Mit viel Lob im Rücken läuft die neue Spielzeit am Bochumer Schauspielhaus an:
Die „Schauspielerin des Jahres“ spielt am „besten Theater“

Sandra Hüller in "Hydra" nach Heiner Müller. Pressefoto Schauspielhaus Bochum / Thomas Aurin.
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BOCHUM. Noch vor und in der Sommerpause gab es tolle Neuigkeiten für das Schauspielhaus:

Die Fachzeitschrift „Theater heute“ wählte Sandra Hüller (in Bochum als „Hamlet“ und „Penthesilea“ zu sehen) erneut zur deutschen Schauspielerin des Jahres (insgesamt schon zum dritten Mal!). Und die „Welt am Sonntag“ erklärte nach Befragung von führenden Theaterkritikern das Bochumer Schauspielhaus zum besten „Theater der Saison“ in NRW! Nach dem 100. Geburtstag des Hauses ganz besonders erfreulich. Und natürlich grandiose Bestätigung fürs internationale Team um Intendant Johan Simons, der seit 2018 im Amt ist.

Sandra Hüller in „Hydra“ nach Heiner Müller:

Im Projekt „Hydra“ ist der antike mythische Herakles hier sowas wie der erste Arbeiter der Menschheit. Zwölf (bei Heiner Müller sogar 13) eigentlich unlösbare Aufgaben muss er bewältigen. Darunter auch die Tötung der neunköpfigen Hydra (deren Köpfe, kaum abgeschlagen, immer wieder nachwachsen).

Für Regisseur und Musiker Tom Schneider, der in der Spielzeit-Eröffnungs-Pressekonferenz Rede und Antwort zu seiner ersten Bochumer Inszenierung stand, steht der Halbgott auch für die Zivilisation als solche - und das Monster „Hydra“ für die chaotische Natur, die immer wieder gezähmt werden soll. Seine „Hydra“ ist allgegenwärtig durch dunkle, dumpfe laut- und leise-gepegelte Tonverstärker-Rückkoppelungs-Rauschkulissen in Endlos-Schleifen. Mal bedrohlich, mal feierlich und auch manchmal belanglos.

Sandra Hüller - als einzige Schauspielerin - sucht anfangs noch ironisch mit den Musikern probend nach einem Zugang zu den Müller-Texten.

Irgendwann greift sie sich entschlossen den Text und bewegt sich ähnlich wie der akustische Rahmen endlos weiter rezitierend in einer anfangs noch leeren rötlich-gelben Zwischenwelt. Die der Bühnen- und Kostümbildner Michael Graessner ebenso unaufhaltsam immer weiter mit Möbeln und Requisiten zustellt.

Darüber drohend ein schwarzes Loch in einem felsigen schwarzen Himmel:

Es geht quer durch die griechische Mythologie: Herakles – hier eher abstrakt verkörpert - befreite ja auch Prometheus, der einst den Göttern das Licht stahl und zu den Menschen brachte. Dafür zur Strafe ewig an einen Felsen geschmiedet wurde, wo täglich ein Adler an seiner nachwachsenden Leber frass. Doch nach endlosen Jahren der Gefangenschaft will Prometheus nichts anders mehr und laut Müller schon gar nicht befreit werden: Adler und Leber-Schmerz waren seine letzte Verbindung zu den Göttern.

Ein wirklich starkes Bild entsteht durch weiße Nebelwirbel, die vom schwarzen Himmelsloch aufgesaugt werden. Sandra Hüller ist da längst zur ewigen Stimme der ganzen Menschheit geworden. Wenn sie zum Schluss im Schmerz versteinert vom rasenden Herakles berichtet, der von Haupt-Göttin Hera in Wahnsinn gestürzt, Kinder und Frau ermordet, spiegeln sich zwar Tränen in ihren Augen – aber die Stimme dieser Ausnahme-Schauspielerin zittert kein einziges Mal. Dass auch die (Bühnen)-Welt komplett in sich einstürzt, ist dann nur konsequent. Starker und langer Applaus für Sandra Hüller – ergänzt auch durch einige kritische Laut-Äußerungen im Parkett für Regie und Team.

„Hydra“ seit Premiere 11. Oktober in den Bochumer Kammerspielen um 19.30 Uhr. Weitere Vorstellungen zunächst 15. / 16. /19. und 23. Oktober, sowie am 19. und 25. November.


