Eine ganz andere Weihnachtsgeschichte...

Der Ausflug ins Blaue

Jetzt musste Karin tatsächlich Krücken benutzen. Der Krebs hatte sich zunehmend verschlimmert, so schien es ihr, trotz der langwierigen Krankenhausaufenthalte, der Strahlen- und Chemotherapie. Dazu kam diese entsetzliche Müdigkeit, die die Ärzte „Fatigue“ nannten. Sie war immer schwächer geworden.
Zunächst verspürte sie nur eine Abneigung gegen Gebratenes und Fleisch, aber das weitete sich auf sämtliche Lebensmittel aus. Sie hatte einfach keinen Hunger. Auch in ihrem Denken vollzog sich ein Wandel. Hatte sie früher lustig und hungrig das Leben genossen und keine Fete, keine Party ausgelassen, zog sie sich jetzt mehr und mehr zurück.
„Du musst mal raus.“ sagte Gerlinde, ihre beste Freundin. „Willst du in deinem Elfenbeinturm versauern?“ Ach, was sollte jetzt noch kommen. „Lass dich nicht so hängen! Die Chemo hat doch gut angeschlagen.“
Was wusste Gerlinde von den nächtlichen Attacken, wenn sie das Gefühl hatte, sie versänke in ein unsicheres Nichts und betete darum, noch einmal wach werden zu können.
Gerlinde ließ das nicht gelten, ließ den Krebs und vor allem ihr Jammern nicht gelten. Eines Morgens stand sie vor ihrer Tür: „Wir fahren raus, Madame, Ausflug ins Blaue!“
Der Herbstmorgen war nicht sonderlich schön, tief und trübe hingen die grauen Wolken, als wollten sie die Welt nicht zulassen, aber Gerlinde schien das nicht zu bemerken. Sie steuerte den Wagen zielsicher und routiniert durch ganz Bochum, bis sie an dem Wehr der Ruhr in Bochum Dahlhausen angekommen waren.
„So, da sind wir!“ – „Hier? Was machen wir hier?“ – „Nichts.“ sagte Gerlinde. „Schauen.“ Sie gingen an das Wehr, nahe an die Stelle, an der sich neben dem Wehr ein schmaler Ablauf wieder mit dem Fluss vereinigte.
Und standen. Und lauschten, waren berauscht vom Rauschen, von winzigen weißen Wellen in dunkelgrauem schmutzigen Wasser, die sich im unaufhörlichen Strom kräuselten, überschlugen, wieder neue Formationen bildeten, nicht dingfest zu machen, flüchtig im immerwährenden Spiel.
Kalt und frostig umhüllte die graue Wolkenschicht den Fluss, ließ die Herbstblätter am Ufer grau bunt erscheinen. Die grauen Wolken bedeckten in dicker Grauschicht den Himmel.
Die Freundinnen standen bewegungslos und auch Karin wurde von dem regelmäßigen Rauschen des Flusses erfasst. Es erklang, schwang, nahm sie mit in die Sehnsucht des Seins wie verlässliche Musik, Weltmusik. Beruhigt vom Gleichklang erschien ihr die Unendlichkeit wie ein stiller Spiegel.
Enten und Schwäne verweilten in der ruhenden Uferbucht, schwebend und schaukelnd, ihr leises Schnattern vom Zischen und Gurgeln, Klatschen, Schwingen und Klingen des Flusses übertönt.
Der Augenblick wurde weit.
Gerlinde sagte leise: „ Weißt du, was ich glaube? So wie der Fluss sind auch wir Menschen, die gesamte Natur. Alles unterliegt der Wandlung, Verwandlung, flüchtig und endlich, doch eingebunden in den großen Rhythmus.“ – „Ja“ sagte Karin, „Ich begreife.
In den grauen Wellen träumt ein Traum und die Phantasie fließt mit dem Fluss zum Meer, steigt durch das Sonnenlicht in weiße Nebelwolken auf, vom Wind in sanftem Regen an Land getrieben und benetzt Berge, Wiesen und Wälder, sammelt sich als Rinnsal und Bach, wächst heran zum Fluss und Strom. Und weiter und weiter. Wiederkehrend.
Wenn der Traum einen fortträgt zu entfernten Ufern, wird das Rauschen gleichmäßig still. Eine ruhige Gelassenheit öffnet dann manchmal neue Horizonte.“
– „That ´s it!“ sagte Gerlinde etwas burschikos, fügte dann aber warm hinzu: „Wenn wir davon ausgehen, dass alles ein ständiger Rhythmus von Werden und Vergehen ist… ich meine, dass alles irgendwie zusammenhängt genau wie der Fluss und die Wolken und so weiter… ich meine… ich glaube, dass alles miteinander verbunden ist und alles im Zusammenhang geschieht…“
– „Du meinst“ sagte Karin „Alles gehört zusammen und alles ist ein- und dasselbe? Alles ist Eins?“ Gerlinde nickte. „So habe ich das noch nie gesehen.“ sagte Karin.
Dann könnte sie sich ja auch mit ihrem Krebs aufgehoben fühlen. Dann brauchte sie den Tod nicht zu fürchten. Wenn nur die Angst nicht wäre… Gerlinde schien ihre Gedanken zu spüren und legte ihre Hand auf Karins Arm.
„Der Fluss und der Traum fließen, gleiten, schweben, rauschen einverstanden mit ihrer Bestimmung. Dem Fluss ist der Fluss genug wie der Traum nicht größer sein kann als der Traum. Wären wir öfter einverstanden und wollten nicht mehr als wir sind in unserem Schicksal und ließen den Lebensfluss fließen, hörten wir bisweilen tief in uns drinnen ein immerwährendes ruhiges Rauschen.“
Lange standen die beiden am Ufer und schauten auf das Wasser, ohne zu bemerken, dass sie begannen zu frösteln. Das Rauschen des Flusses hatte sie aufgenommen.
Karins Stirn glättete sich, sie straffte den Rücken. Ihre Lippen wollten ein Wort formen, einen Gedanken, tief aus dem Inneren, doch sie konnte sich nicht darauf besinnen. War es so etwas wie Dank? So wohl wie in diesem Augenblick hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt.
„Ich hab einen Riesenhunger“ sagte sie zu Gerlinde. „Können wir nicht in die nächste Frittenbude gehen?“

Autor:

Ingrid Dressel aus Bochum

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