Die Laufbrunnen der Rhodopen

7Bilder

Die Laufbrunnen der Rhodopen

(Betrachtung über einen alten Volksbrauch im Rhodopengebirge)
Aus meinem Zyklus "Bulgarische Anekdoten"

Wen nie sein Weg durch das Rhodopengebirge geführt hat, weiß sicher nichts von den unzähligen Laufbrunnen entlang der Straßen und in den Ortschaften, an Waldwiesen und steinigen Pfaden, die den müden Wanderer, den Reisenden oder Besucher mit köstlich, frischem Gebirgswasser erquicken.
Das Gebirge, für das es schier unmöglich ist, treffende Attribute oder Vergleiche für eine passende Beschreibung zu finden, wird den Besucher und seine Sinne nie mit einem einzigen Blick befriedigen. Man kann sich nicht satt sehen an der Szenerie, den endlosen Bergpanoramen, welche sich immer wieder aufs Neue erschließen.

Auf Orpheus' Spuren

Schon bei der ersten Begegnung sind wir vom Charme, der Stärke und der Abgeklärtheit dieses Gebirges gefangen. Die Entdeckung dieser Eigenschaften wird nicht selten zur „Liebe auf den ersten Blick“. Diese Liebe ist aber nicht trügerisch und kurzfristig – nein stark und leidenschaftlich bleibt sie oft ein Leben lang bestehen.
Irgendwo in der Weite des Raumes, zwischen Horizont und Standort scheint man Orpheus, den antiken Sohn der Rhodopen zu den Klängen der siebensaitigen Leier die uralten Lieder seiner Heimat, singen zu hören.
Orpheus’ Oden und Hymnen sind mittlerweile über 3000 Jahre alt. Aber jetzt, in der realen Welt begegnen wir hier im Rhodopengebirge überaus fleißigen und freundlichen Menschen, welche das große Glück haben, in diesem Paradies von teilweise unberührter Natur leben zu dürfen, zu lieben und ihrem Broterwerb nachzugehen.

Gebirge der Wunder...

Eines davon sind die eingangs erwähnten Laufbrunnen, Borne, Wasserspender oder wie sonst man sie im Deutschen noch nennen mag.
Sie haben eine sehr lange Tradition. Bereits seit Jahrhunderten, wenn nicht gar Jahrtausenden werden solche Wasserspender hier angelegt.

Geschwätzig sprudelt das Wasser aus diesen gefassten Quellen. Doch das ist nicht ganz zutreffend – nein es singt für uns und erzählt.
Erzählt von vielen müden, durstigen Menschen die hier einen Schluck genommen und sich gestärkt haben. Erzählt von Ereignissen aus grauer Vorzeit. Erzählt zahlreiche Geschichten – schlichte und bewegende Geschichten, menschliche, individuelle Begebenheiten.
Die Brünnlein schmeicheln dem Auge mit ihrem Anblick, sie scheinen uns beinahe zu einer Rast einzuladen, einen kräftigen Schluck reinen Wassers zu trinken, dem Gesang des munter sprudelnden Wassers zu lauschen und den Blick über die Unendlichkeit der herrlichen Bergwelt schweifen zu lassen.
Der Bau solcher Brunnen hat sich in den letzten zwei, drei Jahrzehnten erneut in eine Form der Bekenntnis zu Volkstümlichkeit und Gefühlsleben der ortsansässigen Menschen gewandelt. Zu einer Art neuer Religion. Und die Brunnen hier in den Rhodopen sind wie die Menschen selbst. Jeder hat sein spezielles Design, seinen Aspekt , seine Geschichte. Birgt Sorgen und Geheimnisse welche die Zeit in die Ewigkeit trägt, als Zeugnis für die Beständigkeit des Wassers als Urquell allen Lebens.
Um die Lieder und Erzählungen der sprudelnder Wasser zu verstehen, muss man die charakteristischen Eigenarten im Leben der Menschen hier kennen.

