Sozialarbeiter berichten von ihrer Arbeit
Von der Fürsorge zur Beratung

Von der Fürsorge zur Beratung von Menschen mit psychischen Erkrankungen und Suchtproblemen: Die Sozialarbeiterinnen Britta Bortz-Richter (1.v.l.) und Angelika Winkelhues (1.v.r.), Sozialarbeiter Thomas Herde (2.v.l) und Lothar Buddinger, Leiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes, zeigen die Entwicklung der vergangenen 40 Jahre auf. Foto: Ulla Erkens/Märkischer Kreis.
  • Von der Fürsorge zur Beratung von Menschen mit psychischen Erkrankungen und Suchtproblemen: Die Sozialarbeiterinnen Britta Bortz-Richter (1.v.l.) und Angelika Winkelhues (1.v.r.), Sozialarbeiter Thomas Herde (2.v.l) und Lothar Buddinger, Leiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes, zeigen die Entwicklung der vergangenen 40 Jahre auf. Foto: Ulla Erkens/Märkischer Kreis.
  • hochgeladen von Andrea Rosenthal

Seit mehr als 40 Jahren berät Sozialarbeiterin Angelika Winkelhues Menschen mit psychischen Erkrankungen und Suchtproblemen im Märkischen Kreis. Gemeinsam mit Britta Bortz-Richter und Thomas Herde vom Sozialpsychiatrischen Dienst schildert sie, wie sich ihre Arbeit seit den 80-er Jahren verändert hat.

Im Team des Sozialpsychiatrischen Dienstes des Märkischen Kreises an der Werdohler Straße in Lüdenscheid ist Angelika Winkelhues (65 Jahre) Dienstälteste. Am 1. April geht sie zeitgleich mit ihrer Kollegin Britta Bortz-Richter (60 Jahre) und am 1. Juli gefolgt von Thomas Herde (64 Jahre) in den Ruhestand. Alle drei haben Sozialarbeit studiert und in den 80er-Jahren ihren Dienst in der damaligen Fürsorgestelle des Märkischen Kreises angetreten. Irgendwie wirken sie im Rückblick alle drei überrascht, wie schnell die Jahre vorbeigeflogen sind und welche grundlegenden Veränderungen sie erlebt haben. Ihre einhellige Meinung: „Es war eine spannende Zeit“.

„Mädchen für alles“

„Nach meinem Studium war ich nur ein halbes Jahr arbeitslos“, sagt Angelika Winkelhues und schätzt sich heute noch glücklich, sich Anfang der 80er Jahre gegen eine Schar von  Bewerbern durchgesetzt zu haben. Vielen Geisteswissenschaftlern, darunter auch Sozialarbeitern und angehenden Lehrern, drohte damals die Arbeitslosigkeit. Am 1. September 1982 hatte Angelika Winkelhues ihren ersten Arbeitstag im Kreishaus Altena. Der Kreis war damals gerade sieben Jahre jung und das Lüdenscheider Kreishaus noch nicht gebaut. Winkelhues wurde der Fürsorge- und Beratungsstelle des Gesundheitsamtes in Plettenberg zugewiesen, die auch für Neuenrade zuständig war.

Neben dem Aufgabengebiet psychische Erkrankungen und Suchterkrankungen waren noch viele Anforderungen aus dem Bereich des Gesundheitsamtes zu erledigen. Psychisch Kranke wurden zu dieser Zeit noch häufig entmündigt und oft in Kliniken fern ihres sozialen Umfelds behandelt. Es war eher eine Anlaufstelle für Leute mit Problemen aller Art. „Dort war ich Mädchen für alles“, erklärt die 65-Jährige. Ob es um „Leichenwasser“ vom Friedhof, Flöhe oder die Gabe von Fluoretten gegen Rachitis und Karies bei Kindern, Angelegenheiten von Behinderten, Schwangerschaftskonfliktberatung, die Prüfung von Pflegebedürftigkeit und die Gewährung von Pflegegeld ging - Ansprechpartner waren immer die Sozialen Dienste in Zusammenarbeit mit dem Amtsarzt.

