Fast 1.600 Todesopfer?
Vor 75 Jahren: Der Tag der Möhnekatastrophe
75 Jahre sind am morgigen Donnerstag seit dem Tag der Möhnekatastrophe vergangen. Ein Blick zurück von Fröndenbergs Stadtarchivar Jochen von Nathusius, der auf Bitte des Stadtspiegels die Geschehnisse in Wort und Bild rekapituliert hat.
Von Jochen von Nathusius
Der 17. Mai 1943 war ein schwarzer Tag in der Fröndenberger Geschichte.
Um 0.49 Uhr detonierte in etwa 20 Meter Wassertiefe eine Rollbombe der britischen Luftwaffe an der Staumauer des Möhnesees und unvorstellbare Wassermassen ergossen sich zuerst in das Möhnetal und ab Neheim dann in die Ruhr.
Nach damals offiziellen Angaben kamen 1.285 Menschen ums Leben, neuere Forschungen gehen von fast 1.600 Toten aus, darunter mehr als 1.000 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Lagern entlang der Ruhr von Neheim bis Herdecke.
Gleichwohl in allen Zeitzeugenberichten übereinstimmend von einer sonntäglichen Frühlingsidylle am vorausgegangenen Muttertagssonntag die Rede ist, war diese Idylle wohl eher eine „gefühlte“ Idylle im nachträglichen Vergleich mit der wenige Stunden später hereinbrechenden Katastrophe.
Nahezu alle wehrfähigen Väter, Brüder, Vettern und Onkel waren im Frühsommer 1943 eingezogen, zehntausende von Soldaten waren bereits an den Fronten gefallen, Stalingrad lag etwa fünf Monate zurück, die Afrikafront war zusammengebrochen und fast jede Nacht luden die Bomberverbände der Britischen Luftwaffe (RAF) über Deutschlands Großstädte ihre tödliche Fracht ab. Die Firmen produzierten nahezu ausschließlich nur noch für die Rüstung, die letzten wenigen Angehörigen jüdischer Familien waren im Sommer 1942 deportiert worden, seit nahezu vier Jahren lebten die Deutschen „Volksgenossen“ schon mit Lebensmittelmarken und Rationierungen aller Art, dafür aber Tag für Tag beschallt mit Durchhalteparolen, vermeintlichen Siegesmeldungen und Endsiegeuphorie.
Auch für die mehr als 3.000 Zwangsarbeiter/innen im gesamten betroffenen Verlauf des Möhne- und Ruhrtals verlief der Muttertag sicherlich nicht allzu idyllisch.
Etwa gegen 2.30 Uhr erreichten die Wassermassen das Amt Fröndenberg.
Gegen 4 Uhr, die Wassermassen hatten den Scheitelpunkt erreicht, knickten die Leitungsmaste der Starkstrom-Überlandleitung (25.000 Volt) im Ruhrtal bei Fröndenberg um und der grelle Blitz des Kurzschlusses beleuchtete für Sekunden die Szenerie.
Als der Krieg endgültig
in der Heimat angekommen war
Zur gleichen Zeit brach in Fröndenberg das Stauwehr des Möller-Kraftwerks und bereits bei sinkendem Wasserstand stürzte gegen 4.30 Uhr die doppelgleisige stählerne Eisenbahnbrücke der Strecke nach Menden in die Wassermassen; die wenige Meter entfernt flussaufwärts gelegene Straßenbetonbrücke war bereits zuvor eingestürzt und die Strömung hatte die Trümmer gegen die Bahnbrücke gedrückt.
Zerstört wurden damit die wichtigen Gas- und Fernsprechleitungen nach Menden.
8,20 Meter über Normal wurde später als höchster Wasserstand gemessen bei einer maximalen Breite der über die Ufer getretenen Ruhr von 3 Kilometern zwischen Menden-Bösperde im Süden und dem Fröndenberger Stadtzentrum im Norden. Die Höhe der Hauptflutwelle, die durch ihre Wucht und Geschwindigkeit Brücken und Gebäude zum Einsturz brachte, Bäume entwurzelte und Massen von Schlamm, Holz und Steinbrocken vor sich her wälzte, wurde von Augenzeugen unterschiedlich angegeben zwischen 3 und 5 Metern. Gegen 6 Uhr begann der Pegel spürbar zu sinken, jedoch versperrten noch um die Mittagszeit große Wassermassen und eine hohe Fließgeschwindigkeit die Rettungswege zu Eingeschlossenen und auf Hausdächern ausharrenden Bewohnern oder dort Angetriebenen.
36 Männer, Frauen und Kinder aus dem Amtsbezirk Fröndenberg kamen ums Leben, mit eingerechnet ein vermisstes Kind, dessen Leiche nie gefunden wurde. 29 Sterbefälle wurden im Standesamt beurkundet, sechs Sterbefälle in auswärtigen Standesämtern ruhrabwärts.
Einige Opfer starben in Ausübung ihres Dienstes in den Wasser- und E-Werken, so die Telefonistin Luise Beckmann, die am Arbeitsplatz ausharrte bis ihr der letzte Fluchtweg versperrt war.
Eine Mutter ertrank mit ihren vier Kindern, eine Großmutter mit ihrem Enkelkind. 20 der Opfer wohnten in Fröndenberg, sieben in Frohnhausen, vier in Altendorf, zwei in Dellwig; eine Person aus Langschede kam ums Leben.
Fatal war es, dass wenn überhaupt eine Warnung die Betroffenen erreichte, zunächst an einen Luftangriff gedacht und in Kellern Schutz gesucht wurde. Mutige Helfer rannten daher von Haus zu Haus, um die Bewohner aufzufordern, höher gelegenes Terrain zu erreichen und wenn es der eigene Dachboden war.
Das eigentliche Ziel der Briten, langfristig die Rüstungsproduktion im Ruhrgebiet auszuschalten, gelang jedoch nicht. Bereits im Spätherbst war die Staumauer wiedererrichtet worden und die gröbsten Schäden beseitigt.
Alle 18 Flugzeugbesatzungen der angreifenden Maschinen starben bei dem Einsatz oder bei späteren Einsätzen über Deutschland.
Trotzdem hatte die „Festung Europa“ ein klaffendes Loch bekommen und die Engländer hatten unter Beweis gestellt, jedes Ziel punktgenau in Deutschland treffen zu können. Bis heute werden die Männer um Commander Guy Gibson als Helden in ihrer Heimat gefeiert.
Für die Fröndenberger war am Morgen des 17. Mai endgültig der Krieg in ihrer Heimat angekommen, der noch fast zwei quälende Jahre weitergehen sollte, ehe Mitte April 1945 die Amerikaner einmarschierten.
Autor:Hans-Jürgen Köhler aus Menden (Sauerland) |
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