Die Bärchentasse - eine Familiengeschichte
Wir sind eine ganz normale Familie, Peter mein Mann, Svenja, meine Tochter und ich. Bis auf gewisse Pubertätsallüren unserer heranwachsenden Tochter kommen wir gut zurecht. Abends sitzen wir gerne alle drei gemeinsam vor dem Fernsehen, Svenja guckt eine Soap, Peter blättert in einer Zeitung und ich lese ein bisschen. Dabei müssen wir nicht unbedingt reden, Hauptsache, wir sind zusammen.
Eines Abends sollte Svenja noch schnell den Müll wegbringen. Sie kam mit hochgezogenen Augenbrauen aufgeregt zurück. „Du, Mutti, da steht eine Tasse vor der Tür!“ Peter und ich schauten uns verwundert an und begutachteten den Hausflur. Da stand sie. Glänzend knallblau, mit einem süßen roten Bärchen darauf und der Aufschrift, in rot gehaltenen Lettern, so deutlich, dass es sofort ins Auge fiel: - „Ich liebe dich.“
Direkt auf der Fußmatte vor unserer Eingangstür. Wir wunderten uns gewaltig.
„Wer hat die denn da wohl hingestellt?“ fragte Svenja teils zögerlich, teils erfreut. Von allen Seiten betrachteten wir die merkwürdige Tasse, aber fanden keine Erklärung. Es war kein Zettel daran, keine Karte, nichts, nur diese Tasse. Wer konnte sie nur vor unsere Eingangstür gestellt haben? Hatte die Nachbarin sie Tasse zufällig vergessen? Aber sie sah ganz neu und unbenutzt aus. Wer konnte das gewesen sein?
Während wir vor dem Fernseher saßen, machte sich jeder seine Gedanken. Leise entwickelten sich unterschiedliche Gedanken in den unterschiedlichen Köpfen. Die Tasse thronte mitten auf unserem Wohnzimmertisch. Wir kamen nicht umhin, sie immer wieder anzuschielen. Peter starrte angestrengt auf den Fernseher, aber ich konnte sehen, dass seine Stirn ganz angespannt war. Was dachte er nur?
„Woher kommt bloß diese verdammte Tasse? Die bringt ja richtig Wirbel. Na ja, Petra kann sie nicht bekommen haben, die kennt ja nur Leute aus der Nachbarschaft. Und einen Liebhaber… Nee, das traue ich ihr nicht zu. Sie kommt ja mittlerweile auch schon in ein Alter… Aber WER könnte das gewesen sein?
Da fällt mir ein, meine Kollegin im Büro guckt mich in letzter Zeit immer so nett an. Könnte…? Unmöglich! Ich war doch nur mal einen Kaffe mit ihr trinken, als unsere Kaffeemaschine kaputt war… Gut, wir haben uns nett unterhalten, und sie sieht ja auch super aus… aber schließlich bin ich ein verheirateter Mann. Außerdem – kennt sie überhaupt meine Adresse?“
Auch in Svenja begannen, Gedanken zu wühlen, sich aufzutürmen zu wahren Gedankengebäuden.
„ Wer hat mir die Tasse vor die Tür gestellt? Für Mama und Papa kann sie ja nicht sein. Die sind viel zu alt für so was. Wenn das der Sven war, der aus der Nachbarschaft… Immer, wenn ich zum Schulbus gehe, geht er so nah hinter mir her und guckt so komisch… Wenn der das war – das fände ich total süß. Vielleicht will er ja was von mir? Wäre ja nicht schlecht, er hat so ein cooles Outfit, immer die neusten Klamotten. Und seine kinnlangen Haare finde ich krass. Ich werde morgen mal etwas zurück bleiben, und so tun, als stolpere ich. Mal sehen, was er dann macht…“
Auch ich kam ins Überlegen:
„Habe ich es etwa übertrieben mit dem Typen aus der Schreiber Gruppe? Ich wollte doch nur nett zu ihm sein. Ständig ruft er jetzt an, mailt mir seine ganzen Gedichte und vorgestern kam er auch noch bei uns vorbei. Unangemeldet. Nur gut, dass Peter zu Hause war und ich noch einen Termin hatte. Trotzdem blieb er einfach sitzen und redete und redete und redete. Peter hat sich fast zwei Stunden mit ihm unterhalten und war nachher ziemlich angetrunken und total genervt. Aber so dreist, mir eine Tasse vor die Tür zu stellen , kann er doch wohl nicht sein, oder? Und wenn? Ist eh nicht mein Typ. Außerdem … Ich bin eine verheiratete Frau.“
So oder so ähnlich gaben wir uns unseren Gedanken hin, unseren Träumen, erwogen sie hin und her, schmeckten sie mal süß, mal herb, um sie dann wieder vollkommen rational zu verwerfen. Und doch machte sich in jedem von uns eine ungewisse Sehnsucht breit, ein Gefühl, wie es wäre, etwas anderes zu leben, als das was wir taten.
Plötzlich klingelte das Telefon. Ich nahm ab. Unsere große Tochter, die im Nachbardorf wohnte, war am Apparat. „Na, ist die Tasse angekommen?“ – „Die Tasse … welche Tasse … ach ja, die Tasse.“
Alles horchte auf. Peter und Svenja schauten sich irritiert und etwas verwirrt an.
„Das ist Conny.“ erklärte ich, und zum Telefon gewandt: „Du warst das mit der Tasse? Du hast sie dahin gestellt? Wir haben uns vielleicht Gedanken gemacht.“ Zu den beiden völlig Verwunderten klärte ich nun dieses Geschehnis mit einem Ton der Erleichterung auf: „Es ist Conny. Sie hat die Tasse für ihre kleine Schwester auf die Matte gestellt.“
Nach einem Moment des perplexen Schweigens grinste mein Mann, lächelte meine kleine Tochter, wenn auch etwas wehmütig. Auf einmal war der Bann gebrochen. Wir brachen alle drei in erleichtertes heiteres Lachen aus. Wie lässt man sich doch manchmal von Gedanken und Träumen und Wünschen an der Nase herumführen. Die Tasse bekam einen Ehrenplatz auf der Anrichte im Wohnzimmer. Und immer leuchten uns jetzt die roten Lettern an:
„Ich liebe dich“
(Die Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit, die mir vor einigen Jahren meine Freundin erzählt hat. Mit ihrer Erlaubnis durfte ich das Thema verwenden.)
Autor:Ingrid Dressel aus Bochum |
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