Blick zurück: Zeche, 1. Oktober 1984
Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt

1. Oktober 1984: Geier Sturzflug spielen auf ihrer "3xtäglich"-Tour in der Zeche Bochum. Foto: Ulli Engelbrecht
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Warum ein Song über die Summe aller produzierten Güter und Dienstleistungen einer Volkswirtschaft in einem Jahr, eben übers Bruttosozialprodukt, über Nacht zum Hit wird, kann man wohl nie ergründen.

Er lässt sich auf jeden Fall nicht generalstabsmäßig planen. Bruttosozialprodukt, das Lied, war bereits ein betagter Szene-Song, als die Bochumer Gruppe Geier Sturzflug mit der Aufschwung-Story anno 1983 zu Hitparaden-Ehren aufstieg. Schon in den 1970ern sang Friedel Geratsch sein Lied vom amputierten "workaholic", der sich jetzt wieder mächtig in die Arbeit hineinkniet. Und da agierte er noch gemeinsam mit seinem Kumpel Reinhard Baierle im Straßenmusik-Duo Dicke Lippe.

Vom Duo zum Quartett zum Siebenerpack. Und irgendwann um 1981 herum stand jene Geier-Sturzflug-Besetzung fest, die von nun an, Zitat: "...einfache Songs machte, mit denen sich viele indentifizieren konnten, die Kraft gaben, ohne zu verleugnen, dass viele Zukunftsperspektiven nicht gerade zur Euphorie verleiten. Und alles das ist musikalisch glaub-haft umgesetzt, ohne dass die Band in spaßtötenden Agitprop verfällt"– so ist es in dem ein oder anderen Rockmusik-Almanach nachzulesen.

Friedel Geratsch (Gitarre, Gesang), Michael Volkmann (Gitarre, Gesang), Deff Ballin (Tasteninstrumente), Uwe Kellerhoff (Schlagzeug, Gesang), Hannes Stappert (Technik), Klaus Fiehe (Saxophon, Gesang) und Werner Borowski (Bass, Gesang) erzählten vom depressiven Großstadtleben, besangen Richard, den Star vom Polizeifunk, beschrieben sich als "die Leute, vor denen die Eltern uns warnten" und waren die Lieblingsgruppe der Linken. Und sie waren es zunächst auch gern (Eigenbezeichnung: "Wir sind eine Sponti-Rockband mit staatsbeschmutzenden Texten").

Sie spielten oft nur fürs soziale Engagement auf Friedens-, Rock-gegen-Rechts- oder Anti-Irgendwas-Festen, sie spielten ganz selten für "Schotter blau gebündelt" (also: Für einen Packen Hundertmarkscheine), hin und wieder nur für eine Hand voll Deutschmarks, doch meistens spielten sie umsonst und draußen und in besetzten Häusern. Und das taten sie landauf, landab und manchmal an so vielen Abenden im Monat, wie der Tag Stunden hat. Von Flensburg nach Kißlegg, von Beckum über Porta Westfalica bis nach Aschaffenburg und wieder zurück und dann wieder im Ruhrgebiet und vor allem in Bochum.

Runtergekommen

Irgendwann Anfang 1982 erschien auf dem linken Münchener Trikont-Label eine aus Dorfdisco- und Kleinstadt-Gagen mühsam zusammengesparte und eigenhändig produzierte LP. "Runtergekommen" hieß die und präsentierte so tolle Reggae-Ska-Rock-Nummern wie Haste ma’ `n Tacken für die Raupe, Glückliche Familie, Heiße Liebe oder Reggae im Ruhrgebiet. Dies alles waren sanft-zynische Gassenhauer mit pfiffig-ironischen Texten und wir sangen stets begeistert mit.

Waren Geier Sturzflug doch "unsere" Band und artikulierten alles das, was uns auf der Seele brannte. Und wenn man mit Uwe, Micha oder Friedel nach einem Gig am Tresen stand und übers Establishment wetterte, dann wußten wir, solange es diese Band geben wird, ist unsere kleine Anarcho-Welt in Ordnung. Die Geier schaukelten sich als professionell agierende Amateure mit Spaß, Ausdauer und minimalem finanziellen Verdienst locker durchs Leben und brachten die politischen Verhältnisse mu-sikalisch und im wahrsten Sinne zum Tanzen.

Und plötzlich dies:
Radioeinsätze. Fernsehauftritte...
Geier Sturzflug im Fernsehen???
Mit Bruttosozialprodukt???
Das gibt`s doch gar nicht...

Doch. Tausendmal hatte man den Song schon gehört, tausendmal war nix passiert. Bis der findige Produzent Peter Kent, ein ehemaliger Schlagersänger, auf die sieben Ruhries aufmerksam wurde, mit ihnen diesen Titel 1983 neu produzierte und ihn an die Ariola verkaufte. Die Veröffentlichung erfolgte fast zeitgleich mit Bundeskanzler Helmut Kohls Parteiprogramm der geistig-moralischen Wende. Und plötzlich waren beide aus der Öffentlichkeit nicht mehr wegzudenken. Nicht mehr Kohl, nicht mehr die Geier. Was zu Irritationen beim Konsumenten führte, da er den ironischen Unterton in dem Titel nicht heraushörte und Bruttosozialprodukt fälscherlicherweise als die neue Polit-Hymne verstand. "Parteitags-Song der CDU", so stand’s in der Quick. "Zynische Ballade vom deutschen Arbeitsethos", schrieb der Vorwärts. Und die Bunte titelte: "Das neue Evangelium".