Alte Tradition

Entlang der Straßen und Wege in den Rhodopen wurden in den letzten Jahren immer neue und neue Brunnen gebaut. „Geschenk der Familie...“, „Zur Erinnerung von der Verwandtschaft...“. Die Stifter beauftragen Baumeister, Spezialisten auf dem Gebiet, mit der Suche nach geeigneten Plätzen, nach neuen Quellen unter den Wurzeln der hundertjährigen Bäume, um ein weiteres Gutes zu tun: für die Bedürftigen unter den Einheimischen und für die Reisenden, welche hier ihren Weg nehmen.
Die Ehrfurcht vor dem Wasser hat hier tiefe Wurzeln. Aus der Zeit der Thraker, der römischen Besetzung dieser Gebiete. Auch die Entstehung und Verbreitung des Islam in den Rhodopen trug zu diesem Kult bei. Die Brunnen wurden im Glauben gewissermaßen als Glücks- und Heilbringer gebaut.
Die Einfassung einer Quelle sollte außer zur Ehre für den Spender und der Dankbarkeit auch zur Vergebung für begangene Sünden, Erinnerung an einen lieben Menschen, ein Ereignis in dessen Leben und meistens auch zum Andenken an jemand dienen.
Vor vielen Jahren wurden die Anlagen mit primitivsten und improvisierten Mitteln errichtet. Findet man ein solches altes, verborgenes Brünnlein, sucht man nach dessen Seele und seiner Kraft etwas tiefer unter der Erde.

Nachdem man den Schlamm beseitigt, das vermoderte Gras und das alte Laub entfernt hat, sieht man das Wasser blinken. Man beobachtet und bemerkt, dass es lebt, ausströmt und fließt. Der handgeschnitzte Wassertrog sammelt diese Gottesgabe und die Quelle wird zu einem Brünnlein, welches sein Liedchen singt ... Wenn ein Vöglein sein Schnäbelchen hinein taucht, ein Waldtier seinen Durst löscht – hat man selbst schon wieder eine Wohltat vollbracht... so denken hier viele Menschen.

Nicht nur in höchster Not und bei starkem Durst, auch wenn sie weg gehen, probieren die Gäste der Rhodopen noch einmal von dem klaren kühlen Wasser. In der Hoffnung zurück zu kommen in diese Gegend, sich mit alten Freunden und neuen Bekannten zu treffen und die fast vergessenen Legenden der Rhodopen zu hören, von denen eine besagt: Wenn man von diesem Wasser getrunken hat, wird man immer wieder an den Ort zurückkehren.

Vom Horizont herüber fliegen Klänge von Kaval (Hirtenflöte) und Dudelsack. In diesem uralten Lied der Rhodopen heißt es sinngemäß: „Wo Tränen fließen.... dort wird ein Lied entstehen... wo Tränen fließen dort wird auch eine Quelle sein...“
Zahlreich sind die Tränen, die hier die Erde benetzten. Der Sturm der Epochen ist hier geradezu wie ein Wirbelwind durch die Seelen der Menschen gefahren. Und zusammen mit den Strömen von Schmerz tauchte über dem rhodopischen Horizont gleichsam als Bekenntnis für Trost und Hoffnung das Lied aus dunkler Vergangenheit auf. Und entlang endloser weißer Rhodopenwege reihen sich hundert, tausend Brunnen zu einem anderen Lied – zu einem Lied über die Weisheit, Schönheit und die Majestät des bulgarischen Landes von Nikopol ad Istrum bis Perperikon, von der Assenovschen Festung bis Persenk (Antike Städte auf bulg. Territorium)

Brunnen mit lebendigem Wasser... Die Brunnen der Rhodopen.
Mit einigen Schlucken löschen wir unseren Durst zum Abschied, aber den letzten Schluck behalten wir in der hohlen Hand – zum Gedenken und als Versprechen erneut wieder zu kommen.

Autor:

Edgar Stötzer aus Bochum

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

Folgen Sie diesem Profil als Erste/r

6 Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.