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Aus den Anfängen der Gerther Schulgeschichte am Norrenberg - Von Gerd und Ilse Kivelitz (2000)

Foto: Privatsammlung Ilse und Gerd Kivelitz
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Die erste Gerther Schule am Norrenberg wird abgerissen und durch eine Wohnbebauung ersetzt. Über die Gründung und die Zeiten der Schulanfänge in Gerthe erzählt und berichtet aber ein wunderbarer Artikel, verfasst von Gerd und Ilse Kilelitz, aus dem Jahre 2000. Ich danke besonders Ilse Kivelitz, dass ich diese Arbeit und die dazugehörigen Fotos aus der Privatsammlung hier verwenden darf.

Mehr Infos und Bilder von der jetzigen Norrenbergschule gibt es hier

An der Wand hing links neben dem Kruzifix das Bild von Kaiser Wilhelm...
Aus den Anfängen der Gerther Schulgeschichte am Norrenberg

Von Gerd und Ilse Kivelitz (2000)

Die Bildungslandschaft im Bochumer Norden bot lange Zeit ein wenig eindrucksvolles Bild.

Dıe ersten Bemühungen, den Kindern der Gerther Bauernschaft feste Bildungsmöglichkeiten einzuräumen, gehen in bescheidenen Ansätzen auf das Ende des 17. Jahrhunderts zurück. Da Gerthe zu dieser Zeit zum Kirchspiel Harpen gehörte, besuchten seine Schulkinder die Schule der dortigen Pfarrei an der Vinzentius-Kirche. Die dortige erste Schulstelle war lange Zeıt mit der Küsterei verbunden. Sie stand auf der Südseite des Kirchhofes. Erster Schulmeister war der Lehrer Friedrich Conrad Gunzelius, der um 1720 in der mit der Küsterei vereinigten „alten Schulhütte“ unterrichtete, einem „Schulgebäude“, das nach des Herrn Pastors Flocke „in die Kategorie der elendsten Bettelhütten“ gehörte, „die auf der Welt existieren“ (Helmut Bremer, 1990). Zweimal wegen Altersschwäche abgebrochen und wiederaufgebaut, zuletzt ın den Jahren 1809-10, stand sie ab 1838 auch den Kindern aus der Gerther Bauernschaft zur Verfügung, die sie über den gleichen Weg, auf dem sie Sonntags nach Harpen zur Kirche gingen, erreichten, nämlich über den Kiärkpad, der heutigen Kirchharpener Straße.

Die erste Gerther Volksschule entstand konsequenterweise da, wo sich die Bauernschaft Gerthe befand, nämlich am Norrenberg, der nichts anderes als eine Verlängerung des Kornweges darstellt an dem sich der Großteil der Höfe noch heute befindet. Eine Ausnahme galt für die schulpflichtigen Kinder an den Gemarkungsgrenzen von Flur I, etwa von Haus Blome (s.d.) in der Gerther Heide, oder für Kinder aus bereits gebauten sog. Einwohnerhäusern nördlich der alten Bauernschaft. Diese besuchten die 1858 erbaute Hiltroper Schule. Das Schulgebäude, ein Privathaus, das neben der Wirtschaft „Hubbert“ stand, war von der Gerther Heide nur über einen „jämmerlichen Karrenweg“ zu erreichen, der den Schulpflichtigen mit der „damaligen ganz primitiven Fußbekleidung recht viel Schwierigkeiten bereitete“ (Dat olle Hıldorp und das Hiltrop, Werkszeitung Lothringen, Nr. 15, Seite 5 vom 24.7.1937).

Der Bau der ersten Gerther Volksschule geht auf eine Regierungsverfügung von 1871 zurück als sich die selbständig gewordene Gemeinde, die sich aus der Bauernschaft Gerthe, der Ecksee, Berghofen, der Berghofer Heide, dem Norrenberg, Cöppencastrop und der Gerther Heide zusammensetzte, zum Bau einer eigenen Schule entschloss. Diese war unabdingbar nötig geworden, weil der ständige Zuzug von Bergarbeitern ein starkes Anwachsen der Schülerzahl erwarten ließ und diesen der weite Weg nach Harpen nicht mehr zuzumuten war.
Bereits im Jahr 1871, just in dem Jahr, wo auf dem Betriebsgelände von Lothringen der Schacht I abgeteuft wird, erzielt die Gemeindevertretung von Gerthe eine Einigung über den Bauplatz am Norrenberg. Vom Landwirt Schulte-Mausbeck erwirbt sie zum Preis von 1260 Thalern ein Grundstück von der Größe eines Preußischen Morgens. Das einstöckige, längliche Gebäude wird von einem Bauunternehmer aus Langendreer zum Preis von 5400 Thalern erbaut.

Das Schulgebäude ist schmucklos, mit großen Fenstern ausgestattet, kann beheizt werden und enthält ein Klassenzimmer für die Unterrichtung von mehr als 50 zu erwartenden Kindern.

