Binge-Watching im Schauspielhaus Bochum
„Game of Sons“ - „Brüder Karamasow“ in 7 Stunden

Der großartige Steven Scharf als Iwan Karamasow hat wirklich alles versucht... Pressefoto Schauspielhaus Bochum / Armin Smailovic.
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BOCHUM. Lässt man/frau mal Düsseldorf als Schreibtisch des Ruhrgebiets mit seiner Neuen SchauspielGmbH am Gustaf Gründgens Platz (anderswo heißt sowas Staatstheater) außen vor, so lassen die Bühnen der drei maßgeblichen Großstädte im Revier jeweils völlig anderes Vorgehen (zwecks Publikums-Wiedergewinnung nach Covid) zu Spielzeit-Beginn sehen:

In Dortmund wurde aufgrund auch ansonsten nicht blühender Besucher-Zahlen die Nichtverlängerung der Schauspielchefin Julia Wissert erwartet, doch Stadtparlament und insbesonders Kulturausschuss respektierten fortschrittliche und emanzipative Signale gesellschaftlicher Moderne und – wie böse Zungen sagen hauptsächlich – das Einwerben von Fremdmitteln für ihre Vorhaben. In Essen fängt mit Co-Intendantin die von Johan Simons aus Bochum kommende Selen Kara ebenso betont feministisch nach den Jahren der bewussten Stadttheater-Strategie so neu an, das man insgesamt sehr positiv etwa auf einen weiblichen Faust reagiert hat. Mal vom Covid-Einbruch abgesehen verglich der nicht verlängerte Essener Schauspiel-Intendant Tombeil zum Abschied (neidisch auf die Bochumer Preise und Auszeichnungen für Simons und auch dessen Schauspieler:innen) sinngemäß seine lokale Besucherstatistik mit den überregionalen Ehrungen der Nachbarstadt. Tatsächlich gab es nach den ersten Jahren des Bochumer Fünf-Jahres-Vertrages Grummeln bei den Bochumer Stadtvätern genau über das in gleicher Form ausbleibende lokale Echo und Peymann wie Haußmann wurden zum Vergleich herangezogen, die diesen Spagat besser geschafft hätten – vor Ort gut besucht UND in der Branche künstlerisch angesehen.

Wie nun sieht (neben einer Umstrukturierung in der Leitung des Hauses) die Reaktion von Johan Simons aus – anders als die Schauspiel-Sparten in Essen und Dortmund ist sein Theater ein reines Schauspielhaus wie Düsseldorf:

Simons gab seinen Mammut-Spielzeit-Einstand mit „Brüder Karamasow“:

Hier sollte also „das Publikum“ mal wirklich abgeholt werden! Das durch die Coronazeiten ein wenig entfremdete Theater-Publikum wurde mit einem Sieben-Stunden-Event ins Theater gelockt, das sich mit jeder Binge-Watching-Serie messen lassen kann. Und tatsächlich: Die Zeit verging unter Nutzung zweier Bühnen (Großes Haus und Kammerspiele) bei einer Mammut-Vorstellung irgendwann wie im Fluge:

Der Stoff ist klug gewählt, denn Dostojewskis Romanvorlage über diese Brüder Karamasow bietet alles, was auch „Hardcore-Game-of-Thrones-Fans“ lieben: Sex and Crime satt. Und natürlich bleibt auch alles in der Familie. Denn was gibt es Inzestuöseres als die gleiche Frau wie Pappa zu lieben? Oder noch intimer: Den Vatermord? Und es gibt sogar einen echten weißen Schattenwolf auf der Bühne, wenn auch einen sehr lieben (hier verkörpert von Coco Simons, dem Hund des Theaterchefs).

