Abschlussfahrt – oder Elke, Ursula und all die Anderen

London, Juni 1978. Lässig, unbekümmert, abenteuerbereit, gut drauf.
Die gutgemeinten Ratschläge unserer Eltern hatten wir natürlich angenommen und auf der Überfahrt mit dem Schiff direkt über Bord geworfen.
Wir lagen über- und nebeneinander auf Deck und rauchten hemmungslos hinter den Rettungsboten.
London wir kommen, wir sind bereit, Du auch?
Das tägliche Pflichtprogramm mit den Lehrern wurde durchgezogen. Unser Focus jedoch lag auf den Abenden. Auf Party, Pub u feiern. Das musste schnell gehen, die Pubs schließen dort so früh. Wir waren so dermaßen cool, dass ich heute noch darüber lachen muss. Schlagjeans, bunte Jacken, gestrickte Taschen und lange Haare, egal ob Junge oder Mädchen. Bettruhe gab es für uns nicht. In den einzelnen Zimmern weiter gefeiert und wir dachten dabei auch noch, dass das keiner merkt.
Doch wie überall hatte auch unsere Klasse Leute dabei, die eben nicht cool waren, sondern immer lieb, anständig, gelehrig. Ursula, Elke und Anke eben. Karierte Röcke, anständig angezogen, Haare adrett. Genauso gut, aber anders.
Während wir den täglichen Partys nachgingen, besuchten Ursula, Elke und Anke Museen, Kirchen etc.
Bis auf diesen einen Tag, eher Abend, war alles gut. Die Drei waren zu Fuß unterwegs ( U-Bahn war ihnen nicht geheuer  ). Jeden Abend zu einer festen Zeit mussten wir alle natürlich wieder in unserer Unterkunft sein. Eine Toleranzzeit war eingerechnet, sodass irgendwie, irgendwann alle da waren. An besagtem Abend fehlten jedoch Ursula, Elke und Anke. Bei jedem anderen hätten unsere Lehrer entspannt abgewartet und schon mit dem verbalen Holzhammer in der Tür gestanden. Bei Ursula, Elke und Anke war das anders. Bei ihnen hieß zu spät zu Hause: da stimmt was nicht. Handys hatten wir damals natürlich noch nicht und in einer Stadt wie London geht man auch nicht so einfach los um zu suchen, wohin auch. So wurde hektisch abgewartet und ein Plan gemacht, was zu tun sei, wenn Ursula, Elke und Anke innerhalb der nächsten Stunde nicht da sein würden. Tatsächlich klingelte irgendwann das Telefon in der Unterkunft und ein Englischer Bobby erklärte unseren Lehrern, dass man unsere Drei aufgegabelt hatte und sie zur Abholung bereit stünden.
Was war passiert? Ursula, Elke und Anke hatten einen Ausflug gemacht, mit Stadtplan natürlich und waren auf direktem Weg in Soho gelandet. Soho ist auch heute noch als Erotikviertel bekannt mit vielen Bars und Etablissements. Schwule und Lesben sind dort zu Hause. Eine Welt, die unseren Dreien noch gänzlich verschlossen war und man kann sie sich dort in ihren karierten Röcken vorstellen. Verloren, allein gelassen und überfordert. Aber: die Polizei hatte sie aufgegriffen, mitgenommen und auf der Dienststelle verwahrt, bis unsere Lehrer sie dort abholten.
Die letzten Tage unserer Abschlussfahrt sah man Ursula, Elke und Anke nur noch in der Nähe der Lehrer.
Abschlussfahr 1978 – forever in my mind.

Autor:

Heike Niggemann aus Iserlohn

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