Eine Geschichte von Meer, Delphinen und Freundschaft

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Eine Geschichte von Meer, Delphinen und Freundschaft

(aus meinem Zyklus "Bulgarische Anekdoten")

Es war einmal ein alter Mann, der jeden Morgen einen Spaziergang am Meeresstrand machte. Eines Tages traf er einen kleinen Jungen, der ständig unverwandt auf das Meer blickte, so als wenn er da draußen etwas ganz Bestimmtes suchen würde.

„Hallo mein Junge! Sag mal suchst du etwas da draußen auf dem Meer“?
„Meine Mama hat gesagt, dass es hier Delphine gibt. Und ich möchte zu gerne mal welche sehen. Die sollen so lustig sein...“
„Das stimmt – die sind wirklich sehr lustig, wenn sie spielen. Ich habe schon viele gesehen, denn ich war einmal Seemann in meinen jungen Jahren. In südlichen Gefilden waren sie oft Begleiter unseres Schiffes über viele Seemeilen. Sie schwammen vor dem Bug, sprangen ab und zu, tauchten ab und schienen nie müde zu werden“.
„Oh, das würde ich zu gerne einmal sehen und ich würde mich auch von den Fischen ziehen lassen. Das tun die doch“?
„Auch das tun sie, denn sie sind sehr gelehrig aber keine Fische“!
„Aber sie sehen doch aus wie Fische“.
„Das stimmt. Dennoch gehören sie in die Familie der Wale und Wale sind Säugetiere, denn sie bekommen lebende Junge. Genaugenommen nennt man sie Meeressäuger“.
Die See war heute tiefblau, ganz leicht bewegt und der Himmel von solch einem azurblau, wie man das nur ganz selten erleben kann. Kleine weiße Kumuluswolken schwebten am Himmel und gaben dem Panorama ein ganz friedliches Aussehen.

„Weißt du was“? sprach der alte Mann, „Wenn es deine Mutter erlaubt nehme ich dich morgen früh mit auf mein Boot. Wenn wir Glück haben, begleiten uns dann auf See einige Delphine. Aber ziehen werden wir uns nicht lassen können. Auf hoher See ist das zu gefährlich.
„Mutti, Mutti“! rief der Junge jetzt einer, sich barfuß in Shorts nähernden jungen Frau zu. „Ich darf morgen mit dem Mann hinaus fahren und Delphine beobachten. Bitte, bitte Mutti darf ich“?
„Nein, das geht nicht. Du weißt doch, dass ich dich nie allein aufs Meer fahren lassen würde“!
„Sie können gerne auch mitkommen“ sagte der alte Herr. „Es ist genug Platz auf dem Boot“!
„Hmmm, ich weiß nicht. Sie sind ein wildfremder Mann und außerdem habe ich einen riesengroßen Respekt vor dem Wasser, um nicht gleich von Angst zu sprechen“.
„Solange sie keine Angst vor mir haben ist das OK. Tun sie dem Jungen doch den Gefallen! Er wünscht es sich so sehr“.
„Ich habe meine Gründe“!
„Bitte Mutti – biiiitte“!
„Du kannst noch nicht richtig sicher schwimmen“!
„Auf dem Boot gibt es bestimmt Schwimmwesten“.
Fragend blickte die besorgte Mutter den alten Mann an.
„Ja, natürlich gibt es Schwimmwesten für alle an Bord. Ich würde niemand ins Boot nehmen ohne dass er die Weste anzieht“.
„Na gut, wir können es ja versuchen“.
„Dann schlage ich vor, wir treffen uns morgen früh um 10,00 Uhr an der Pier des Yachthafens. Einen angenehmen Abend noch“, verabschiedete sich der Mann von den Beiden.