Ist doch alles nur Spaß, sagte die Band, die gerade eben noch im besetzten Haus agierte und plötzlich durch TV-Studios gejagt wurde: Kindersendungen, Quizshows, Magazine und – natürlich – die ZDF-Hitparade. Gerade noch mit Dreitagebart und erhobener Faust in der besetzten Bochumer Uni-Mensa vom Tässchen Mokkadischu gesungen, standen sie nun geschminkt und mit fröhlich bunten Hemden bekleidet vor den Berliner Kameras und grienten händeklatschend ein Millionenpublikum an: Ja, ja, ja jetzt wird wieder in die Hände gespuckt...

Heiße Zeiten

Ja, ja, so kann es kommen. Die Geier waren wer und wir waren glücklich. Anarchos in der Hitparade! Einfach Klasse! Der Wind hatte sich also doch gedreht im Lande. Und wenn jetzt viele meinten, der Erfolg habe die Geier seinerzeit kreuzkriecherisch gemacht, da kann ich nur sagen: Quatsch! Erfolg zu haben, heißt doch nicht, dass man nun seine Gesinnung aufgibt. Aber noch leben wir in den 1980er Jahren und in diesen Zeiten musste so ein Thema natürlich in breitester Form ausdiskutiert werden. Die linke Szene löste sich sehr schnell von ihren Lieblingen, was Geier Sturzflug auch ganz recht war. Jahrelang habe man sich für das in diesen Kreisen übliche kleine Geld die Hacken abgespielt und jetzt werde einem vorgeworfen, dass man richtig Knete macht. Auf solche Leute könne man gut verzichten, resümierte die Band und kümmerte sich lieber um die Dinge, die nun wichtiger waren.

Eine gute LP machen, "Heiße Zeiten" hieß sie, für die Kai Havaii von Extrabreit die Textbeilage illustrierte und für die man sich eine mitspielende Koryphäe wie den Drummer Curt Cress leisten konnte. Wichtig war es auch, sich ganz fix mit ein paar elementaren geschäftlichen Grundlagen vertraut zu machen – nach rund 500.000 verkauften Singles war das auch notwendig. Dann wollte man einen pfiffigen Brutto-Nachfolgetitel finden, endlich mal eine neue Hose kaufen, eine schicke Gitarre und auch einen Videorecorder, damit die Eltern die TV-Auftritte auch mitschneiden konnten, oder einfach mal Taxi fahren oder schick essen gehen.

Karibische Gefühle

Auch wenn sich die Habenseite ihrer Sparkassen-Konten nun gut füllten – die Geier blieben die Geier und sie blieben in Bochum, lebten weiterhin in ihren WGs und sie blieben sich auch musikalisch und inhaltlich treu: Fabulierten das bitterböse Lied über Europa, das man noch schnell besuchen sollte, solange es noch steht, mixten den lauen Stinkewind vom Chemiewerk und die Edeka-Ananas-Konserve zu einem hinterlistigen Karibische Gefühle, sie besangen das Wohnklo in der Silo-Stadt, die Nie-mands-Kinder von "Patentex Oval" oder ratlose Menschen in Wahlkabinen. Geier Sturzflug waren nun prominent, ihre Fotos fanden sich in Teenie-Gazetten, Musikblättern und Wochenzeitungen. Interviews, Statements zum Lied und zur Zeit, persönliche Daten, Klatsch- und Tratschgeschichten konnte man in der Bravo nachlesen, im Stern oder in der Zeit.

Von Aufstieg und Fall soll diese Geschichte handeln. Na gut, ein richtiger Fall war es letzten Endes ja nicht, eher ein Gleitflug zurück ins Private. Geier Sturzflug waren nun mal nicht bereit, ausschließlich poppige Konfektionsware zu liefern. Die dritte LP, »Dreimal täglich«, 1984 veröffentlicht, bot ein handwerklich ansprechendes Konglomerat aus Hits, Witz und Zynismen. Wir erinnern uns: Neulich wollt` ich nach Grenada, als der Ami gerade da war. Mein Gott, hab’ ich da geflucht denn ich hatte fest gebucht aus dem Song Amis. Nein, die Gruppe scheiterte an der Zeit, die alle drei Monate neue und pflegeleichte Stars hervorbringen musste. Sie scheiterten nicht an ihrem Anspruch, mit sieben Individualisten, flapsiger Tanzmusik und bissigen Lieder die Welt erobern zu wollen.

Die große Deutschland-Tour 1984 war ein Flop, und sich konzertmäßig nur noch auf Bierzelt- oder Diskotheken-Jobs zu reduzieren, dazu hatte der ein oder andere Geier letztlich keine Lust. So kam es, wie es kommen musste, irgendwann Anfang 1985 löste sich die Band auf.

Nachsatz: Seitdem ist viel Zeit vergangen und Mastermind Friedel Geratsch, der den Geier nie abstürzen liess, hat reichlich erlebt, war auf etlichen Bühnen zuhause (sogar bis hinunter zum spanischen Ballermann) und produzierte und produziert eine Menge sehr interessanter Musik, über die ich stets gerne auf dieser Seite berichte.

Autor:

Ulli Engelbrecht aus Bochum

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