Hamid Teil 2
"Musst Du weitersingen - ist so schon"
Hamid Teil 2
Ich habe Euch beim letzten Mal von Hamid erzählt. Gerade sitzen wir einander gegenüber und ich lasse mir seine Geschichte erzählen, so, wie er sie mir schon einige Male erzählt hat. Zum ersten Mal hat er mir Bruchstücke erzählt, als wir gemeinsam eine Zugreise gemacht haben. Da kannte ich ihn aber auch schon zweieinhalb Jahre. Er brauchte lange, um wirklich zu vertrauen.
Hamid war 19 als er aus dem Iran nach Deutschland hier herkam. Seine Geschichte von Flucht und Vertreibung fing aber bereits viel früher an, In Afghanistan.
Afghanistan ist, anders, als wir uns das oft vorstellen, ein sog. Vielvölkerstaat mit verschiedenen ethnischen Gruppen. Hamid gehört der Volksgruppe der sog. Hazara an (die wiederum von den Mongolen Dschingis Khans abstammen), der drittgrößten ethnischen Gruppe nach Paschtunen und Tadschiken. Es hat allerdings eben auch sehr große Fortschritte in der Schulbildung – auch von Mädchen – gegeben, die teilweise sogar als Bildungswunder bezeichnet werden. Jedoch aufgrund einer regionalen Quotenregelung der afghanischen Regierung, die sich zulasten der diskriminierten Minderheit der Hazara auswirkt, werden die Hazara heute aus dem Bildungswesen zunehmend verdrängt. Frauen haben bei den Hazara mehr Freiheiten als bei anderen Volksgruppen Afghanistans. Sie stellen Ärztinnen und Lehrerinnen.
die Hazara
Die Hazara wurden nach und der Gründung des modernen Afghanistan, wo sie sowohl eine ethnische als auch eine konfessionelle Minderheit darstellen, immer wieder Opfer von Diskriminierung, besonders durch die paschtunische Elite. Bewegen Hazaras sich außerhalb des Hazaradschats (ihres angestammten Gebietes), müssen sie insbesondere aufgrund ihrer äußerlich erkennbaren ethnischen und konfessionellen Zugehörigkeit damit rechnen, Opfer von gezielten Terroranschlägen zu werden. Dies gilt insbesondere für Anschläge durch die Taliban, zunehmend aber auch für solche der radikalislamistischen terroristischen Organisation Daesh, die als „Islamischer Staat“ wohl bekannter und berüchtigter sind.
Hamids Vater war Grundschul-Lehrer in einem Dorf und unterrichtete sowohl Jungen als auch Mädchen. Hamids Mutter versorgte die Kinder und eine kleine Landwirtschaft mit Hühnern und etwas Gemüseanbau zur Selbstversorgung. Hamit bezeichnet sich selbst als glückliches Kind, außer, dass er sich gegenüber anderen eben schon als Kind verdächtig machte, weil er fast nur mit Mädchen spielte und sich außerhalb der Konkurrenz mit anderen Jungen dort sehr viel wohler fühlte. Seine Eltern, besonders aber seine Mutter, bezeichnet Hamid als sehr fröhliche Menschen, die immer ein Lachen und für ihre Kinder viel Zärtlichkeit übrig hatten. An Schläge, wie sie andere Kinder durchaus kennen, erinnert er sich nicht.
Musst Du weitersingen - ist so schon!
Heute noch, wenn ich im Büro, in meine Arbeit versunken, manchmal Kinderlieder singe (ja, ich weiß, ich soll meinen Kollegen nicht auf den Senkel gehen und sie quälen), sitzt er plötzlich da und summt leise mit und er versucht, Tränen zu unterdrücken. Wenn ich dann peinlich berührt aufhöre (oder weil meine Kollegin mir einen genervten Blick zuwirft), schüttelt er den Kopf: „Musst Du weiter singen… Ist so schon.“
Als die Situation für die Familie trotz – oder wegen – des – noch immer andauernden Krieges und der Ansprüche der Taliban für die Familie immer schwerer wurde, die Frauen nicht außerhalb des Hauses antreffen wollten, flohen Kinder und Mutter, als Hamid acht Jahre alt war, in den benachbarten Iran. Hazara sprechen auch Dari, das in beiden Ländern Amtssprache ist und gehören, wie der Großteil der Iraner den Shiiten an. Der Vater blieb zurück und arbeitete zunächst weiter als Lehrer. Er wollte das Land und das Haus verkaufen und später folgen, um mit dem Erlös das Leben im Iran neu zu beginnen. Der Verkauf stellte sich als schwierig heraus und kam letztlich nicht zustande. In Afghanistan bekommen Regierungsbeamte (zu denen eben auch Grundschul-Lehrer gehören) ihr Gehalt – anders als bei uns – nicht monatlich auf ein Bankkonto überwiesen, sondern müssen es selbst einmal im Quartal in der Bezirkshauptstadt persönlich abholen. Auf einem dieser Wanderungen geriet Hamids Vater in einen Hinterhalt der Taliban und wurde erschossen. Bevor er von einer Cousine gefunden wurde, lag er schon fast eine Woche mit seinem Gesicht in einem nahegelegenen Fluss.