„Jetzt schlafe aber endlich“! ermahnte die Mutter ihren Sohn. Es war bereits weit nach 23 Uhr und der Junge wollte im Hotelzimmer einfach nicht zur Ruhe kommen.
Ständig und in einem fort erzählte er von dem großen Abenteuer, welches ihm bevorstand. Malte sich laut aus, wie schön die Delphine im Wasser aussehen würden und welche Kunststücke sie vollbringen würden.
Die Mutter aber sorgte sich immer mehr.
„Morgen musst du ausgeschlafen sein. Sonst können wir nicht mit dem Herrn aufs Meer fahren“!
Das wirkte. Wenig später war er schon eingeschlafen. Voller Liebe betrachtete sie den kleinen Kerl in seinen Kissen. Dabei kamen immer wieder die Bilder von vor neun Jahren in ihren Kopf:

Es war ein Segelunfall. Helmut war leidenschaftlicher Segler und ihm war kein Wetter zu schlecht, keine See zu rau. So gut wie nichts konnte ihn hindern, hinaus zu fahren und seiner Leidenschaft zu frönen.
Die See war ziemlich unruhig damals, aber er war es gewohnt auch bei stürmischer See zu segeln. Plötzlich kam eine starke Bö und er war gerade dabei eine Halse zu machen. Beim Fieren der Schot kenterte das Boot über Steuerbord. Helmut hatte sich wegen der unruhigen See angegurtet. Das Sicherungsseil verhedderte sich irgendwo und er wurde unter Wasser gezogen. Dabei gelang es ihm nicht mehr sich zu befreien.
Als man das Boot fand lag er bereits viele Stunden im Wasser – tot.

Neun Jahre trug sie die Bilder schon im Kopf, wie man den leblosen Körper ihres geliebten Ehemannes in einem Zinksarg vom Rettungskreuzer hob.
So etwas wollte sie nie wieder erleben und ihre besondere Fürsorge galt seither dem Sohn Helmuts.

Pünktlich um 10,00 Uhr kam der alte Mann zu Pier. Freudig wurde er von dem Jungen begrüßt. Er rannte ihm ein Stück entgegen und plapperte munter drauf los. Man konnte deutlich sehen, wie ihm die Freude im Gesicht geschrieben stand.
Man merkte aber auch ebenso deutlich, dass die Mutter noch immer nicht begeistert war und die Freude des kleinen Jungen nicht so recht teilen wollte.
„Möchten sie darüber sprechen“? fragte sie der Mann, nachdem sie an Bord der kleinen Segelyacht gegangen waren.
„Worüber denn“?
„Ich sehe ganz klar, dass sie etwas bedrückt. Und wie ich zu erkennen glaube, ist das nichts Unbedeutendes. Hat es mit unserem Törn zu tun“?
„Sie müssen verstehen, dass ich mir große Sorgen um den Jungen mache...“!
Und nun begann sie, zuerst zögernd, dann immer sicherer werdend, vom Unglück ihres Mannes vor neun Jahren zu sprechen.
„Jetzt kann ich in der Tat ihre Bedenken nachvollziehen. Sind sie sicher, dass sie immer noch mit dem Kind hinaus fahren wollen“?
„Hmmm, ja! Irgendwann muss man doch seine Vorurteile abbauen und dem Leben wieder in die Augen schauen“.
„Wir werden uns jetzt alle unsere Schwimmwesten anziehen. Die See ist sehr ruhig und der Wind hier flau. Darum schlage ich vor, den Motor zu nutzen. Wenn wir draußen sind, entscheiden wir gemeinsam, ob ich Segel setzen soll. Denn bei dem langsamen Fahren mit dem Hilfsmotor bin ich nicht sicher, ob sich Delphine einfinden werden. Ich verspreche auch, dass ich keine riskanten Manöver fahren werde“.
„Das beruhigt mich sehr“!