Spielzeit-Eröffnung mit „Geschichten aus dem Wienerwald“:

Eröffnet wurde die neue Spielzeit im Großen Haus zuvor offiziell am 3. Oktober mit Ödön von Horváths „Geschichten aus dem Wienerwald“ in der Regie von Karin Henkel, einigen hier noch aus Leander Haußmanns Intendanz bekannt. Und mehrfach Gast bei Simons voriger Theater-Intendanz an den Münchner Kammerspielen. Das Stück hat sie in wesentlich ähnlicher Bühnenbild-Struktur vor sieben Jahren in Zürich inszeniert:

Ohne Happy-End sind die „Geschichten“ vom „Zauber-König“ aus dem Puppenklinik-Laden mit Spiel- und Zauber-Waren, von seiner Tochter Marianne, die den Metzger Oskar heiraten soll, sich aber in den Gigolo Alfred verliebt, das gemeinsame Kind zu Alfreds Mutter und Großmutter in die Wachau weggeben muss, um anschließend als Stripperin den Vater so schockt, dass er einen Schlaganfall bekommt. Marianne wird dann auch noch von Alfred wegen der wohlhabenden Kioskbesitzerin verlassen, das Kind stirbt und die gebrochene Marianne heiratet dann doch den Metzger.

Es spielen neben Bernd Rademachers Zauberkönig und Marina Galic als seiner Tochter Marianne: Thomas Anzenhofer (einer von zwei Gestalten und Alfreds Mutter) Mourad Baaiz (Oskar), Gina Haller (die andere von zwei Gestalten und Alfreds Großmutter), Marius Huth (Erich), Karin Moog (Valerie) und Ulvi Teke (Alfred).

Karin Henkel will auch diesmal im Spiel um die zentrale kleine Drehbühne im manegen-ähnlichen Rund jede Art von „Wiener Schmäh“ oder „Gefühligkeit“ den Kampf ansagen:

Todessteif umherliegend „eingefrorene“ Schauspieler müssen erst mal von zwei schwarzen Gestalten aus weißen Plastikplanen ausgewickelt werden – und auch sonst herrschen optisch Minusgrade: Requisiten und Kostümteile kommen aus einer Gefriertruhe.

Der von der Rollenbeschreibung eher als „schiach“- zu besetzende Metzgerssohn sieht hier so gut aus, dass man eigentlich nicht verstehen kann, warum Marianne sich vor ihm ekelt und mit dem pferdewetten-süchtigen Strizzi Alfred auf und davon geht. Schwarz der Raum-Rahmen, rot das Blut, weiß auch die Plastikfolien-Tür zur Metzgerei. Marianne könnte auch aus der Porzellankopf-Puppen-Kollektion ihres Vaters stammen, adrett auch ihr rosa Kinderkleidchen.

Nach dem Auswickeln sind die Figuren erstmal als ungelenke Zombies unterwegs, bevor Horváths wunderbares Stück und seine Dialoge sich durchsetzen, die Spieltemperatur steigt und die Schauspieler starke Bilder und tragische Komik entwickeln:

Wenn etwa der verklemmte „Zauberkönig“ (Rademacher wieder köstlich auch im Jammerlappen-Selbstmitleid seiner Vaterfigur) plötzlich über die aufreizende „Trafikantin“ Valerie (Karin Moog im hautengem roten Leder) herfällt. Oder Thomas Anzenhofer mit rauer Männerstimme und schwarzem Kopftuch - als typisches Mutterl in der Wachau - ihren nichtsnutzigen Sohn Alfred auf den Schoß nimmt und wiegt. Oder Marianne und Alfred am Donaustrand (der dazu abgesenkten Mini-Drehbühne als rundem Loch im Boden, die hochgefahren auch zum Podest und Karussell werden kann) in echtem Donau-Wasser planschen. Viel Bravo-Applaus zu dieser Spielzeit-Eröffnung, besonders für die Bochumer Akteure bewies die Richtigkeit der Entscheidung, die mit diesem Stück schon erfahrene Gastregisseurin kurzfristig abändernd mit dem Horvath statt wie geplant mit dem Koltés-Stück ´“Quai West“ zu betrauen. Weitere Aufführungen am 25. Oktober sowie erstmal am 2. / 10. / 22. und 27. November.

