Johan Simons öffnete das Schauspielhaus Bochum unter Corona-Bedingungen:
„Die Befristeten“ spielen um ihr Leben
BOCHUM. Eine der ersten „Theater-Wiederöffnungen“, die durch Johan Simons am Bochumer Schauspielhaus lockte bundesweit neugierige Pressekollegen an: Schließlich ist jede Inszenierung ein Experiment - ganz besonders aber in Covit19-Zeiten.
Alles neu gedacht:
"Work in Progress“ auch beim Abstandhalten, Mund-Nasen-Schutz und Hygiene-Gel. Und die Regeln gelten für alle: die Intendanten-Stellvertreterin persönlich, aber vermummt auf der Eingangs-Treppe unterm Riesen-Banner „Wir spielen!“ bot jedem Besucher einen Einmal-Mund-Nasenschutz samt Programmheft an.
Einzeln im Foyer Kontaktdaten hinterlassen, verbindlich unterschreiben, dass man derzeit keine Krankheitssymptome hat und – wenige Tage vor der App – auch keinen mit Symptomen traf. Die kostenlose (!) Eintrittskarte wurde vorab namentlich gemailt, es gäbe keine Garderobe oder Bewirtung. Vor Ort dann kleine Wasserflaschen auf der Theke zum Selbstbedienen.
Dennoch herzliche Distanz-Begrüßung und Lenkung durch maskierte Mitarbeiter auf den genau bemessenen Wegen zu den 50, weit im 800-Plätze-Haus verstreuten Sitzen. Die Türen bleiben dauernd offen: Vorbildliches Durchzug- und Belüftungs-Management! – Auch um den Schauspielern dort gleichzeitige Auftritte mit entsprechendem Abstand zu ermöglichen.
Maschinen-Ballett
Zum Einlass hat Simons die imponierende Maschinerie des Theaters angeworfen. Ein Ballett aus leeren Bühnenversenkungen und hoch fahrender Podesterie, sich auf- und abbauenden Bühnenstufen, Lichtwechseln, auf- und niederfahrenden Seilzügen und angeworfenem Riesenventilator samt der Nebelmaschine für eine kleine Lasershow, erzeugt einen rhythmisch industriellen Grundsound.
Die Schauspieler und Schauspielerinnen, allen voran Gina Haller, Elsie de Brauw, Jing Xiang, Stefan Hunstein, Marius Huth, Risto Kübar, Anne Rietmeijer, Dominik Dos-Reis alle in Rottönen gekleidet, bis auf die - fast mit dem Hintergrund verschmolzen agierende Mercy Dorcas Otieno in einem schwarzen Kapuzenmantel - streben beinah gleichzeitig mit gebührendem Abstand untereinander in die sich langsam beruhigende Raumsituation Richtung Bühne. Im Stück verraten ihre Namen die vorgesehene Lebenszeit: Mit „12“ ist man nicht so begehrt wie mit „80“ oder „88(?)“.
Der Autor
Elias Canetti (geboren 1905, Nobelpreis 1981) schrieb sein Stück „Die Befristeten“ 1952. Geprägt durch das mörderische Jahrhundert zweier Weltkriege und als Überlebender des Holocaust notierte er 1943 für sich: „Das ganz konkrete und ernsthafte, das eingestandene Ziel meines Lebens ist die Erlangung der Unsterblichkeit der Menschen.“ Und schrieb das heute unbeholfen wirkende Kopf-Drama auch unter dem Eindruck des Todes seiner Frau.
In den „Befristeten“ weiß jeder zumindest schon mal, wie lange er leben wird. Alle beteuern sich in ritualisierter Begeisterung, wie glücklich sie damit sind. Planungssicherheit sogar für Beziehungen und es herrscht Frieden: Jeder hat eine Kapsel um den Hals, die nur bei seinem Tod vom „Kapselan“ geöffnet werden darf. Der bestätigt dann anhand darin dokumentierter Geburts- und Todesdaten den exakt für diesen Tag vorbestimmten Todestag. Zweifel kommen nur bei Nummer „50“ (Stefan Hunstein) auf, der seine Kapsel eigenmächtig öffnet... Ein Freund (Elsie de Brauw) trauert um seine kleine Schwester „Sieben“: Ihren Tod vor langer Zeit hat er nie verwunden. Die dunkle, sich im Kapuzenmantel verbergende Gestalt ist gerührt. Doch der Kapselan hat alle fest im Griff, greift auch schon mal bedrohlich mit rot-weißen Abstandsstangen ein, wenn zuviel Nähe droht. Ergreifende Körperlichkeit durch Solisten und solitäre Momente:
Die Wucht der Vereinzelung
Die Artisten des Bochumer Schauspielhauses spielen wortreich und auch mal stumm um ihr Leben. Im Parkett sind neben den vereinzelten Zweier-Sitzpaaren (die an der Kasse zu bestätigenden häuslichen „Infektions-Gemeinschaften“) jeweils links und rechts, davor, dahinter je vier Klappsitze heraus genommen. Und es gähnen die leeren Rücklehnen die Akteure auf der Bühne an, aber auch den Zuschauer, der zur Seite schaut.
Als Zuschauer so gleich mehrfach auf Abstand erlebt man die Vereinzelung in ihrer ganzen Schwere und Wucht. Wie schützend sonst das Dunkel im Publikum fürs Grundgefühl der Verbundenheit sein kann, mit all seinen Mikrogeräuschen gemeinsam erspürter Spannung, Erlösung, Glück oder Unglück, Hüsteln, Bonbon-Geraschel, Lachen – glucksend leise und aus vollem Herzen: All das, was auch mal nervt, das fehlt jetzt so massiv für den Jahrtausende alten Theatervorgang, dass es fast weh tut.
Nur der Schwarm kann „senden“
Dass diese „magische Verbindung zwischen Darstellern und Publikum“ nicht einfach so passiert, sondern auch sonst durch emotionale Schwerstarbeit und kunstvolles Spiel im besten Sinne „hergestellt“ wird, haben wir bisher als selbstverständlich genommen. Jetzt erfahren wir es wohl zum ersten Mal: Wir zuvor Nebeneinandersitzende wiederum gaben den Schauspielern Energie durch unsere verbundenen oder getrennten Reaktionen zurück. Dieses unmittelbare Feedback ist so nicht mehr möglich, weil es nur aus der Gruppe nebeneinander Sitzender erfolgt: Nur der Schwarm kann „senden“.
Wenn auch dem Bochumer Ensemble nach kurzer Probenzeit Momente gelingen, die das Innerste des Einzelnen berühren: Wie die gemeinsame Ensemble-Performance über die ganze Bühne verteilt zu Purcells „Freeze / Cold Genius awakes“ aus „King Arthur“. Oder Gina Hallers tödlicher „Pas de deux“ mit Risto Kübar als beinahe unerträgliche Umsetzung der Ermordung George Floyds (wie die Bundeskanzlerin die Fernsehbilder nannte). Und auch das aerosol-technisch allein deshalb körperlich nur möglich, weil beide Schauspieler privat zusammen wohnen.
Der Applaus war so stark und andauernd, wie es 100 Hände in so einem fast leeren Riesen-Raum nur erklatschen können, die Akteure klatschten tapfer zurück!
Was soll werden, wenn kein Impfstoff kommt? (cd)
Autor:Caro Dai aus Essen-Werden |
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