„He mein Freund, komm jetzt – reise reise! Probier mal, ob die Weste passt“!
„Mutti, hilf mir bitte“!
„Das hier“ - zeigte der alte Mann auf eine Kordel ist die Trillerpfeife. Wenn man in Seenot gerät kann man damit auf sich aufmerksam machen. Hier das ist ein sogenanntes Knicklicht. Damit kann man im Dunklen auf sich aufmerksam machen. Man knickt es einfach um, dann beginnt es zu leuchten. Und hier hast du noch einen Farbbeutel. Wenn Du im Wasser daran ziehst, wird das Meer im Umkreis rot gefärbt. Damit kann man den, in Seenot geratenen Menschen aus der Luft sehr gut wahrnehmen“.
„Also dann: Alles klar“?
„Eye eye Sir!” Der Kleine salutierte.
„Sag mal, ich weiß deinen Namen noch gar nicht“!
„Michael“ war die knappe Antwort.
„OK Michael. Ich ernenne Dich zum Steuermann! Steuermann – klar machen zum Ablegen“!
„Eye, eye Sir – klar machen zum Ablegen“!
„Hier halte mal den Fender. Und passe immer gut auf, dass du nicht in den Bach fällst. Wenn wir an den anderen Booten vorbei sind kannst du den Fender einholen“.

Gleich waren sie an der Mole vorbeigetuckert und nahmen Kurs aufs offene Meer.
Richard: „Noch einmal zur Sicherheit: Wie rufen wir, falls wider Erwarten jemand über Bord geht“?
„Mann über Bord“! rief sofort Michael.
„OK ich sehe ihr seid schon richtige Profis“!
Zur Mutter gewandt, die sichtlich ängstlich an der Steuerbordreling hockte: „Wie geht es ihnen“?
„Es geht schon. Ich sehe, Michael hat sehr viel Spaß und das ist die Hauptsache“.
„Ich habe mich noch gar nicht richtig vorgestellt: Ich bin Richard“.
„Halte das Ruder immer auf diesem Kurs Steuermann“!
„OK Sir“!
„Ich heiße Hannelore. Aber alle nennen mich eigentlich Hanni. Ich mag das nicht besonders gerne aber der Name ist eben auch extrem lang“.
„Hannelore, darf ich einen Vorschlag machen“?
Fragend sah sie den alten Mann an.
„Ich schlage vor, dass wir Du zueinander sagen. Hier auf dem Boot müssen wir uns aufeinander verlassen können. Da ist das vertrauliche Du eine gute Voraussetzung“.
„Ich bin einverstanden. Also Richard, nenne mich ruhig Hanni“!
Eine Weile sah sie ihn an. „Lebst du eigentlich alleine Richard“?
„Ja, meine Frau ist vor sechs Jahren gestorben. Sie hatte Leukämie. Die letzten drei Jahre vor ihrem Tod habe ich sie zu Hause gepflegt. Eine harte Zeit war das“!
„Haben sie Kinder“?
„Leider nein. Meine Frau konnte keine bekommen. Dabei hätte ich so gerne einen Sohn gehabt. Wir haben erst spät geheiratet. In meiner Jugend bin ich einige Jahre auf Handelsschiffen zur See gefahren. Ich war schon über dreißig damals.
Aber das Meer hat mich immer wieder angezogen. Wir hatten einige Ersparnisse – auch durch eine Erbschaft meiner Frau. Gudrun kam aus – wie sagt man? – guten Verhältnissen. Vor drei Jahren habe ich mir dann das Boot gekauft und lebe den Sommer über hier am Meer“.

