und sie zeigten uns London.
Seine Geschichte, die Geschichte von Pollux, diesem schüchtern gehemmten Jungen oder jungen Mann erfuhr ich erst viel später von seinem Cousin, als schon alles geschehen war.
Er war kein guter Schüle, hatte sich mühsam durch gekämpft. Auch beliebt war er wenig, ein stiller Mitläufer, der sich oft abseits hielt, schweigend, sinnierend, träumend in seinem weichen runden Gesicht mit den großen rehbraunen Augen.
Seine Eltern hatten in einer kleinen Wohnung gelebt, die ihn erdrückte, auch das nahe Zusammensein. Was dann wirklich passierte, kann ich nicht sagen, nur kam er eines Tages auf die Idee, in den Keller zu ziehen.
Das winzige Fenster ließ kaum Tageslicht hinein und es gab keine Heizung. Es war ihm egal. Hier, im Dunklen, in der Abgeschiedenheit, hatte er sein Reich. Niemand störte ihn. Wenn er hier war, war er einfach weg, nicht anwesend für die obere Welt. Er legte sich auf eine Pritsche und träumte, träumte viel, verschwand in den Welten des Traumes, sank in sich hinein. Doch er ging weiter zur Schule. Jemand kam mit einer Gitarre vorbei, spielte etwas und Pollux nahm das Instrument zögernd in die Hand.
Das war es! Der Wunsch breitete sich wie ein Leuchtfeuer aus. Er würde auch Gitarre spielen. Vom selbstverdienten Geld kaufte er sich das erste Instrument, saß im Kellerloch und zupfte die Saiten, imitierte Songs, Beatles, Stones, Bob Dylan, Donovan, Cohen.
Zu singen fiel ihm schwer. Wollte er einen Ton hervorbringen, brach seine Stimme ab und er versuchte zu summen. Seine Eltern machten sich über seinen Aufenthalt im Dunkeln Sorgen. Er duckte, er schluckte und verkroch sich.
Dann kam sein Onkel auf die Idee. “Du kannst bei uns wohnen. In unserem Haus hast du ein schönes Zimmer.“
Er willigte ein und bald befand er sich im Haus seiner Verwandten. Zunächst schien alles in Ordnung zu sein. Die Leute waren nett. Doch dann wurde der Onkel nett, immer netter. Er wurde so nett, dass er allabendlich seinen Schwanz in ihn hineinstieß.
Was sollte er machen? Zu den Eltern zurückgehen? Er könnte es nicht erklären. Er saß in einer ausweglosen Situation, abhängig von der Güte des Onkels, der die Lage skrupellos ausnutzte.
Pollux harte aus, harrte lange, viel zu lange aus, unfähig zu Beziehungen, denn kam ihm jemand nahe, verschloss er sich oder floh.
Doch er hatte seine Gitarre, entlockte ihr Herzenstöne, die ihn durchströmten und in eine Traumwelt brachten. Manchmal besuchte er Kollegen, Klassenkameraden, aber blieb dort der Stille, der Schweigsame. Es wurde viel gekifft und auch das brachte ihn in Traumwelten.
Andere schauten ihn belustigt oder mitleidig an, doch er konnte nicht sagen, was mit ihm los war, als sei im Innern ein Block, eine Schranke, die sich nicht lösen ließ. Auch seine Gitarre sang nicht auf eine Weise, dass sie verstanden.
Irgendwann brachten sie ihn fort. Sie sagten, im Krankenhaus sei es besser für ihn. Er legte sich auf ein Bett, tat nichts, bis die Ärzte ihn als geheilt entließen. Die Medikamente beruhigten ihn, ähnlich wie das Kiffen, doch er setzte sie ab. Dann fand diese Fete bei einem Bekannten statt. Man kiffte, was das Zeug hielt, die Musik dröhnte, und er unterhielt sich plötzlich wild und lebhaft mit den anderen. Sie schauten ihn irritiert an. Er wurde lauter, um sich Gehör zu verschaffen, eindringlich, aggressiv.
Sie wunderten sich und es kam der Gedanke auf: „Wir bringen dich lieber wieder in die Psychiatrie.“ Plötzlich war er hellwach. Nur das nicht! Nicht noch einmal! Er sprang wie ein gejagtes Tier auf, in die Enge gedrängt und sah keinen Ausweg. Sein Puls schlug zum Zerbersten, er zitterte.
Weg! Weg! Dachte er. Und da war das Fenster. Es stand weit offen. Mit letzter Kraft schwang er sich hinüber und sprang.
Die Eltern gaben nur eine unbedeutende Todesanzeige, doch seine Freunde würdigten ihn mit einem großen Memorium. Auf einem späteren Klassentreffen wurde gelästert: „ Der hat ja gesponnen. Der war doch schizophren.“ sagte der gelernte Sozialarbeiter, ehemaliger Klassensprecher, der die Tochter einer Fabrik geheiratet hatte und nun nichts mehr für das gemeine Volk übrig hatte.
Auf der damaligen Klassenfahrt, als Pollux das Leben noch ordnen konnte, nahm er mich zu seinen Verwandten in London mit. Sie schenkten mir eine Kette aus Strasssteine, die ich  kitschig fand und wegwarf. Ich hätte sie aufewahren sollen, als Erinnerung an London und als Erinnerung an die Stunden mit  Pollux.

Autor:

Ingrid Dressel aus Bochum

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