Familiengeschichte nach und durch NS Staat

Familiengeschichte nach dem NS Reich
( Um die Gegenwart zu verstehen, muss man die Vergangenheit besehen.)
Ich sollte der Familie keine Schuld geben, warum sie in dieser Weise handelte, will es auch nicht als Rechtfertigung für mein Leben benutzen, auch wenn Ursache und Bedingung wie in einem Netz zusammenhingen. Wieso eine Familie destruktiv und vernichtend sein konnte, trotz Bürgerlichkeit und Religion, ist nur durch die allgemeinen Geschehnisse zu sehen, die keiner wollte und jeder mitmachte.
Ich kann dem nur soweit nachgehen, wie ich die historischen Gegebenheiten einbeziehe, so spärlich sie sich in meiner Spurensuche auch gestalten, sowie der Widersprüche in einer Religion, die dazu beitrug, zu verschleiern und zu verschweigen, was dringend gesagt werden musste.
Oma, meine Vertraute in der Familie, mit einem festen Haarknoten im Nacken, immer korrekt und mit viel Goldenem geschmückt, war vor 1900 geboren, charakterfest, obwohl drei ihrer Brüder im ersten Weltkrieg an der Front starben. Man verurteilte sie, weil man in dieser Familie alles verurteile, als streng und hart und keiner mochte sie, doch mir gab sie Halt, ehrlich in ihrem Wort und für sie war ein Ja ein Ja und ein Nein ein Nein. Wie in der Bürgertlichkeit üblich, hatte sie ganze Schränke mit gestickten Decken und Kissen gefüllt, und zweimal im Jahr, vor Weihnachten und vor Ostern, machte sie einen Großhausputz, indem sie alles aus den Schränken räumte. Bis ins hohe Alter war sie geistig rege und las regelmäßig die Zeitung.
In meiner Uni fotografierte ich ihr altes Bügeleisen mit der Bewunderung, wie Frauen früher die Kraft aufbrachten, den Innenkern mit einer Zange aus dem Feuer des Kohleofens zu holen und dann mit diesem schweren Gebilde zu bügeln. Ich schenkte Oma ein Foto davon. Jahrelang hatte das Bild ihres Vaters, einem steifen Mann mit einem Schäferhund, auf dem Buffet gestanden und nun hatte sie es gegen meine Fotografie getauscht. Ich war sehr stolz darauf. Als sie im Sterben lag, sagte sie zu mir: „Es fällt so schwer, stille zu werden.“ und ich küsste ihre Hand.
Sie lehrte mich Sprüche wie:
Sage nicht, das kann ich nicht,
vieles kannst du wills die Pflicht,
alles kannst du wills die Liebe,
drum dich stets in beidem übe...

Opa war ein kleiner lustiger Sachse mit Glatze und Hitlerbärtchen und erhielt im ersten Weltkrieg eine große Narbe auf der Stirn und ein Glasauge und einen schönen sächsischen Orden. Saß er am Tisch, trommelte er mit den Fdingern den Radetzki Marsch und pfiff dazu durch die Zähne. In der Familie hatte er nichts zu sagen, was ihn in seinem sächsischen Humor wenig störte. Er vergaß oft, zu denken, und das Vergessen ließ ihn immer mehr vergessen. Er bekam Alzheimer. Ob sein damaliges Kriegstrauma damit zu hatte?
Gegessen, nein mehr getafelt, wurde auf einem weiß gestärktem Tischtuch, mit weißen Stoffservietten meinen passend dazu gestickten Serviettentaschen an einem großen schwarzen Eichentisch mit hochlehnigen unbequemen Stühlen. Im feinen weißblauen Service trank man Tee und die Großeltern schütteten immer ein Schlückchen Rum dazu.
In der Ecke unter dem Harmonium, über dem im schwarzen Lackrahmen die Bach Familie thronte , fand ich ein Liederbuch, in dem viele Seiten professionell überklebt worden waren. Warum, wozu, wusste ich nicht und fragte nicht. Ich hatte noch keinen Begriff über die dunkle Zeit und alles wurde standhaft verschwiegen. Niemand schien sichzu erinnern, als habe der Krieg nicht statt gefunden, das Grauen, das doch jeden betroffen und in dem jeder mitgemacht hatte.
„Was war im Dritten Reich ?“ Darauf gab es in der Familie keine Antwort. Es kursierten kleine dumme Geschichten ohne Wahrheitsgehalt über eine eigene Wehrhaftigkeit, ein Nicht Mitmachen, was in der damaligen Zeit unmöglich gewesen war, doch man gab vor, niemals Täter, immer nur Opfer gewesen zu sein. Es war gelogen.