Julian Rosefeld: „Meine Heimat ist ein düsteres, wolkenverhangenes Land“

Auch seit dem Premieren-Nationalfeiertag – vor dem Horváth schon ab 17 Uhr – präsentiert das Oval Office (Ex-„Bo-Unten“) erstmals eine neue Arbeit des Welt-Video-Künstlers Julian Rosefeld, vielen durch sein gefeiertes Werk „Manifesto“ mit immerhin Cate Blanchett bekannt, (zu sehen bei der Ruhrtriennale 2016). Auf vier großen Video-Wänden werden gleichzeitig und endlos vier unterschiedliche Filme unter dem Obertitel: „Meine Heimat ist ein düsteres, wolkenverhangenes Land“ gezeigt. In beeindruckend beziehungsreichen Film-Bildern, kleinen Geschichten und Texten widmet sich Rosefeld - dem deutschen Wald!

Schauspieler Lars Eidinger konnte in einem der Videos seine besonderen Fähigkeiten bei der Darstellung von Wahnsinn einbringen:

Diesmal bespielt er unter anderem eine laufende Kettensäge als E-Gitarre. Bei freiem Eintritt sind die Öffnungszeiten im „Oval Office“ des Schauspielhaus-Untergeschosses: Dienstag bis Sonntag, 17 bis 22 Uhr - nur bis zum 3. 11. 2019.

Doppel-Geburtstag: Johan Simons und Steven Sloane luden zu einem „Fest für Mackie“:

Sozusagen zurückhaltend im Spielzeit-Eröffnungs-Reigen inszeniert Bochums Intendant Johan Simons diesmal nicht selbst im Theater, sondern als Referenz der besonderen Art im Anneliese-Brost-Musikforum-Ruhr ein paar hundert Meter weiter, halb „unter Tage“. Denn auch die Bochumer Symphoniker feiern wie das Theater in diesem Jahr ihren 100. Geburtstag.

Was lag also zunächst mal näher, als mit einer gemeinsamen Produktion „ein Fest“ zu feiern. Und wo feiert das Revier am liebsten? Genau, in der Kneipe, aber nach der Kohle ist auch die Kneipenkultur „am Sterben“.

Die Auftragsarbeit zum doppelten 100. Geburtstag verlegt sehr ausgedacht die Story von „Mackie Messer“ nun als „Mackie ohne Messer“ in eine Bochumer Kneipe „Zur Ewigkeit“. Mittel-originell und höflich gesagt: gewöhnungsbedürftig.

Nach dem bewährten Revier-Motto: „Was nicht passt, wird passend gemacht“

kam dann auch was dabei raus, das zumindest musikalisch „sehr interessant“ war: Denn die berühmten Weill-Brecht-Songs, die gesamte Weill-Komposition u.a. der 90 Jahre alten Dreigroschenoper wurden, was die Komposition (nicht den Text) angeht intelligent „gespiegelt“ (oder abgekupfert) in der unbegreiflichen Nach-Komposition von Moritz Eggert, nur warum? Die Bochumer Symphoniker jedenfalls setzten diese A-la-Weill-Fingerübung bestens um und gaben wie immer alles!

Die Schauspieler waren da schon ärmer dran:

Gefühlte 40 mal hatten einige besoffen vom Hocker am einzigen Spielort Theke zu fallen und mussten dabei mit „Pott-Reizwörtern“ um sich schmeißen, bis das „Arschleder kracht“. Oder verlegen den obligatorischen „Mett-Igel streicheln“ und „Samtkragen-Gläser zwitschern“. Haupt-Schnapsidee: Ein menschenscheuer Mackie, der nicht aus seinem Brikett-Turm rauskommen und schon gar nicht den 100. Kneipen-Geburtstag feiern will, auch nicht weiß, dass Braunkohle-Briketts nicht aus Steinkohle gemacht sind: „Da hat er eben leider recht, DIE Idee war nix und einfach schlecht...“. Und das war eben schade: Applaus-rettend, dass Johan Simons kurz vor Schluss zur Sicherheit die Mannen vom Ruhrkohle-Chor in vollem Ornat im Publikum verteilt aufstehen ließ. Und mit der Weltkulturerbe-Hymne des allgegenwärtigen „Steiger-Lieds“ allen doch noch „Pippi inne Augen“ trieb. Daher dann viel Applaus (um einige Buhs herum) – besonders für den Bergmann-Chor und die wie immer brillanten Bochumer Symphoniker unter Steven Sloane im Brost-Musikforum! (cd)

Autor:

Caro Dai aus Essen-Werden

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