Hamid musste nun – mit 11 Jahren seinen Bruder zurück begleiten und sich um Haus und Hof zu kümmern und die Mutter, die nicht zurückkonnte im Iran zu versorgen. Ihren Lebensunterhalt bestritten die beiden mit der Arbeit auf dem Hof und vor allem mit Gelegenheitsjobs beim Bau und Innenausbau von Häusern. Vielleicht erklärt das auch Hamids Talente zum Streichen. (Musst du grun machen). Die weiblichen Geschwister und die Mutter blieben der Sicherheit wegen im Iran.
Nachdem die Familie in Afghanistan alles Erforderliche geregelt hatte, zogen die Jungs aber wieder zu ihrer Mutter und den Schwestern.
Die Situation im Iran ist aber, wie wir wissen, auch nicht die menschenfreundlichste. Dorthin sind die meisten der bei uns ankommenden Hazara schon vorher geflüchtet, meist über Pakistan. Der Iran hat die schiitischen Afghanen zu Hunderttausenden aufgenommen. Das Problem: Sie besitzen dort keinen Flüchtlingsstatus oder sonst irgendeinen Aufenthaltstitel. Sie sind völlig rechtlos, den Iranern faktisch ausgeliefert. Viele der Kinder müssen Sklavenarbeit verrichten. Und sie sind immer von Abschiebung bedroht.Geld zu verdienen war für die Familie das schwierigste. Also waren auch die Kinder in der Pflicht, statt zur Schule oder eben neben der Schule, auf Baustellen zu arbeiten und den Lebensunterhalt zu verdienen.
Für sich selbst und Fragen zu seiner eigenen Person oder für Bildung fand Hamid kaum Zeit und Kraft. Andere Kinder mit 11 Jahren bei uns besuchen Sportvereine, Ganztagsschulen und dürfen vor allem eines sein. Kinder.
Mit der Pubertät, als das Interesse der anderen Jungs und seines Bruders Mädchen galt und der Bruder auch bald heiratete und eine eigene Familie gründete,bemerkte Hamit, dass er an Mädchen kein Interesse mehr hatte. Anders, als zu den Zeiten, als er sie als einzige Spielkameraden hatte. Sein Interesse, stellte er fest, galt wohl eher anderen Jungs.
Und in den einen oder anderen verliebte er sich wohl auch. Alles heimlich und meistens in seinen Träumen. Bis auf einmal, als er einen jungen Friseur kennenlernte, der Hamids Schwulsein schnell erkannte und seine Gefühle erwiderte. Sie teilten ihre Vorlieben für „Undercut-Haarschnitte“ und blond gefärbte Haare, womit sie die Aufmerksamkeit der Sittenpolizei auf sich zogen. Mehr dazu hier
Beide zogen sich auch gerne „elegante“ Kleidung an und besuchten illegale Partys mit amerikanischer Musik und Alkohol.
Wenn man bei einer solchen Party erwischt wird, bedeutete das manchmal ein paar Tage Haft und manchmal Stockhiebe.
Hamid besuchte ihn regelmäßig, bis er eines Tages nicht mehr anzutreffen war und ihm nichts weiter blieb, als eine mündlich übermittelte Nachricht, Hamid solle ihn nicht suchen, er würde sein Leben wohl nun mit einer Frau an seiner Seite verbringen, die seine Familie ihm ausgesucht hatte. Wohl auch deshalb, um dem „Stigma“ einen unmännlichen Sohn zu haben, der dauernd Besuch von der Sittenpolizei Irans erhält, zu entgehen. Denn im Iran gilt die „Schande“ eines Kindes als die Schande der gesamten Familie, die von nun ab gesellschaftlich wie auch vor den Augen des religiösen und politischen Systems offen diskriminiert wird. Eine Familie, die einen Friseursalon betreibt, könnte wohl ihre berufliche Existenz an den Nagel hängen.
Er, Hamid, sei selber in großer Gefahr.
Homosexualität ist im Iran, wie viele wissen, unter der Androhung und dem Vollzug der Todesstrafe verboten.
Bevor aber jemand tatsächlich am Baukran aufgehangen wird (ich bekomme beim Schreiben gerade Gänsehaut), sind Schwule beliebtes Prügelopfer und Opfer sexueller Übergriffe und Vergewaltigung durch die Polizei. Bisweilen müssen Betroffene auch viel Geld an die Beamten zahlen, damit diese ihr Wissen für sich behalten. Oft ist jahrelange Erpressung die Folge und stetiges Mobbing. Solange bis entweder gegengeschlechtlich geheiratet wird, oder, was oftmals noch schlimmer ist, Schwule sich einer Geschlechtsumwandlung unterziehen, damit sie ggf. einen Mann heiraten können und das Bild der heilen heterosexuellen (islamischen) Familie aufrechterhalten werden kann.
Wie beim letzten Mal beende ich die Geschichte jetzt an dieser Stelle. Zum einen, weil Hamid beim Erzählen die Tränen in die Augen schießen, zum anderen, weil sie einfach zu lang würde.
Mehr beim nächsten Mal. Bis dahin, mal sehen, übe ich vielleicht ein neues Kinderlied. Wer weiß? „Musst Du weiter singen …“
Andreas und Hamid.
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