Etwa eine halbe Stunde waren sie langsam aufs Meer hinaus gefahren. Den Horizont immer vor dem Bug. Das Wetter war genauso schön wie gestern.
„Wir haben eine leichte Brise hier draußen. Wenn sie mögen, könnten wir Segel setzen“. Richard sah Hanni fragend an.
„Lieber nicht“ meinte die junge Frau. „Ich habe einfach zu viel Angst. Ich würde lieber gerne umkehren. Außerdem: Wir waren beim Du“!
„Ja, natürlich. Ich muss mich erst daran gewöhnen“!
„Steuermann, klar zum Wenden“! befahl der Skipper.
„Klar zum Wenden, Sir“! rief der Junge vom Ruder.
„Ruder Steuerbord – Pinne links, aber nicht zu hart. Wir fahren einen großen Bogen“!
„OK, Sir“! rief Michael wie ein alter Fahrensmann.
„Darf ich dann zum Bug und nach Delphinen Ausschau halten“?
„Wahrscheinlich werden wir heute keine Delphine mehr zu Gesicht bekommen. „Unser Boot ist klein und die Geschwindigkeit zu gering, als dass sich Delphine einstellen werden. Außerdem macht sich deine Mutti sehr große Sorgen. Sie hat einfach Angst um dich. Das wollen wir doch nicht, oder“?
„OK“.
Aber ich habe eine Idee: „Was meint ihr, wenn ich euch morgen ins Delphinarium nach V. begleite? Wir können mit meinem Wagen fahren. Das ist ungefähr eine halbe Stunde“.
„Sie müssen sich nicht so viel Mühe mit uns machen“, sprach Hannelore leise zu dem alten Herrn.
„Ich tue das sehr gerne. Michael wünscht sich doch die Delphine so sehr“.
Zum Jungen gewandt meinte Richard: „Vielleicht haben wir Glück und man kann sich sogar ziehen lassen von den Tieren“?
„Au ja“! Michael sprang auf der Stelle.
„Vorsicht, Vorsicht... du bringst noch das Boot zum Kentern“! Richard war ganz ruhig.
„Ich wollte, ich hätte dies alles meinem Sohn zeigen können. Ich habe deinen Jungen von Anfang an in mein Herz geschlossen. Jetzt bin ich alt und werde nie mehr einen eigenen Sohn haben. Deshalb lass einfach auch mir die Freude“!
Gerührt schaute Hannelore aus ihrer Hockstellung zu Richard auf. Dabei waren ihre Augen von einem eigenartigen Glanz. Waren das Tränen?
Sie steuerten jetzt wieder auf die Küste zu. Ganz weit voraus waren die Umrisse des kleinen Yachthafens mit den weißen Häuschen zu erkennen.
„Steuermann, Ruder übernehmen! Kurs halten“
„Jawohl Sir“! Michael rutschte von seinem Platz an das Steuer. Er strahlte jetzt über das ganze Gesicht. Richard behandelte ihn wie seinesgleichen. Da war nichts von der allgegenwärtigen gluckenhaften Fürsorge seiner Mutter. Das tat dem Kind sichtlich wohl.

Nachdem die drei im Hafen eingelaufen und vorsichtig zwischen den anderen Booten manövrierend an der Pier festgemacht hatten, stiegen sie vom Boot und Richard fragte: „Also bleibt es dabei – morgen? Wann wollen wir uns treffen“?
Hanni sagte: „Wir wohnen im Hotel Adler. Würde es dir etwas ausmachen uns nach dem Mittagessen um 13,30 Uhr dort abzuholen“?
„Das ist OK. Also dann bis morgen. Pünktlich 13,30 Uhr stehe ich am Hotel. Vergiss den Fotoapparat nicht“!
„Ich besitze leider keinen von den modernen Dingern. Den alten habe ich zu Hause gelassen“.
„Gut, dann werde ich meinen mitnehmen“.
Hannelore hatte plötzlich das Gefühl, den fremden Mann umarmen zu müssen. Sie unterdrückte jedoch den Drang. „Das geht aber nicht“! ermahnte sie sich selbst. „Ich kenne den Mann gerade mal einige Stunden. Der meint vielleicht dass ich..“.
Michael jedoch umarmte Richard zum Abschied. „Ich freue mich auf morgen. Und die Delphine können dort wirklich Menschen ziehen“?
„Leider weiß ich das nicht genau. Aber ich denke, dass das auch im Programm ist. Wenn wir Glück haben, kannst du das dann machen. Wir versuchen in die erste Reihe zu kommen.