Ich mühte in Aufzeichnungen und spärlichen Erinnerungen zu erkennen, was wirklich geschehen war. Die evangelische Kirche hatte sich im Glauben an Luthers Zweireiche Lehreschnell und unkritisch mit dem NS System verbunden und seit etwa 1935 wanderten evangelische Christen des Kleinbürgertums, wozu die Familie gehörte, vom Christenkreuz zum Hakenkreuz über, um nach dem Krieg schnell wieder zum Christenkreuz zurück zu wandern. Damals war der Führer für Protestanten wichtiger als Jesus gewesen, ein neuer Heiland, der Wohlstand durch Krieg und Sieg bringen sollte, im Wahn einer neuen Religion.
Jeden Sommer fuhr die Familie nach Borkum in ein Ev. Freizeitheim. Auf den beliebten Spieleabenden  begeisterte man sich bei der "Reise nach Jerusalem" um den Privatbesitz des letzten Stuhles oder man spielte eine Scharade, in der Regel zumeist "Die letzte Frisst".
Auch diese Insel war vom Krieg nicht verschont geblieben, im Gegenteil, sie sollte zu einem rein arischen Gebiet gestaltet werden. Als ein englisches Flugzeug am Strand abstürzte, wurde die Besatzung der englische Soldaten durch das Dorf getrieben und dann, gegen alle Konvention, ganz plötzlich erschossen.
In unserer Stadt hatte es auch ein KZ gegeben, eine Außenstelle von Buchenwald, in der die Insassen im Stahlwerk für die Rüstung arbeiteten und Opa im Büro saß. Die Gefangenen wurden öffentlich durch die Stadt getrieben, es gab Enteignungen, nächtliche Fackelumzüge und die Synagoge brannte nieder und auch in unserem späteren Gymnasium gab es einen Folterkeller. Das KZ war eine zeitlang bis auf einen unbedeutenden Stein auf einer Wiese unsichtbar gemacht worde, erst später nahmen sich Schulgruppen dem an. Ich hatte Mutter danach gefragt, aber sie wollte sich nicht auf das
Gespräch einlassen, reagierte zögernd, ausweichend, abweisend, und sagte dann nur recht knapp: „Ja wir wussten es. Aber man redete nicht darüber.“ Hatte meine Frage einen unerwarteten Schock ausgelöst, der ihr Atem und Worte raubte.
Ob das Verhalten nun christlich oder faschistisch war, in beiden dieser Ideologien und Religionen hielt man sich für die auserwählte einzig erfolgreiche Rasse. Nach dem verlorenen Krieg wurde den Nachgeborenen vermittelt, Hitler habe die alleinige Schuld gehabt, und historische Gegebenheiten, kollektive Schuld wurden nicht nur ausgeblendet, sondern verdreht und verleugnet, die eigene Verantwortung nicht gesehen und fortgeschoben. Auch das waren Lügen.
„Wählen Sie uns! Wir kümmern uns um Ihre Gedanken.“ sagten Kirche und Staat, denn Krieg bedeute, sich mit der Grausamkeit vertraut machen, Krieg sei etwas sehr Positives, das Siegfrieden brächte.
Auch die heimlich gehörten ausländischen Sender änderten nichts an der Verbohrtheit der deutschen Ohren auf der Schlinderbahn in den Abgrund, denn wenn der Geist vernebelt ist, der blinde Fleck Oberhand gewinnt, hilft keine noch so wahre Wahrheit. Das Gedächtnis wurde in religiös verbrähmter Amnesie abgeschaltet, Offensichtliches kam nicht zur Sprache, wurde verzweifelt unterdrückt, doch in den Nachgeborenen lebte weiter eine geahnte dubios unterdrückte Bösartigkeit der Eltern.
Trauma Therapien für die Bevölkerung, um das Unverarbeitete hervorzuholen und loszuwerden, gab es damals nicht, erst für amerikanische Soldaten nach dem Vietnam Krieg, Die Bevölkerung und die Soldaten bekamen im großen Maße Pervition zum Kampf und zum Überleben.
Vaters Familie kam aus Ostpreussen, doch ich lernte die Oma nicht kennen und wie immer wurde es verschwiegen. Vaters sehr viel jüngere Schwester arbeitet bei uns im Gasthaus, doch da Mutter sie als dumm und ungebildet verachtete, floh sie später in die Schweiz.
War Mutter wirklich SS Helferin gewesen, die den Soldaten feindliche Luftangriffe angezeigt hatte? Bei ihr wusste man nie, was stimmte und was nicht, denn in ihren blumigen Erzählungen fehlte eines, und das war die Wahrheit. Ihr Bruder als Flieger war vor einem letzten Kamikaze Flug von seinem Oberst verschont worden, wie er erzählte.
