"erfasst, verfolgt, vernichtet": Ausstellung zur Ermordung kranker und behinderter Menschen im Nationalsozialismus jetzt auch in Bochum
„Aktion T4“ - für den arglosen Leser mag das zunächst harmlos klingen. Doch hinter dieser von den Nationalsozialisten gewählten Tarnbezeichnung verbirgt sich ein bis heute wenig beachtetes Verbrechen: 120.000 Behinderten und psychisch Kranken wurde im Rahmen der Aktion und der folgenden „wilden Euthanasie“ ihr Leben genommen. Die Opfer wurden durch Gift, überdosierte Medikamente oder Gas getötet. Kinder ließ man teilweise qualvoll verhungern.
Die Wanderausstellung „erfasst, verfolgt,vernichtet. Kranke und behinderte Menschen im Nationalsozialismus“, die jetzt auch in Bochum zu sehen ist, erinnert an diese Opfer, aber auch an die Täter. Und das waren die, die eigentlich dem Erhalt des Lebens verpflichtet sind, nämlich Psychiater und andere Ärzte sowie Angehörige der Pflegeberufe. Eröffnet wurde die Wanderausstellung ursprünglich 2014 im Deutschen Bundestag unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten, Joachim Gauck. 280.000 Besucher haben die Ausstellung seit 2014 gesehen.
Die Aktion T4 – von Hitler persönlich 1939 legalisiert – endete offiziell im Spätsommer 1941. Das Morden ging allerdings weiter. Prof. Frank Schneider, früherer Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), der die kritische Auseinandersetzung seiner Zunft mit der eigenen Geschichte 2010 angestoßen hat, aus der die Wanderausstellung entstanden ist, verweist auf ein weiteres schweres Unrecht: „Bis zu 400.000 Menschen wurden wegen angeblich minderwertigen Erbguts zwangssterilisiert. Die Betroffenen litten ihr Leben lang unter massiven Beeinträchtigungen.“
NS-Euthanasie hatte eine lange Vorgeschichte
Dabei war die Diskriminierung angeblich Minderwertiger nicht erst ein Produkt des Nationalsozialismus' und beschränkte sich auch keinesfalls auf Deutschland. „Aussonderung“, ordnet Eckhard Sundermann, Vorsitzender der Kommunalen Inklusionskonferenz Bochum, ein, „hatte eine jahrhundertelange Tradition. Bemühungen um eine echte Integration von Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen gibt es erst seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Bis dahin war die Unterbringung in großen Anstalten üblich, denn was uns fremd ist, haben wir nicht gerne bei uns.“ - Prof. Georg Juckel, Ärztlicher Direktor des LWL-Universitätsklinikums Bochum, ergänzt: „Eugenik, also Erbgesundheitslehre, war ein europäisches Phänomen.“
Für diejenigen, die die nationalsozialistische Verfolgung überlebten, setzte sich der Leidensweg nach 1945 häufig fort. Ein Beispiel ist der 1935 geborene Paul Brune. Im Alter von acht Jahren wurde der angeblich Geisteskranke in die Heilanstalt Dortmund-Aplerbeck eingewiesen. Hier entging er nur knapp der „Kindereuthanasie“. Erst 1957 wurde seine Entmündigung aufgehoben. In Bochum studierte er schließlich Germanistik, Philosophie und Sozialwissenschaften, um sich seinen Berufswunsch zu erfüllen: Er wollte Lehrer werden. „Psychiater verhinderten“, erzählt Dr. Jörg Kalthoff, bis 2014 Psychiatriekoordinator in Bochum, „dass er seinen Beruf ausüben konnte. Dabei hatte er alle Prüfungen bestanden.“
Viele in den Nationalsozialismus verstrickte Psychiater konnten ihre Karriere nach 1945 fortsetzen
Einen möglichen Grund für diese nach 1945 fortbestehende Stigmatisierung nennt Juckel: „Die Karrieren der in den Nationalsozialismus verstrickten Psychiater gingen nach 1945 nahtlos weiter.“ Die Wanderausstellung widmet sich daher auch dem Verdrängen dieses „dunkelsten Kapitels der Psychiatrie“, wie es Bürgermeisterin Astrid Platzmann-Scholten bei der Auftaktveranstaltung zur Ausstellung formuliert.
Das Gedenken an die Opfer allein ist Grund genug für die Wanderausstellung. Mit ihr verbinden sich jedoch auch politische Zielsetzungen.Eckhard Sundermann führt aus: „In Teilen der Bevölkerung ist der Begriff des Völkischen wieder diskutabel. Das ist alarmierend. Es stellt sich die Frage, wie tragfähig der Konsens, dass jedes menschliche Leben gleich hoch zu bewerten ist, tatsächlich ist. In dieser Situation sind Integration und Inklusion Themen von elementarer Bedeutung.“ - „Die Wertschätzung des Patienten muss stets der Hintergrund der psychiatrischen Arbeit sein“, ergänzt Juckel. - „Mediziner“, resümiert Frank Schneider, „sollten sich bewusst sein, wie viel Macht sie haben.“
Ausstellung und Begleitprogramm
Die Ausstellung „erfasst, verfolgt, vernichtet“ ist in der Kundenhalle der Sparkasse Bochum, Dr.-Ruer-Platz 5, zu sehen. Bis zum 21. Oktober kann sie jeweils montags bis mittwochs und freitags von 9 bis 16 Uhr und donnerstags von 9 bis 18.30 Uhr besucht werden.
Im Rahmen des Begleitprogramms zur Ausstellung findet am Dienstag, 27. September, um 18 Uhr in der Pauluskirche, Pariser Straße 4, ein Vortrag zum Thema „Die Geschichte der Euthanasie im Nationalsozialismus und die Bedeutung für heute“ statt.
Am Dienstag, 25. Oktober, folgt um 18 Uhr ein weiterer Vortrag in der Pauluskirche. Thema ist „Stigmatisierung psychisch kranker Menschen heute“.
Auch eine Gesprächsrunde zum Thema „Von der 'behindertenbefreiten Zone' zum Leben mitten unter uns – Zur Geschichte der psychiatrisch-psychosozialen Versorgung in Bochum der letzten 50 Jahre“ ist geplant. Sie findet am Dienstag, 8. November, um 18 Uhr in der Pauluskirche statt.
Der Abschlussvortrag „NS-Euthanasie und die aktuelle Kontroverse zur ärztlich unterstützten Patientenselbsttötung in Deutschland. Historische und ethische Perspektiven“ ist für Dienstag, 15. November, 18 Uhr in der Pauluskirche vorgesehen.
Der Eintritt zu allen Veranstaltungen ist frei. Anmeldung per E-Mail an forschungundlehre@lwl.org.
Zusätzlich gibt es eine Filmvorführung am Dienstag, 22. November, um 18 Uhr im Clubraum der VHS, Gustav-Heinemann-Platz 2-6. Gezeigt wird „Paul Brune. NS-Psychiatrie und ihre Folgen“. Auch der Besuch dieser Veranstaltung ist kostenfrei.
Autor:Nathalie Memmer aus Bochum |
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