Auf dem Weg nach V. gab es viel zu sehen. Unzählige Hotels reihten sich an der Küste wie zu einer Perlenschnur aneinander und gaben nur selten den Blick auf das Meer frei. Fertige Gebäude lösten sich mit Rohbauten oder halbfertigen Hotels ab.
„Schade“ meinte Richard. „Die Bautätigkeit macht die ganze reizvolle Küstenlandschaft kaputt. Hier war es noch vor drei Jahren sehr schön. Einsame Strände luden zum Verweilen ein, ohne den Lärm der vielen Gäste aus den Hotels. Man brauchte keine Gebühr für Strandliegen, keine Händler liefen einem über die Füße und von betrunkenen Badegästen wurde man ebenso wenig belästigt. Da war diese Bucht hier noch ein richtiges Paradies.
Einige Kilometer weiter nördlich beginnt die Steilküste. Da gibt es noch einige unberührte Gebiete. Aber auch dort fängt man jetzt an, Golfplätze und dergleichen zu bauen“.
So verging die halbstündige Fahrt mit dem Wagen und das Auto rollte auf einer sechsspurigen Straße in die Stadt. Imposante Bauwerke erhoben sich am Stadtrand hoch in den Himmel. „Glasfassaden mit Aufschriften wie „Mall“, „Shopping Tower“ oder „Business Center“ konnte Michael entziffern.
„Die Stadt ist ein uraltes Handelszentrum. Schon die alten Griechen und die Römer trieben hier Handel. Die Griechen waren es auch, die hier den ersten Hafen anlegten. Heute wird der Hafen sogar von sehr großen Schiffen angefahren“, erläuterte Richard.
Der Junge staunte über die Menge an Schiffen, die jetzt rechts und links der langgezogenen Brücke zu sehen waren, über welche der Wagen nun rollte.
Gleich waren sie in der Stadt, und fuhren mitten durch das quirlige Zentrum. Wohl an die hundert gelbe Taxis standen auf dem Platz vor der Kathedrale mit den goldenen Türmen und warteten auf Kundschaft.
„Hier ist es besser, mit dem Taxi in die Stadt zu kommen. Einen Parkplatz wird man nie finden. Busse und Bahnen sind zumeist hoffnungslos überfüllt. Das ist bei der Hitze hier kein Vergnügen. Die Taxen sind auch recht preiswert. Außerdem gibt es noch Linientaxen in die entfernteren Wohngebiete“.
„Du weißt aber gut Bescheid“, meinte Hanni.
„Na ja ich habe zwei mal drei Monate im Sommer hier in der Stadt in einem Callcenter gearbeitet“.
„Aber kannst du die Landessprache denn so gut“? fiel Michael ihm ins Wort.
Richard lachte: „Ja ich kann ganz gut sprechen und verstehe die Menschen auch.
Aber im Callcenter haben wir für eine deutsche Firma gearbeitet und den ganzen Tag nur mit Deutschland telefoniert.
Wir haben ein Kinderbuch zur Verkehrserziehung für Vorschulkinder verkauft. Dabei kam es darauf an, Sponsoren zu gewinnen, deren Firma dann auf der ersten Seite des Buches eingetragen war. Die gesponserten Bücher wurden dann weniger begüterten Kindern in den Vorschuleinrichtungen kostenlos zur Verfügung gestellt. Es war eine gute Sache und für mich ein Zeitvertreib. Der Nebenverdienst war für hiesige Verhältnisse auch nicht zu verachten.
„Und ich dachte immer, lies sich Hannelore vernehmen, „dass solche Callcenter in Deutschland stehen“!

„Ach du wirst staunen, wo überall in der Welt deutsche Callcenter zu finden sind. Das Internet macht es möglich und wo das Lohnniveau niedrig ist, schießen sie wie Pilze aus der Erde“.