„Ein großes Thema war damals auch Tuberkulose“, erinnert sich Winkelhues, die seinerzeit bei Umgebungsuntersuchungen ganze Straßenzüge unter die Lupe genommen hat. Auch Thomas Herde, der im März 1986 als Sozialarbeiter zum Märkischen Kreis kam, ist die Zeit mit den sperrigen Röntgenapparaturen noch präsent. Das Thorax-Röntgenbild war das wichtigste diagnostische Hilfsmittel der Früherkennung der ansteckenden Lungenerkrankung. „Es gehörte zu unserer Arbeit mit dazu und es war auch spannend. Auch wenn wir im Hinterkopf dachten, das möchte ich so nicht auf lange Sicht machen‘“, blickt Thomas Herde zurück.

„Alkoholsucht wurde gerne totgeschwiegen“

Zum Kernaufgabengebiet gehörte aber schon damals das Thema Suchthilfe, wenn auch unter etwas anderen Vorzeichen als heute. „Alkohol war damals in der Gesellschaft akzeptiert und wurde sogar in den Betrieben geduldet. Alkoholsucht wurde gerne totgeschwiegen“, erzählt Britta Bortz-Richter, die ebenfalls seit 1986 beim Märkischen Kreis arbeitet und zunächst für Halver und Schalksmühle zuständig war. Die Fürsorgestelle wurde oft erst eingeschaltet, wenn es bei der Arbeit gar nicht mehr ging und sich die Betroffenen in einem miserablen Zustand und kurz vor der Kündigung befanden.

Es war die Zeit der Trinkerheilanstalten. Suchtkranke wurden zu dieser Zeit oft entmündigt. „Es soll vor unserer Zeit eine Fürsorgerin gegeben haben, die durch die Kneipen streifte und den Wirten einschärfte, welche von ihren ‚Schützlingen‘ genug getrunken hatten und nach Hause gehen sollten“, wirft Bortz-Richter ein.

„Dieses mütterlich unter ihren Fürsorgemantel nehmen und ihren Schützlingen das Leben zu erklären, war typisch für das Selbstverständnis der damaligen Fürsorge“, kommentiert Lothar Buddinger, Leiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes. Dieser Bevormundung entgegen stand bereits damals der Anspruch der Sozialarbeiter, gemeinsam mit ihren Klienten Lösungswege und Handlungsstrategien zu entwickeln. Doch in den 80-er und 90-er Jahren gab es noch wenig Unterstützung durch Selbsthilfegruppen, Entgiftungskliniken waren rar, ambulant betreutes Wohnen, Werkstätten für Behinderte oder Tagesstätten Fehlanzeige.

Dafür gab es in der Kreisverwaltung eine Umstrukturierung: Nach der Idee „Sozialarbeit aus einer Hand“ wanderten Winkelhues, Bortz-Richter und Herde vom Gesundheitsamt zu den Sozialen Diensten des Jugendamts, waren aber nach wie vor den Ärzten des Gesundheitsamtes zugeordnet. „Da gehörten wir nicht hin“, sind sich die Sozialarbeiterinnen und der Sozialarbeiter heute sicher.

Ambulante Hilfen haben Vorrang

Ende der 90-er Jahre erhielten ambulante Hilfen zunehmend Vorrang vor stationären. Den Stein ins Rollen gebracht hatte, so Lothar Buddinger, die Psychiatrie Enquete bereits 1975. Eine Expertenkommission hatte hierin Leitlinien zur Reform der Psychiatrie formuliert, die die Selbsthilfe und Bürgerhilfe stärkte. 1990 nahm die Bundesregierung Stellung zu den Empfehlungen der Expertenkommission. Ziel war eine Reform der Versorgung im psychiatrischen und psychotherapeutischen/psychosomatischen Bereich.

Die Experten empfahlen, flächendeckend einen „Sozialpsychiatrischen Dienst“ aufzubauen. In multiprofessioneller Besetzung sollten hier „Aufgaben der Vorsorge, Nachsorge und Krisenintervention im ambulanten Bereich“ möglichst unter Leitung eines Arztes für Psychiatrie erfüllt werden. Gleichzeitig sollte das Angebot an den Bedürfnissen psychisch Kranker, Suchtkranker und Behinderter ausgerichteten Hilfen ausgebaut werden, um eine angemessene „Rehabilitation und Eingliederung in das Arbeitsleben zu sichern“. „Damit änderte sich auch nach und nach die Einstellung gegenüber Menschen mit Behinderungen, psychischen Erkrankungen oder Suchtproblematiken entscheidend“, meint Buddinger. Sie wurden zunehmend als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft behandelt.