Wieso aber Mutter nach dem Krieg in Bielefeld Bethel gewesen war? Die Institution hatte den Ruf, in der NS Zeit am T4 Programm der Eutanasie beteiligt gewesen zu sein und hatt ebenso nach dem Krieg Nazileute beherrbergt. Mutter erzählte, sie sei Gemeindehelferin gewesen, mit einer Ausbildung zur Kathechetin, doch in jener Zeit war Kathechetin keine Ausbildung und brauchte nur die Bestätigung der Kirche oder des Pfarrers.
Mutter flüchtete in die Kirchenarbeit, bekam guten Erfolg, Anerkennung, und Status, besänftigte sich mit Dogmen, Liedern und Chorälen, auch wenn ihre äußere Gläubigkeit im Innern kaum vorhanden war. Sie wollte die Religion lehren, nicht aber auch noch in ihr wohnen. denn in ihren wechselhaften Launen und Rollen war sie unvorhersehbar, willkürlich, auch brutal.
Die alten Briefe zeigten ihre Unfähigkeit, alleine zu hause zu sein, nicht weggehen zu können, ihre Einsamkeit, vielleicht auch ihre Leere. Für sie war es wie eine Qual, nicht unter Menschen zu sein, sie brauchte zum Auftanken die Energien anderer Personen.
In der Familie war das  Schwarz Weiß Denken sehr üblich, man gab sich zynische sarkastische Bemerkungen zum Aufbau des eigenen Egos und zur Vernichtung anderer hin und her, was als Scherz gedeutet wurde aber kein Scherz war.
War diese dunkle Macht und Moral der Familie nun kirchlich, bürgerlich, faschistisch, rassistisch oder alles insgesamt? Illoyal war sie in jedem Falle, in einem dogmatisch brüchigen Gebäude, einer Ruine maroder Tugenden, die in den Bunkern des Egos, und das war enorm, nicht gelebt wurden.
Und wieso kam ich ausgerechnet aus dieser Familie? Hatte sich der Himmel bei meiner  Geburt geirrt?
„Ein Machtmensch“ sagte man von Mutter. - „Eine böse Frau,“ - munkelte man, denn wie Wilhelm Reich sagen würde, war sie in einem Charakterpanzer eingeschlossen, unfähig zu konstanten Gefühlen. Nur an Weihnachten, Mutters Fest, wenn sie „Ihr Kinderlein kommet“ auf dem Klavier spielte, das Glöckchen klingelte, und die frohe Botschaft verkündete, die niemand hören wollte, kam es  in süßlicher Konvention zu einer Art Frieden oder Waffenstillstand. Sie hielt sich für fröhlich, mein Arzt hielt sie für hysterisch. Mutter lehnte Männer ab, weil ihre kurze Ehe das Ideal gewesen sei, oder sie erklärte ihre kurze Ehe zum Ideal, weil sie Männer ablehnte, das war nicht eindeutig.
Wie ein Eilzug raste sie durchs Leben, ohne Ruhe, ohne Stille, denn dort könnte ja etwas auftauchen, dem sie nicht gewachsen gewesen wäre.
Sie erzählte aus der Kriegszeit, wie sie im Eifer, religiös- oder kriegsbedingt, man wusste es nicht, jeden Abend die Luther Bibel gelesen habe und immer, wenn sie sie aufschlug, sei die gleiche Stelle erschienen, die ihr zeigte, sie solle sich der Kirche widmen. Ob das nun ein Knick im Buch oder eine göttliche Eingebung gewesen war, ließ sich nicht in Erfahrung bringen, denn es fehlte immer etwas Entscheidendes - und das war die Wahrheit.
Sie glaubte, nur katholische Mädchen trügen Ohrringe, nicht die protestantischen, doch ich erfuhr in einem Bericht der NS Zeit, dass Frauen ihren Schmuck ablegen und auch keine Ohrringe tragen sollten. Ihre Idee war also mehr faschistisch als anti-katholisch gewesen.
Silvester saß sie bibellesend im Wohnzimmer, ihre Angst vor Knallem und Raketen trat hervor und auch hatte dies seltsamerweise in mir, als sei die Angst übertragen worden. Ich ging auf den Dachboden, um das Feuerwerk anzuschauen, war verloren und alleine in der großen Welt.
Als Vater mit 36 Jahren starb, war ich Fünf, geschwächt und kaum getröstet, da Mutter anscheinend meine Trauer nicht ertragen konnte, zumal ich Vater und seiner Familie sehr ähnlich war, und so unterband sie meine Gefühle, meine Trauer und begann, mich abzulehnen.
