„fehlgeleitete Strafverfolgungspraxis“ Teil 1
Haupttäter - Täter - Mittäter - Schreibtischtäter - Mitwisser

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Ohne Ansehen der Person meinte früher, das vor dem Gesetz alle gleich bewertet werden. Aber Personen ohne Ansehen werden möglicherweise bevorzugt beurteilt? 
Nein, ein eigenes Urteil wage ich hier nicht. Aber selber denken und schreiben darf ich leise.

Der Bundesgerichtshof (Urteil des 5. Strafsenats, Az.: 5 StR 326/23) hat am 20.08.2024 ein Urteil gegen eine ehemalige KZ-Sekretärin (LG Itzehoe, 20.12.2022 - 3 KLs 315 Js 15865/16) für rechtskräftig erklärt. 
"Zwei Jahre Bewährungsstrafe wegen Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen sowie Beihilfe zum versuchten Mord in fünf Fällen - das Urteil gegen die ehemaligen Sekretärin am Konzentrationslager Stutthof, Irmgard F., ist rechtskräftig. Die Richterinnen und Richter des 5. Strafsenats am Bundesgerichtshof (BGH) in Leipzig haben am Dienstag die Revision gegen das Urteil des Landgerichts Itzehoe verworfen."

"Ein Anwalt der Nebenkläger sagte, das Urteil habe gezeigt, dass man sich auch mit einer Schreibmaschine schuldig machen könne. Der Anwalt der 99-Jährigen ist nach eigenen Angaben nicht überrascht, dass die Revision verworfen wurde. Er habe seiner Mandantin auch keine Hoffnung auf einen Freispruch gemacht." 

"Auch eine Schreibtischtäterin ist eine Täterin" 
Frühere KZ-Sekretärin Irmgard F. schuldig

Nur ein Bauernopfer?

Schuldfeststellung ist wichtig.

Die Grenzen zwischen Schuld und Unschuld verwischen zu oft.

Das Urteil des Landgericht Itzehoe hat mit dem umfangreichen Urteil (101 Seiten) sicher einen wichtigen Beitrag zur geschichtlichen Aufarbeitung der Konzentrationslager geleistet. 

Wie weit die damals 18/19 jährige Bürohelferin Irmgard Furchner der "Beihilfe zu 10.505 Fällen des Mordes und fünf Fällen des versuchten Mordes" schuldig ist . . . ?
Auch wenn das Strafmaß mit einer Jugendstrafe von zwei Jahren auf Bewährung unbedeutsam erscheint.

Zwar schildert das Urteil auf vielen Seiten das grausame Schicksal der Opfer, wohl auch durch die Berichterstattungen der Nebenkläger, aber der direkte Bezug zur Angeklagten beschränkt sich auf Auszüge wie (ab Rn 226 ff).

"226 Die Kammer geht davon aus, dass die Angeklagte jedenfalls den Großteil der dienstlichen Korrespondenz des Lagerkommandanten nach außen und auch die Kommandantur- und Einsatzbefehle in Stenografie entgegen genommen und mit der Maschine geschrieben hat. Nicht ausschließen kann die Kammer jedoch, dass einzelne der genannten Schriftstücke im Einzelfall von anderen Personen als der Angeklagten verschriftlicht wurden. Dementsprechend konnte für keines der tatrelevanten Schriftstücke ohne vernünftigen Zweifel festgestellt werden, dass die Angeklagte daran physisch mitgewirkt hat.

227 Gleichwohl bestärkte die Angeklagte die Haupttäter bei Begehung der der Verurteilung zugrunde liegenden Taten. Denn sie stand der Lagerleitung während ihrer gesamten Dienstzeit als zuverlässige und gehorsame Untergebene zur Verfügung und sicherte damit durch ihre Tätigkeit fortwährend die Aufrechterhaltung des Betriebs des Konzentrationslagers und das Gefangenhalten der Inhaftierten ab. Sie arbeitete an der zentralen Schnittstelle des Lagers, an der sämtliche relevanten Entscheidungen und damit auch jene betreffend die Tötung von Gefangenen getroffen wurden, und hatte ein enges dienstliches Verhältnis zum Kommandanten. Sie war für die Lagerleitung in der Erfüllung ihrer Tätigkeit von essenzieller Bedeutung bei der Umsetzung der Ziele, die im Konzentrationslager S. verfolgt wurden, also dem Gefangenhalten von Menschen, der zwangsweisen
Ausnutzung ihrer Arbeitskraft und der Ermordung der aus Sicht der „Rassenideologie“ des NS-Regimes „wertlosen Volksschädlinge“. Auf die – nicht aufklärbare – Frage, welche konkreten Schreiben mit Bezug zur Tötung von Gefangenen sie tatsächlich abgefasst hat, kommt es insofern nicht entscheidend an, denn jedenfalls hat sie die Haupttäter durch ihre fortlaufende Dienstbereitschaft in psychischer Hinsicht bei der Durchführung der Taten unterstützt."