Mittlerweile fuhren sie auf einem, mit uralten Bäumen überschatteten Boulevard, wo sich Auto an Auto drängte und der Verkehr nur sehr langsam floss. Ständig stoppte die Bewegung der Fahrzeuge oder ein rücksichtsloser Drängler schob sich vor den Wagen der Drei, was wiederum einen neuen Rückstau zur Folge hatte.
An einer Kreuzung wo ein wildes Durcheinander von Autos herrschte, ein ohrenbetäubendes Hupkonzert zu hören war, bog Richard rechts ab und der Verkehr war auf dieser Straße etwas ruhiger.
Man fuhr an einer langen Grünanlage vorbei.
„Das ist der sogenannte Garten am Meer! Nur noch ein paar Hundert Meter, dann sind wir da. Im Sommer spielt sich hier abends das gesamte Leben der Stadt ab. Hier kann man nach der Hitze des Tages atmen und die Luft ist durch die Wassernähe frisch und kühl. Man nennt den Park deshalb auch die gute Stube von V. Zahlreiche Kulturveranstaltungen werden im Freien abgehalten.
Bühnen, Restaurants, Bars und Cafes sind anmutig in den Park integriert. Auch Museen, ein Zoo und - das Delphinarium natürlich! Aber ich möchte auch nicht das große, sogenannte Kinderparadies mit zahlreichen Attraktionen vergessen“.
Mittlerweile waren sie angekommen und fanden nach einigem Suchen sogar einen Parkplatz.
Das Delphinarium war ein modernes Gebäude mit Glasfassade. Daneben gab es eine Terrasse mit Cafe und Bänken, von wo aus man auf die Bucht von V. blicken konnte. Von Zeit zu Zeit hörte man aus dem Inneren des Gebäudes einen oder mehrere Delphine geckern. Eine Anzahl von Schiffen lag vor der Bucht auf Reede, die auf ihre baldige Abfertigung im Hafen warteten.
Ständig fuhren auch Schiffe ein oder aus. Am gegenüber liegenden Ufer der Bucht in schätzungsweise 8 km Entfernung, konnte man oberhalb der Steilküste ein anmutig in die Landschaft eingefügtes Dorf mit weißen Häusern erkennen.
„Das ist G. Immer noch ein Stadtteil von V“, erläuterte Richard.
„Wir haben noch eine gute Stunde bis zur nächsten Vorstellung“, meinte er jetzt. Am besten, wir ziehen jetzt schon Karten am Automaten. Dann stellen wir uns rechtzeitig an, um auf die vorderen Plätze zu kommen. Lass uns bis dahin noch einen Kaffee auf der Terrasse trinken“!
Michael bekam einen frisch gepressten Orangensaft.
Zu Hannelore gewandt fragte Richard: „Magst Du den Kaffee kurz oder lang“?
„Was bedeutet das“? fragte sie unsicher.
„Kurz ist wie ein Espresso. Lang ist die doppelte Menge Wasser aber immer noch nicht wie der deutsche Kaffee. Du wirst staunen, wie lecker der Kaffee hier zubereitet wird“!
Mit ihren Getränken setzten sie sich und gaben sich dem schönen Ausblick von der Terrasse hin. Aus dem Inneren des Gebäudes drangen jetzt immer stärker die Rufe der Delphine heraus. Die waren ganz offenbar schon sehr ungeduldig und voller Lampenfieber so kurz vor der Vorstellung.
Michael war ebenso ungeduldig und flitzte ständig zwischen Tisch und dem Eingang hin und her.
„Die ersten stellen sich schon an“, berichtete er dann atemlos.
Schnell noch ein Foto vor dem eindrucksvollen Panorama gemacht. Eine Dame vom Nebentisch erklärte sich bereit.

In der Halle hatte sich schon eine kleine Schlange vor den Treppenaufgängen gebildet.
„Gehen wir zum linken Aufgang“! Hier sind wir am nächsten zu den ersten Reihen und nah an der Plattform, wo die Pfleger stehen“.