Auch im Märkischen Kreis rückte ambulantes Wohnen Ender der 90-er Jahre mehr in den Blick. Psychisch Kranke, die jahrzehntelang in einer Klinik untergebracht waren, wurden Unterstützungsangebote gemacht, die ihnen ein selbstbestimmteres Leben in den eigenen vier Wänden ermöglichten. Selbsthilfegruppen erstarkten und wurden mit viel persönlichem Engagement der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Sozialpsychiatrischen Dienst, der beim Märkischen Kreis im Jahr 2000 unter Leitung von Lothar Buddinger etabliert wurde, unterstützt. Im Sozialpsychiatrischen Dienst wurden Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen mit Ärzten und Verwaltungsfachkräften zu einem Team zusammengezogen. Unterstützt wurde die Neuausrichtung durch die Novellierung des Gesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten NRW.

Förderung der Selbsthilfe

Es herrschte Aufbruchstimmung. Thomas Herde half mit, eine Freizeit- und Kontaktgruppe zu etablieren. Britta Bortz-Richter begleitete in Schalksmühle einen Patientenklub. Mit der Übernahme der Psychiatriekoordination wurde die regionale Vernetzung der Institutionen und Akteure vorangetrieben und systematisch am Ausbau des Hilfenetzes und der Freizeitangebote gearbeitet.

„Ende der 90-er Jahre hatten wir gerade mal 100 Betreuungsplätze für alle Menschen mit psychischen Erkrankungen und Behinderungen im Märkischen Kreis. Heute sind es 900“, zeichnet Herde die Entwicklung auf. Ausgehend von den individuellen Bedürfnissen wurden gemeinsam mit dem Betroffenen Maßnahmen und passgenaue Hilfsangebote entwickelt, die ihm so selbstständig wie möglich ein lebenswertes Leben ermöglichen sollten. An die Stelle von Bevormundung trat ein respektvoller Umgang. In das Beratungsangebot wurden die Familie, Freunde und Arbeitskollegen miteinbezogen. Dass 2002 auch die Betreuungsstelle zum Aufgabengebiet hinzukam, wertet Herde als Bereicherung.

„Im Sozialpsychiatrischen Dienst waren wir nicht mehr Einzelkämpfer wie damals in der Fürsorgestelle. Heute arbeiten wir in spezialisierten Teams, geben uns gegenseitig Fall-Supervisionen und tauschen Tipps aus“, macht Britta Bortz-Richter die Vorteile deutlich. „Gleichzeitig konnten wir uns nach unseren Stärken spezialisieren. Es muss nicht mehr jeder alles können“, erklärt Herde. Auch war mehr selbständiges und eigenverantwortliches Arbeiten gefragt als in der Fürsorgestelle. „Wobei wir viel learning by doing gemacht haben…“, sagt Angelika Winkelhues. „Aber auch viel durch den Austausch mit Ärzten gelernt haben“, ergänzt Bortz-Richter. Dabei gibt sich der Sozialpsychiatrische Dienst eigene Arbeitsrichtlinien und macht sie in seinem Konzept transparent, das regelmäßig überarbeitet wird.

Lothar Buddinger bedauert, dass mit den drei Sozialarbeitern nun viel Kompetenz und Erfahrung mit in den in wohlverdienten Ruhestand geht. Angelika Winkelhues, früher leidenschaftliche Tischtennisspielerin, möchte sich mehr ihrem Garten widmen und mehr Sport gucken. Britta Bortz-Richter freut sich auf mehr Freiraum für ihre Hobbys und ihre Reisen. Und bei Thomas Herde wartet bereits das Wohnmobil auf ausgiebige Ausflüge.

Autor:

Lokalkompass Menden-Fröndenberg-Balve-Wickede aus Menden (Sauerland)

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