Intendant und Regisseur Johan Simons hat mit seiner neu aufgerückten Chefdramaturgin Angela Obst aus Dostojewskis (selbst als Taschenbuch noch über 1000 Seiten langen) Roman „Die Brüder Karamasow“ ein wahres Rollen-Fest für „seine“ Schauspieler und Schauspielerinnen destilliert. Was das bewusst diverse Ensemble nach Kräften umsetzen will, jede/r für sich. (Der bisherige Chefdramaturg fungiert ab dieser Spielzeit als Künstlerischer Direktor des Schauspiels unter/neben Intendant Simons und ein Schauspieler wurde beratend in die Leitungsebene aufgenommen, eine bisherige stellv. Intendantin war gegangen. Der satzungsgemäß für einen zweiten Fünfjahreszeitraum vorgesehene Intendantenvertrag wurde einvernehmlich für drei Jahre verlängert.)

Traum- und Alptraum-Rollen für alle!

Religiöser Wahn kollidiert mit Liebe und tödlichem Hass. Die Brüder stehen in ihren jeweils brilliant ausgespielten neurodivergenten Eigenarten ihrem Erzeuger in nichts nach.

Egal ob sie sich wie Bruder Aljoscha der Religion verschrieben haben - großartig in seiner Verklemmtheit als Klosterschüler und zu Recht auch „Schauspieler des Jahres“: Dominik Dos-Reis.

Oder ob sie der Vernunft und Ratio anhängen wie Iwan- exellent und als gottloser Spielmacher tragender Mittelpunkt der ganzen Story: Steven Scharf.

Auch Oliver Möller räudig-rau als Bastard-Sohn Smertjakow definiert sich komplett eitelkeitsfrei in absoluter Über-Unterwerfung.

Und nicht zuletzt der durch Drogen aller Art verstärkte Hedonismus, samt Ausraster beim ältesten Sohn Mitja (im immer abgeranzter werdenden Gucci-Jogging-Anzug: Victor Ijdens) bieten dem Vater die Stirn.

Der reiche und ein bisschen eklige Vater Karamasow ist ein versoffener Lüstling (Pierre Bokma vielleicht doch eine Spur zu nett und „zu wenig Stalin“) hat sich erstens nie um seine vier Söhne gekümmert, die - fast selbstverständlich - alle schon als Knaben ihre jeweilige Mutter verloren haben und von irgendwelchen lieblosen Leibeigenen aufgezogen wurden.

Dass Pappa Karamasow sie zweitens zudem auch noch alle knapp hält und sie gegeneinander ausspielt, versteht sich roman-dramaturgisch von selbst. Und krankhaft misstrauisch ist er auch noch! Das Klostergeld für Aljoscha, der seiner spirituellen Meisterin Stariza Sossima  (Elsie de Brauw) ins Kloster folgen will (Ras-Putin, ick hör dir trapsen!), wird er wohl nicht zahlen... Folge: Die Stariza schickt Aljoscha weg. Sie sieht jetzt plötzlich keinen Weg mehr für ihn im Kloster. Er solle doch besser seinen Vater und seine Brüder beschützen.

Im lack-weißen Kloster gibt es im Altarbereich des Gesamt-Bühnenbilds von Wolfgang Menardi eine Video-Fläche im wandgroßen Handy-Format mit Lücken, die als Teile im Kloster verstreut an den Wänden lehnen. Hier sieht man schon mal Ausschnitte aus der Karamasow-Küche (die sich in den Kammerspielen nebenan befindet, die wir als Zuschauer im Rahmen eines zweimaligen Schauplatz-Wechsel spannenderweise hinterbühnenwegs begleitet besuchen werden.).

Und auch Gruschenka, taucht schon mal auf. Mitjas große Liebe, für die er seine Verlobte verlassen will. Gruschenka aber ist halt nun leider auch mit seinem Vater liiert... Anne Rietmeijer jagt als ADHS-Wirbelwind im bunten Blumenzipfelrock durch das Stück und durch die Küche. Eifersucht - dein Name ist Karamasow.

