Der pechschwarze Schatten

Schade, dass der Sommer vorbei war. Die Tage wurden kürzer. Das goldene Herbstlaub an den lackschwarzen Bäumen lichtete sich bei jedem neuen regenschweren Sturm. Kahl, unfreundlich sahen die Straßen aus, der Himmel, die Bäume. Wie von einem trüben Grauton überzogen.
Allerheiligen besuchten wir immer die Zigeunergräber auf dem Gelsenkirchener Hauptfriedhof. Wunderschön romantisch waren die vielen Lichter, die dort die großen Marmorplatten zierten. Viele Friedhofsbesucher machten einen Umweg von ihrem zu betreuenden Grab und gingen dort vorbei. Natürlich dezent, weil man die Menschen ja nicht in ihren tiefen Gefühlen verletzen wollte.
An einem späten Nachmittag, als es trübe, aber trocken war, unternahm ich einen Spaziergang auf unserem kleinen Friedhof.
Die Gräber waren schon geschmückt, teils für Allerheiligen, teils für Totensonntag. Gestecke mit Tannengrün und Kerzen, Distelfrüchten und Schleifen zierten die Gräber. Ich las einige der verwitterten Grabsteine. Ein barocker Steinengel wies auf einen Spruch aus dem Neuen Testament. Langsam ging ich durch die Stille, vorbei an Sträuchern, Thujas und Tannenbäumen und dem nun schon kargen Rasen.
Da bemerkte ich: Hinter mir ging jemand! Ich drehte mich um, sah aber nur die Gräberreihen entlang des Weges. Da war doch jemand!
Meine Schritte beschleunigten sich. Aber da war jemand! Irgendetwas verfolgte mich. Ich konnte nicht ausmachen, wer oder was es war, aber dass es da war, dessen war ich sicher. Schon fehlte mir der Mut, mich abrupt umzudrehen. Ich hastete über den Friedhof, durch unsere kleine Siedlung. Nur nach Hause! Doch so sehr ich mich auch bemühte, es war und blieb hinter mir
Mehr fühlte ich es, als dass ich es sah: Ein langer schwarzer Schatten. Er begleitete mich, schlich hinter mir die Treppen hinauf und nahm in meiner Wohnung Platz. Nicht, dass er sie ganz ausfüllte. Aber er hielt sich in meiner Nähe auf. Ging ich in die Küche, war er da, legte ich mich auf die Couch, war da der Schatten. Selbst, wenn ich ins Bett ging, verfolgte er mich. Dunkel, schwarz. Pechschwarz. Wenigstens beim Einschlafen wollte ich ihn los sein. Ich betete intensiv, aber der Schatten ließ sich nicht beeindrucken. Wenn ich mich bemühte, konnte ich sogar schwarzbraune Augen irgendwo in dem Ungetüm erkennen. Manchmal. Aber nur manchmal. Ich konnte nichts tun, ich entrann ihm nicht. Manchmal drehte ich mich ruckartig um, in der Hoffnung, er sei nicht mehr da. Weit gefehlt. Da stand, lag, saß er, je nachdem, wie ich blickte. Manchmal rollte er sich auch kaum merkbar in einer Ecke des Zimmers zusammen. Besonders schien ihm zu gefallen, wenn ich Webers „Freischütz“ hörte. Die Szene in der Wolfsschlucht, in der der Tenor sang: „Nein, länger trag ich nicht die Qualen… für welche Schuld muss ich bezahlen…“ Dann schien er sanft und ruhig, so unaufdringlich, dass ich mich fast an ihn gewöhnen konnte. Doch schon forderte er wieder meine ganze Aufmerksamkeit.
Das Seltsame war, ich konnte ihn auch riechen, den Schatten. Ich roch es quasi, wenn er neben mir war, auch wenn ich ihn dann zu diesem Zeitpunkt nicht sehen konnte. Er roch nach Moder, Fäulnis, wie ein nasses Moor im Herbstregen.
Manchmal kam es mir vor, als sei er ärgerlich auf mich. Es war so, als höre ich ein deutliches Brummen aus seiner Richtung. Ich dachte darüber nach, ob mein Ohrenarzt wohl bei mir einen Tinitus feststellen könnte, verwarf es aber schnell wieder.
Abends ging ich gerne ein paar Schritte um den Block. Aber, ob Sie es glauben oder nicht, der schwarze Schatten war auch dann dabei. In jedem dunklen Baum saß er und schwang sich von Ast zu Ast, breitete sich vor mir aus oder ich spürte seinen faulen Atem im Rücken.
Ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte und rief die Telefonseelsorge an. Aber die ließen mich nur reden und erklärten mir freundlich, einen Psychiater aufzusuchen. Ich war doch nicht verrückt! Ich wurde nur von einem Schatten verfolgt, den ich mir auf dem Friedhof zugelegt hatte.
Der Psychiater guckte mich halb gelangweilt, halb wissend an und verschrieb mir Medikamente. Wenn ich eine von diesen Pillen nahm, schlief ich schnell ein – aber nicht ohne den Schatten. Er hatte sich am Fußende meines Bettes zusammengerollt. Was sollte ich machen? Im Radio sang Neill Young: “Paranoia strikes you deep; into your heart it will creep. It starts, when you ´re always afraid…”
Eines Tages kam Frau Schulze aus dem Nachbarhaus zu Besuch. Der Schatten sprang sie sofort an, wickelte sie ganz ein, umgab sie mit einem Schattenschein, dort, wo die Heiligen ihre Haupteskrone haben. Frau Schulze blieb nicht lange, aber sie nahm den Schatten mit. Er wandte sich hinter ihr die Treppe herunter, als sie ging. Jetzt wohnte er bei ihr. Ich sah sie, wie sie sich auf der Straße des Öfteren abrupt umdrehte. Sie sah blass aus. Und eines Tages stand ein Krankenwagen vor ihrer Tür und Sanitäter brachten sie auf einer Bahre hinaus.

Mir geht es seitdem gut. Der Psychiater sagt, ich könne die Medikamente absetzen. Unbeschwert gehe ich in die Wanne, ins Bett oder mache kleine Spaziergänge. Nur den Friedhof meide ich.

Autor:

Ingrid Dressel aus Bochum

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