Eın kurzer Datenkranz in Zeitraffer aus den „Kinderjahren" der Schule sieht so aus:

04.09.1871: Die Gerther Gemeindevertretung wählt zum ersten Lehrer der ersten Gemeindeschule den Lehramtskandidaten Karl Enke.
21.10.1871: Karl Enke wird in sein Amt eingeführt.
23.10.1871: Unterrichtsbeginn mit einer Gesamtzahl von 74 Gerther Schulkindern in dem gemieteten Lokal des Schreiners Lindemann in der Ecksee. Der Bezug des neuen Schulgebäudes am Norrenberg wird für das nächste Jahr In Aussicht gestellt.
30.09.1872: Einweihung des neuen Schulgebäudes und Schlüsselübergabe an den Lehrer Karl Enke als verantwortlichen Schulleiter.
01.11.1874: Lehrer Karl Enke wechselt zu einer Privaten Rektoratsschule nach Lütgendortmund.
22.12.1874: Als sein Nachfolger wird der Lehrer Gustav Muenk aus dem Siegerland gewählt und in sein Amt eingeführt.
14.06.1877: Die Schülerzahl steigt auf 115, so dass die Halbtagsschule eingeführt werden muss, weil sich die Aufstellung einer zweiten Klasse als unvermeidbar erweist. Als der Ruf nach einem zweiten Unterrichtsraum ungehört verhallt, werden beide Klassen in einem Schulraum nacheinander unterrichtet.
23.06.1878: Schulvorstand und Gemeindevertretung beschließen die Anstellung einer zweiten Lehrkraft. Gehalt: 1050 Mark und 150 Mark Mietsentschädigung.
27.11.1882: Einrichtung einer zweiten Schulklasse. Als zweiter Lehrer wird der Schulamtspräparand N.N. eingestellt. Erst 1883 wird die zweite Lehrerstelle von der zuständigen Regierung in Arnsberg mit dem seminaristisch ausgebildeten Lehrer Heinrich Thomas voll besetzt.
02.09.1883: Der Bau eines zweien Klassenzimmers ist vollendet, das an diesem Tag eingeweiht und seiner Bestimmung übergeben wird.
30.10.1891: Infolge des sprunghaften Bevölkerungsanstiegs in den 80er Jahren und einer entsprechend starken Zunahme der Schülerzahl wird der Bau einer zweiten Schule auf dem Norrenberg mit vier Klassen erforderlich. Die alte Schule wird zu Wohnzwecken verwendet.

Ein kurzes Wort zu den innerbetrıeblichen Verhältnissen am Norrenberg : Der Unterricht litt andauernd einmal unter der hohen Klassenfrequenz. Mehr als 50 Schüler und Schülerinnen pro Klasse waren jahrzehntelang die Regel. In der Anfangsphase der Einklassigkeit saßen alle Schüler (allgemeine Schulpflicht von 6-14 Jahren) in dem einen Klassenraum auf Holzbänken, jahrgangsweise geordnet, die kleinsten ganz hinten. Wer sein Klassenziel erreicht hatte, durfte eine Bank nach von rücken: er war versetzt. Wer eine „Ehrenrunde drehen“ musste, verblieb auf seinem Platz: er war sitzen geblieben.

Gesamtpädagogisch schädlich war auch die starke Fluktuation im „Lehrkörper“. Immer wieder gab es nach der nur dreijährigen Amtszeit von Lehrer Enke infolge von plötzlichen Versetzungen, Erkrankungen, Todesfällen, Amtsenthebung und Versetzung in den Ruhestand - weibliche Lehrkräfte mussten im Falle einer Verheiratung sofort ihren Dienst quittieren - beklagenswerte Unterrichtsausfälle und lange Einarbeitungszeiten, zum
Teil von Kandidaten, die sich noch in der Ausbildung befanden.

Die Innenausstattung des einzigen Klassenraumes war mehr als spartanisch. An der Wand hing links neben dem Kruzifix ein Bild von Kaiser Wilhelm. Eine einzige Landkarte, ein Tafelbild und ein ausgestopfter Fuchs gehörten zu
den einzigen schuleigenen Unterrichtsmitteln.
Statt einer Zentralheizung gab es den Kohleofen, die hygienischen Verhältnisse (Toiletten, Waschmöglichkeiten) waren schlecht, und neben den grundsätzlichen Problemen der Einklassigkeit gehörten unzureichende Pausen-Spielplätze und ein ständiger Raummangel infolge der sprunghaft ansteigenden Schülerzahlen zum Schulalltag.

Dass es sich bei der ersten Gerther Volksschule um eine preußische Erziehungsanstalt, gekennzeichnet von „Pauken und Prügel“ gehandelt hätte, ist sicherlich eine Übertreibung. Auf dem Pult lag unübersehbar der Rohrstock, für reformpädagogische Ideen, wie Selbsttätigkeit, Selbstbestimmung etc., war ganz einfach die Zeit noch nicht reif.