Das Publikum (vom Kaufmännischen Direktor formal Jeder für eine Vorstellung mit zwei Karten versehen für Großes Haus und Kammerspiele mit also identischer sowie gleichzeitiger, bezahlter Platzausnutzung), verbringt den ersten Teil der Aufführung im Großen Haus und wird dann durch das beeindruckende Bühnenbild - einer eleganten Kloster-Landschaft mit russischen Einsprengseln - geleitet und (wie sonst nur den Darstellern samt Team gestattet) durch die Seitenbühne ins Foyer der Kammerspiele geführt. Hier gibt es während einer ersten Pause Getränke, Brezeln und auch Zeit zum Toiletten-Besuch der „Games-of-Sons-Teilnehmer“. (Die zweite Karte für die Kammerspiele kommt nun zum Zug – und jetzt versteht auch der Letzte, warum im Großen Haus die Seiten-Bestuhlung abgehängt wurde, ein identisches Platzangebot in beiden Häusern geschaffen wurde.). Und voilà, wir sind in den Kammerspielen in der runtergekommenen Küche der Karamasows angekommen:

Warum eine Küche?

Johan Simons beim Pressegespräch vor der Aufführung: „Weil in der Küche die wichtigen Gespräche statt finden. Nach der Party! Und zwar um zwei Uhr nachts. Da sagt man sich die Wahrheit.“

Die Wahrheit wird in dieser Küche dann auch heraus geschrieen, geflüstert oder zärtlich-besoffen kundgetan. Steven Scharf läuft zu Hochform auf. Als er begreift, dass alle seine Pläne, auch seine heimliche Liebe zur Bruder-Verlobten vor seinen Augen zerbröseln, schreit der sonst immer lösungsoriente Vernunft-Erklärer weidwund auf und endet in irrem Lachen. (Schon in „Woyzeck“ hat er den „schreienden Irrsinn“ so großartig verkörpert, dass er 2019 für die Wiener Aufführung den Nestroy-Preis bekommen hat. Auch dieses Simons-Werk nun hier in Bochum, Jahre später nach Wien als Übernahme unbedingt ansehen!)

“Winter is coming”:

Nach der Essens-Pause im Mittleren Foyer des Großen Hauses auf Bierbänken mit Borscht, Gemüsekuchen und Panna Cotta (im Eintrittspreis enthalten), sind alle wieder zurück im inzwischen dank der Bühnentechnik edel eingeschneiten Kloster im Großen Haus – Doktor Schiwago lässt grüssen. Die Hölle ist in Russland bekanntlich sehr kalt. Auch der böse Vater liegt irgendwann tot im Schnee... Ja, und dann geht es für Steven Scharfs Iwan mit dem Teufel selbst (Elsie de Brauw als weitere Rolle) ans Eingemachte:

Warum ist der Mensch böse?

Warum tut der Mensch das seinesgleichen an? Warum lässt Gott das zu? Gibt es einen Gott ? ... und da hat sich doch tatsächlich, beinahe unauffällig und in bester Traumlogik auch der Bezug zur Gegenwart eingeschlichen. Ja, warum ist der Mensch böse? Vielleicht, weil er es kann? Und weil mensch ihn lässt?

Auch die handverlesenen anderen Figuren des Karamasow-Kosmos, die es in dieses Stück geschafft haben, beeindrucken mit ihren jeweiligen hoch-emotionalen Ausbrüchen: Jele Brückner als Mme Chochlakowa, Danai Chatzipetrou als Tochter Lise Chochlakowa und Konstantin Bühlerals Nikolaj Ilijtsch Snegirjow.

Und noch eines gehört sich erwähnt zu diesem ungewöhnlichen Theaterabend im Rahmen der so unterschiedlich an unseren Bühnen vorgenommenen Nach-Covid-Initiative „Publikums-Wieder- und Neu-Gewinnung“:  Die Kostüme von Katrin Aschendorf sind wirklich gelungen. Massgeschneiderte, inhaltsverstärkende und den Schauspielern und Schauspielerinen in ihren Rollen einen wirklichen Rahmen gebende textile Bühnenkunst!

Der Applaus war überwältigend. Ungezählte Male kam das Ensemble an den Bühnenrand und wurde gefeiert. Zuschauer können kommen zu den Brüdern - zum Wandern und Wundern.  cd

Autor:

Caro Dai aus Essen-Werden

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