Die Familienlegende besagte, Vater sei durch Rheuma an der Front krank geworden, eine romantische Verklärung in den Gräben Russlands, denn nach Passbildern hatte er eine höhere Position im Nazi System gehabt. Mutter erzählte, er sei Rechtsanwaltsgehilfe gewesen, was die Realität nach den Fotos zu urteilen, verschleierte, denn in der Nazizeit gab es viele Justizreferendare, was eher den Tatsachen entsprochen hätte.
Mutter hatte kaum über ihn gesprochen, nur, er sei streng, verschlossen und schweigsam gewesen und ich hätte den gleichen „Ostpreußischen Dickschädel“ wie er und ich fragte mich, ob das ein Kompliment oder eine Beleidigung war.
In einer NS Ausstellung sah ich das Foto eines Soldaten und da ich zwei Passfotos von Vater, beide in Militäruniform, hatte, bemerkte ich, dieser Soldat trug die gleiche Kappe wie Vater, nämlich die der SS oder SA. Mir verschwamm die Welt zu einer Fälschung der Gegenwart bei dem, was ich da gerade erfahren hatte. Ich wusste nichts über Vater, ein Soldat, ein Nazi, lange krank und verstorben, doch da sah ich, dass er in seinem Verhalten zu liebevollen und zärtlichen Gefühlen fähig war, was er in mein Babytagebuch schrieb.
Wie lange der faschistisch Nachklang noch existierte?
Hat er jemals aufgehört, als habe er im Boden der Sandwüste nur geschlafen und benötigte jetzt erneut frisches Wasser, um wieder zu erblühen? Täter und Opfer von einst waren gemeinsam bestrebt, die Geschichte umzuschreiben oder zu verleugnen, in eine Realität, die niemals so stattgefunden hatte. Sie sollte sich in in die Köpfe bohren, um sie im Außen zu verkünden, doch im Inneren brannte das wirkliche Leid wie ein unerkanntes Geschwür und wurde an die Nachfolgenden weiter gegeben.
So ging es, von Leid zu Leid und Krieg zu Krieg.
Pfarrer Dietrich Bonhoeffer sprach von der Dummheit der Leute, der von Propaganda dumm Gemachten, die in ihrer Ignoranz schlimmer als die aktiv Bösen seien, zumeist bockig und ohne innere Selbständigkeit.“ 
Wenn die Nichtwisser Gott spielen, weil sie ihn verloren haben, sowie alte Werte, ob christlich oder humanistisch, und westliches und östliches Wissen, das ja doch einmal etwas taugte, jetzt in den Mülleimer der Rationalität geworfen wird.
Vaters liebevolle Zeilen  im Babytagebuch:
"Du kommst mir auf dem Flur entgegen. Kein Halten gibt es. Den Klingelknopf magst du besonders gern. Er kommt gleich nach den Schüsseln im Küchenschrank. Auch Papas Tasche und Hut magst du. Der Hut passt dir doch auch schon fast. Anfangs nahmst du ihn sofort von deinem Köpfchen, wenn er sich darauf verirrt hatte, nun weißt du, dass er schick ist, der Spiegel zeigt es, und rührst dich nicht vor Andacht. Böse Menschen wollen wissen, dass daraus die Eitelkeit entsteht. Soll man das glauben?...."
Wie St. Exupérie schrieb er über die großen Leute, die die Kleinen oft nicht verstanden:
Was für ein Eifer als du zum ersten Mal im Sandkasten bist ... Plötzlich darf man sogar mit - Dreck – spielen. Im Kohlenkasten ist das strengstens verboten... Ja, so sind die großen Menschen.“
Auf seiner Beerdigung sprach man von Gnade in einem unaufhörlich rezitierten Mantra. Wenn ich auch nichts von ihm weiß, so blieben mir doch die gefühlvollen Zeilen wie ein Erbe.
Menschen sind Yanusköpfe. Auch wenn sie das Gute wollen, bleibt ein Rest Böses vorhanden, oder auch umgekehrt, wie schon der Apostel Paulus sowie Luther und Schopenhauer, auf ihn bezogen, sagten.
Niemand ist nur das Eine, auch keine noch so verrückte oder besser gesagt geschädigte Familie, auch keine noch so verurteilte Weitergabe. Viktor Frankl sagte einmal - Trotzdem Ja zum Leben sagen...weil das Leben alle angeht, jetzt, hier und in Zukunft.

Autor:

Ingrid Dressel aus Bochum

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