Bochumer Sagenbuch liegt in erweiterter Fassung vor
Ein sagenhaftes Pflaster
Sagen unterscheiden sich von Märchen im Wesentlichen dadurch, dass sie sich auf reale Personen und Begebenheiten beziehen und dass sich ihre Handlung mehr oder weniger eindeutig verorten lässt. Dirk Sondermann hat in seinem jüngst in überarbeiteter und erweiterter fünfter Auflage erschienenen Buch „Bochumer Sagen“ zahlreiche solcher Erzählungen versammelt, die das Wunderbare buchstäblich vor der eigenen Haustür aufspüren.
In fast allen Bochumer Stadtteilen hat Dirk Sondermann Sagen aufgespürt – den Wattenscheider Sagen ist ein eigenes Buch gewidmet, aber auch in den „Bochumer Sagen“ finden sich Überlieferungen, die sich dort festmachen lassen. In vielen Fällen lässt sich das Geschehen anhand des heutigen Straßenbildes bis auf die Hausnummer genau verorten. Dass manche Sagenhelden von verschiedenen Stadtteilen in Anspruch genommen werden, versteht sich dabei fast von selbst: So soll der Räuberhauptmann Korte, der Mitte des 19. Jahrhunderts zum „Robin Hood des Bochumer Südens“ avanciert sei, an der Hevener Straße in Stiepel beheimatet gewesen sein. Doch auch die Eulenbaumstraße am Rande der Hustadt steht zur Debatte, wenn es um die Frage geht, in welchem geographischen Raum Korte, eigentlich Bergmann von Beruf, gelebt hat.
Historische Wirklichkeit hallt in Sagen nach
An den Erzählungen um den Räuberhauptmann Korte lässt sich auch erkennen, wie historische Wirklichkeit in Sagen nachhallt: Korte, der die Reichen beraubte, um die erbeuteten Lebensmittel an arme kinderreiche Familien zu verteilen, agierte im Kontext der wirtschaftlichen Krisen in der Frühphase der Industrialisierung.
Andere Sagen sind in einer eher mittelalterlich anmutenden Welt angesiedelt: Grafen und geistliche Würdenträger, Ritter und Bauern bevölkern den Bochumer Sagenkosmos und in Sundern treiben Hexen ihr Unwesen. Gräfin Imma als vermeintliche Stifterin der Stiepeler Dorfkirche darf in den „Bochumer Sagen“ natürlich ebenfalls nicht fehlen.
Sagen rund um die Ruhr-Universität
Doch auch um eine noch vergleichsweise junge Institution wie die 1965 eröffnete Ruhr-Universität ranken sich bereits Erzählungen, die das Zeug haben, in den Sagenschatz der Stadt einzugehen: etwa die Geschichte eines älteren Herrn, der einen abendlichen Vortrag besuchen wollte, aber nicht im entsprechenden Hörsaal, sondern in einem der Versorgungsgänge landete und dort ein ganzes Wochenende zubringen musste, aber am Ende von einem Assistenten der Geisteswissenschaften gerettet wurde.
Wer es ganz genau wissen möchte, erfährt auf der Bochumer Sagenkarte nicht nur, in welchen Stadtteilen sich besonders viele Sagen finden lassen, sondern auch, wann diese mündlich überlieferten Sagen entstanden sind. Neben (vergleichsweise) modernen Sagen, die nach der Reformation Verbreitung fanden, gibt es auch solche aus dem Mittelalter und sogar Erzählungen mit vorchristlichem Charakter. Wer gezielt nach Sagen sucht, die sich an einem bestimmten Ort im Stadtgebiet festmachen lassen, kann das Straßen- und Ortsregister konsultieren.
Lebendige Überlieferung
Dirk Sondermann tritt mit seinen „Bochumer Sagen“ den Beweis an, dass es auch im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert noch möglich war und ist, mündlich überlieferte Sagen aufzuspüren, die auch in der Fachöffentlichkeit bislang nicht bekannt waren. Schon lange bekannte Erzählungen finden sich in den „Bochumer Sagen“ natürlich ebenfalls. Die literarische Ausformung der Texte ist dabei sehr unterschiedlich: Sind einige Erzählungen kaum mehr als ein Handlungsgerüst, gibt es auch mit großer Fabulierlust ausgestaltete Sagen. Zu den schönsten Sagen zählt dabei „Die Esel von Stiepel“: Diese märchenhafte Erzählung eignet sich auch wunderbar zum Vorlesen in der Familie.
Überhaupt sind die „Bochumer Sagen“ nicht nur eine Fundgrube für Lokalhistoriker und alle kulturwissenschaftlich Interessierten, sondern auch ein Hausbuch für Jung und Alt: Die Sage um den Schweinehirten Jörgen, der die Kohle entdeckt, sollten alle kleinen und großen Bochumer kennen.
Karten, Fotos und Abbildungen von Kunstwerken runden das Sagenbuch ab. Dass auch lokales Brauchtum wie das Maiabendfest und wichtige Bauwerke wie die Propsteikirche St. Peter und Paul und die Burg Blankenstein, auf Hattinger Stadtgebiet gelegen, aber seit 1922 im Besitz der Stadt Bochum und von jeher aufs Engste mit der Bochumer Geschichte verknüpft, im Sagenbuch aufgegriffen werden, versteht sich von selbst. So macht das rundum überzeugende Buch auch Lust auf „Urlaub vor der eigenen Haustür“: In Zeiten von pandemiebedingten Reisehemmnissen und Flugscham eine gute Sache.
Das Buch
Dirk Sondermann: Bochumer Sagen. Gimmerthal-Verlag (ISBN 978-3-00-066534-9 ).
Autor:Nathalie Memmer aus Bochum |
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