Schwierig im Sinne eines konfliktfreien „Schulwesens“ gestaltete sich die Unterrichtung der Kinder der zugezogenen Posener und Westpreußen, die in staatsrechtlichem Sinne zwar Deutsche waren, sich von der Nationalität her, wie die zugezogenen polnischen Arbeiter auf Lothringen selbst, als Polen verstanden. Sie waren aus bäuerlichen Gebieten Polens und den östlichen Rändern des Reiches nach Gerthe geströmt und überwiegend katholisch. Bereits 1895 gehörte fast die Hälfte der Schulkinder vom Norrenberg der polnisch sprechenden „Minderheit“ an, die von der Lothringer Bergwerksgesellschaft mit großen Versprechungen nach Gerthe gelockt worden war. Das Kruzifix links neben dem Schirmherrn der kleinen und ersten „Bildungsanstalt“ war indes ein evangelisches. Das Lesebuch - übrigens das einzige Lehrbuch - besang das deutsche Vaterland und feierte die Muttersprache, welche die polnischen Kinder erst noch lernen mussten.

Unterricht in ihrer wirklichen Muttersprache, polnisch, war strikt verboten.
Die Frage der Nationalität der Zuwanderer hatte die Großmachtpolitik des Reiches längst erledigt: die polnischen Kinder waren wie die aus Posen und Westpreußen Deutsche, und die Verordnung der preußischen Schulverwaltung war strikt darauf anzuwenden, da die polnische Minderheit eingedeutscht werden müsse. Die Schulpolitik in Gerthe war gleichwohl polenfreundlicher als in den Schulen des weiteren westfälischen Raumes, obwohl es eine Legende ist, wenn das Zusammenleben der Einheimischen mit der polnischen Minderheit als problemlos bezeichnet wird.

Die Gesamtproblematik der polnischen Minderheit in der Gerther Schulpolitik der Folgejahre und der rasante Ausbau des Schulwesens in den Blütejahren des Steinkohlenbergbaus wird einem weiteren Gerther Heimatbuch vorbehalten bleiben, das sich mit der Entwicklung des örtlichen Schulwesens
ausführlicher und detaillierter beschäftigen wird.

Als die mittlerweile vierklassige Schule II am Norrenberg im Jahre 1897 die Gesamtzahl von 280 Schülern erreicht und in den nächsten Jahren ein weiteres explosionsartiges Anwachsen der zu unterrichtenden Kinder droht, wird die Not, ein größeres Schulhaus zu beziehen, immer größer. Im Jahre 1905 wird eine neue Schule an der damaligen Otto-Straße (heute Klüsenerstraße) bezugsfertig, muss aber schon bald wieder aufgegeben werden, weil die Zechenabgase die Gesundheit der Kinder in den neuen Schulräumen zunehmend gefährden. Das Schulgebäude wird 1908 an Lothringen verkauft, das es zu Wohnzwecken nutzt.

Der Ortswechsel von 1908 war möglich geworden, weil das neue Zentralschulsystem an der Heinrichstraße rechtzeitig vollendet werden konnte. Hier wurden alle evangelischen Einwohner in acht Klassen von 5 Lehrern und drei Lehrerinnen unterrichtet.
Die katholischen Einwohner Gerthes besaßen bis 1898 keine Schule ihrer Konfession. Eine solche wurde erst 1899 am Heuweg (heutige Gerther Straße) gebaut. Diese erste katholische Volksschule in Gerthe, die „Heuwegschule“ wurde 1907 und 1923 bis auf ihre jetzige Größe erweitert.

Die beiden schulischen Urgesteine am Norrenberg sind noch heute (2000) als städtische Wohn- und Mietshäuser zu besichtigen. Sie stehen am Eingang zum Landschaftsschutzgebiet der Stemke als eine verblassende Erinnerung an jene Zeit, als Gerther Kinder zum ersten Mal eine Schule in ihrem Heimatort besuchen durften.

Gerthe (Band I) – Was die Steine uns erzählen
Ein heimatliches Lesebuch
Herausgegeben aus Anlass der 25-jährigen Bestehens der Bezirksvertretung Bochum-Nord
(1975-2000)

Impressum

Herausgeber Die Autoren im Auftrag und mit Unterstützung der Bezirksvertretung Bochum-Nord

Redaktionelle Bearbeitung Dr. Theodor Droste, Ilse und Gerd Kivelitz

Autoren Dr. Theodor Droste, Ilse und Gerd Kivelitz, Dr. Christoph Kivelitz

Bildnachweis Privatsammlung Ilse und Gerd Kivelitz

ISBN 3-9803376-4-2
Druck Bochumer Kulturverlag Katzer & Bittner Gbr, Bochum 2000
Auflage600

Infos zum Abriss der Norrenbergschule im Mai 2020 gibt es hier

Autor:

Klaus Gesk aus Bochum

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