Die Show beginnt. Man hatte tatsächlich einen der besten Plätze ergattert. Musik – und aus dem Inneren das ungeduldige Geckern der Tiere. Plötzlich allgemeines Gelächter. Auf der Gegenseite stolperte ein Clown in riesigen Schuhen herein und mühte sich durch die Reihen. Immer wieder drohte er zu fallen und machte dabei wirklich komische Verrenkungen. Aus einem riesigen Korb verteilte er Bonbons und Luftballons an die Kinder, die mit hochroten Köpfen vor Aufregung saßen und vor Vergnügen kreischten.
Als der urkomische Clown zu Michael kam und ihm einen Ballon anbot, warf Richard einen Geldschein in den Korb und flüsterte ihm etwas zu.
Der Clown nickte.
Jetzt erschien vorne an einer Art Rutsche aus Beton ein Tierpfleger und sogleich wurden die Schieber zum inneren Becken geöffnet. Heraus schossen in unglaublicher Geschwindigkeit vier Delphine. Die Zuschauer klatschten eifrig Beifall. Michael war aufgesprungen und klatschte auch mit hochrotem Kopf. Ob es die Wärme war?
Die Tiere vollführten Sprünge, auf ein Zeichen des Pflegers schwammen sie in entgegengesetzter Richtung.
Ein kurzer Pfiff und alle Delphine rutschten gleichzeitig auf ihren Bäuchen die Betonrampe hinauf zu Füßen den Tierpflegers. Nun bekam jeder einen Fisch aus dem Eimer. Ein besonders neugieriges Tier versuchte in den Eimer zu schauen und vielleicht noch einen extra Happen zu ergattern. Mit einem Bällchen auf einem Stock berührte der Pfleger den Vorwitzigen an der Nase. Beleidigt zog der sich zurück und versuchte mit den Brustflossen seine Augen zu bedecken als wenn er sich schämte.
Die Show ging weiter. Es folgten Sprünge durch einen Ring, ein Wasserballspiel der Tiere zeigte die Sicherheit, mit welcher sich die Delphine die Bälle zuspielen konnten.Zwischendurch tauchte noch einige male der urkomische Clown auf. Einmal hatte er sogar noch eine weibliche Clownin dabei. Es war ein Riesenspektakel. Michael hatte sich sicher schon die Hände rot geklatscht. Hannelore wischte sich immer wieder Lachtränen aus den Augen.
Jetzt gab es einen Tusch und es wurde die absolute Attraktion der Vorführung angekündigt: Aus dem Publikum sollte sich ein todesmutiger, absolut unerschrockener Zuschauer finden, der bereit wäre sich von den Tieren schleppen zu lassen.
Richard beugte sich zu Michael herunter und erklärte ihm, was der Ansager soeben verkündet hatte.
„Au ja . ich, ich, ich“, rief er und sprang fingerschnipsend auf.
Zögernd folgten jetzt auch andere Kinder seinem Beispiel
Unser Clown stolperte suchend durch die Reihen, ging auf das eine oder andere Kind zu – aber dann winkte er einfach ab und stieg weiter durch die Reihen.
Bei Michael angelangt, zeigte er mit einem überlangen Zeigefinger auf ihn und zog den Jungen mit sich fort. Der drehte sich noch einmal kurz um und man konnte sein Erstaunen sehen, als wolle er sagen: „Wieso ausgerechnet ich...?“Inzwischen hatte man ein Schlauchboot mit zwei Schlaufen am Bug hereingebracht und zu Wasser gelassen. Eine junge Frau sprach mit Michael. Sie erteilte ihm wohl Instruktionen. Schwimmweste anlegen und ins Boot mit dem Kerl. Jetzt saß er stolz wie ein Spanier aufrecht im Schlauchboot.Ein Pfiff. Vorsichtig näherten sich zwei Delphine und steckten ihre Nasen durch die Schlaufen des Bootes.
Auf einen weiteren Pfiff zogen sie das Boot mehrere Runden durch das Becken. Begeisterte Baifallsstürme auf den Tribünen. Immer größer schien Michael im Boot zu werden vor lauter Stolz.
Die Vorstellung war zu Ende. Richard hatte noch eine Menge Fotos geschossen
Die Zuschauer klatschten begeistert und unsere Delphine klatschten natürlich mit. Nur mit der Schwanzflosse und aufrecht ruderten sie geschickt durch das Wasser und schlugen dabei die Brustflossen aneinander, was tatsächlich laut klatschende Geräusche verursachte. Zuletzt schwammen sie auf der rechten Seite und winkten mit der linken Brustflosse zum Abschied.
Nachdem die Musik verstummt und die Absage des Sprechers verklungen war. leerten sich die Tribünen rasch. Soeben erschien noch einmal unser Clown und überreichte dem Jungen zum Abschied noch mit einigen komischen Possen einen großen Gummidelphin zum Aufblasen. Richard knipste.
Michael war überglücklich.
Begeistert umarmte er den alten Mann. Auch Hannelore umarmte Richard jetzt und bedankte sich für den wunderschönen Nachmittag.