"246 Die Angeklagte selber nahm die Tötungen der Gefangenen, sei es durch lebensfeindliche Bedingungen im Lager oder bei den Todesmärschen oder mittels des Giftgases Zyklon B, billigend in Kauf. Dass sie selber ein eigenes Interesse am Tod der Gefangenen hatte, konnte die Kammer nicht feststellen. Zwar spricht vieles in ihrem Lebensweg dafür, dass sie sich dem nationalsozialistischen Gedankengut jedenfalls verbunden fühlte, doch wie weit ihre Identifikation mit der „Rassenideologie“ tatsächlich ging und ob sie darauf aufbauend den direkten Willen hatte, als „unwert“ betrachtetes Leben zu töten, ließ sich nicht frei von vernünftigen Zweifeln ermitteln."

Rn 366 e. Feststellungen zur Freiwilligkeit
"Dass die Angeklagte zwar „dienstverpflichtet“ in S. arbeitete, dies aber keinesfalls eine zwangsweise Verpflichtung beinhaltete, sondern vielmehr ihr eigenes Einverständnis – und nach den üblichen Abläufen auch ihre Bewerbung – voraussetzte, hat die Kammer ebenso wie die Feststellung, dass die Angeklagte ihre Tätigkeit jederzeit ohne relevante negative Konsequenzen hätte beenden können, auf die diesbezüglich besonders anschaulichen Darstellungen des Sachverständigen Dr. S. H. gestützt. Dieser hat unter umfangreicher Heranziehung entsprechender Quellen nachvollziehbar dargelegt, dass eine Kündigung weiblichen Lagerpersonals möglich war, regelmäßig vorkam und kein Fall bekannt sei, in dem hieraus für eine betroffene Frau negative Folgen resultiert hätten."

(Anmerkung: der Verlust des "Arbeitsplatzes" oder von Karrierechancen macht hierzulande viele abhängig Beschäftigte zu schweigenden Mitwissern. Im Falle der Angeklagten lagen Einblicke in einem Maß vor, dass immer auch eine Gefahr für Leib und Leben bedeutet haben muss.)

Rn 370 g. Feststellungen zur Unrechtseinsicht der Angeklagten

371 "Dafür, dass es der Angeklagten an Unrechtseinsicht hinsichtlich der durch die Haupttäter begangenen, festgestellten Tötungen gefehlt haben könnte, spricht nach der Würdigung der vorhandenen Beweise nichts. Da sie selbst keine Angaben dazu gemacht hat, was sie zur damaligen Zeit über die durch die Lagerleitung veranlassten oder durchgeführten Tötungsaktionen und die Herbeiführung und Aufrechterhaltung der todbringenden Bedingungen für die Gefangenen dachte, konnten diesbezüglich nur Rückschlüsse aus äußeren Umständen gezogen werden. Hierbei hat die Kammer auf die Kindheit und Jugend der Angeklagten in der NS-Zeit, die auch für sie verpflichtend regelmäßig stattfindenden, weltanschaulichen Schulungen im Lager und das sie umgebende Umfeld, das die „Rassenideologie“ vertrat und den mitleidlosen Umgang mit den als „Untermenschen“ betrachteten Gefangenen propagierte, berücksichtigt. . . . "

(Anmerkung: es gibt kein Geständnis, damit bleiben die Ausführungen des Gericht an dieser Stelle Interpretation. Allerdings ist unter Rn 46 ein Hinweis gegeben, dass Familienangehörige von Widerstandskämpfern des 20.07.1944 in einem "Sonderlager" im Konzentrationslager Stutthof untergebracht waren. Damit war exemplarisch vor Augen geführt, was mit Systemkritikern und deren Familien passieren kann.)

Ein kurzer Blick auf die unten abgebildete Gedenktafel im Sondergericht Hannover (heute Amtsgericht am Volgersweg) erscheint mir nachdenkenswert.

http://web.archive.org/web/20220828080923im_/https://media04.lokalkompass.de/article/2022/08/28/7/12443737_L.jpg?1661669878
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"Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, lobte das Urteil: „Für Schoa-Überlebende ist es enorm wichtig, dass eine späte Form der Gerechtigkeit versucht wird.“
Urteil gegen KZ-Sekretärin bestätigt: „Es kommt nicht auf die Uniform an“ - taz.de

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Nachtrag:

Das Stammlager VI A (kurz: Stalag VI A) war ein Stammlager für Kriegsgefangene in Hemer, Westfalen. Es bestand von 1939 bis 1945 auf dem Gebiet, das anschließend von der Blücher-Kaserne in Anspruch genommen wurde. Es war eines der größten Kriegsgefangenenlager im Dritten Reich und galt als „Sterbelager“ vor allem für sowjetische Kriegsgefangene.
Stalag VI A

"Die Folge sind katastrophale Zustände, die eine hohe Sterberate im Lager zur Folge haben. Die genaue Zahl der in Hemer selbst verstorbenen Kriegsgefangenen ist nicht bekannt; Schätzungen gehen von rund 20.000 Toten aus. Am 14.04.1945 wird das Stalag VI A von amerikanischen Truppen befreit."
Erste Kriegsgefangene treffen im Stalag VI A in Hemer ein

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Autor:

Ulrich Wockelmann aus Iserlohn

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