Auf der Heimfahrt, die zu Anfang noch etwas stressig, aber nachdem man die Stadt verlassen hatte recht entspannt war, sprach Michael unablässig und voller Stolz über sein Abenteuer im Schlauchboot.
„Wenn ihr Lust habt, könnten wir morgen noch einen Ausflug machen!“ Richard meinte kurz vor dem Ziel, dass es noch sehr viel Interessantes zu sehen gibt in der Umgebung.

„Das ist lieb Richard“. meine Hannelore, aber morgen wollten wir noch ein paar Besorgungen machen und dann packen. Übermorgen fährt unser Bus schon in aller Herrgottsfrühe zum Flughafen.
„Aber wir könnten doch noch länger bleiben Mutti“!
„Das wird sicher nicht so einfach sein Micha“, sprach der alte Herr.
„Aber ich habe doch noch lange Ferien“.
Hannelore: „Leider ist das nicht so einfach, wie du denkst. Unser Urlaub ist zu Ende und wir müssen unseren Flieger zurück nehmen, sonst gibt es eine Menge Schwierigkeiten“.
Eine Weile durchzuckte Richard der Gedanke, dass er die Beiden ja für ein paar Tage noch bei sich im Haus aufnehmen könne.
Schnell verwarf er diesen Gedanken jedoch. Die junge Frau könnte dies falsch auffassen.
So schlug er vor, am Abend noch in einem Folklorelokal zusammen zum Abschied zu essen und vielleicht noch ein Glas heimischen Wein zu trinken.
„Ich würde euch wieder am Hotel abholen, wenn das OK ist“.
„Gut – 19,00 Uhr ist mir recht“! Hannelore war die Freude im Gesicht geschrieben.

Beim Essen redete man über dieses und jenes. Es stellte sich heraus, dass Hanni und Michael gar nicht so weit weg von Richards Heimatstadt wohnten.
Als Richard den Jungen fragte, ob er sich freuen würde, wenn er sie beide mal besuchen würde und dabei auch gleich die Fotos vom Ausflug in Delphinarium mitbringen würde, jubelte Michael so laut, dass sich alle Gäste im Lokal umdrehten.
Mit hochrotem Kopf rief die Mutter ihren Sohn zur Ordnung.
„Das ist nicht schlimm, Hanni“, sagte Richard. „In diesem Land haben Kinder alle Privilegien, die das Kindsein ausmachen. Hier regt sich auch niemand auf, wenn die Kinder durch das Lokal rennen und Fangen spielen. In dieser Beziehung gibt es doch deutliche Unterschiede zu der verklemmten Gesellschaft in Deutschland.

Der Abschied nahte.
Hannelore hätte zu gerne noch mit dem – wie sie sich inzwischen eingestand, überaus netten, liebenswerten Richard, etwas mehr Zeit verbracht.
Sie hatte ein Gefühl in sich, welches sie sich selbst nicht erklären konnte: Eine Mischung aus emotionaler Zuneigung und Freundschaft war das. Sie fühlte sich geborgen wie damals bei ihrem Vater. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, dass Richard für Michael in einer Vaterrolle stand, die sie mit Helmut verglich. Der hätte sich bis heute sicher nur seinem geliebten Hobby hingegeben. Sie als Ehefrau war ihm damals in dieser Hinsicht schon ziemlich egal. Ob er sich dabei auch so rührend um seinen Sohn gekümmert hätte, wie Richard, wagte sie jetzt zum ersten mal im Leben anzuzweifeln.

„Ist Richard unser Freund, Mutti“? Michael plapperte in seiner sorglosen Art darauf los, wie ihm der Schnabel gewachsen war.

„Ich glaube, das ist er“, erwiderte Hannelore langsam und in Gedanken versunken, nachdem er mit seinem Wagen davon gefahren war.

Autor:

Edgar Stötzer aus Bochum

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