Kirmes war dem Pfarrer ein Dorn im Auge
Ohne Gesang und Gebet: Die vergessene Große Fronleichnamsprozession von Hagen nach Boele

Die 1826-1829 erbaute zweitürmige katholische Pfarrkirche St. Marien in Hagen. Sie wurde 1895 durch einen Neubau ersetzt. | Foto: Stadtarchiv Hagen
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Kaum bekannt ist heute die frühere alljährliche Große Fronleichnamsprozession von Hagen (Innenstadt), wo die Katholiken eine Minderheit waren, nach Boele mit einer früher fast rein katholischen Bevölkerung. An der Prozession nahmen jeweils Tausende von katholischen Gläubigen nicht nur aus Hagen, sondern auch aus den umliegenden und später nach Hagen eingemeindeten Landgemeinden teil. Nach Angaben des Amtmanns von Boele waren es 1908 zwischen 4.000 und 5.000 Personen.

Von Gerhard E. Sollbach

1902 beteiligte sich zum Beispiel auch der katholische Männerverein in Herdecke geschlossen an der Prozession. Der Abmarsch der Vereinsmitglieder erfolgte um 9 Uhr morgens vom Vereinshaus. Die Fronleichnamsprozession findet in den katholischen Pfarreien traditionell jeweils am zweiten Donnerstag nach Pfingsten und im Anschluss an eine heilige Messe statt. Die zahlenmäßig starke Teilnahme an der Hagener Prozession erklärt sich sowohl aus der allgemeinen Gläubigkeit der Zeit als auch daraus, dass Fronleichnam ein Hochfest im katholischen Kirchenjahr ist. Die Gläubigen folgen dabei mit Gebet und Gesang der von einem Priester oder Diakon unter einem Stoffbaldachin (dem so genannten Himmel) getragenen Monstranz mit dem Allerheiligsten (einer geweihten Hostie).
Die etwa drei Stunden dauernde Hagener Prozession nahm ihren Ausgang von der Pfarrkirche St. Marien in Hagen. Sie zog von dort durch die (Innen-)Stadt und über die Altenhagener Brücke. Weiter ging es dann durch Eckesey und anschließend nach rechts abbiegend entlang der Schwerter Aktienstraße nach Boele. Die Rückkehr erfolgte zumeist auf demselben Weg.

Hergebrachte Prozession

Der älteste Quellenbeleg für die große Hagener Prozession stammt aus dem Jahr 1847. Es handelt sich dabei um ein Schreiben vom Mittwoch, dem 10. Juni dieses Jahres, das der katholische Pfarrer Friedrich Karl Schnettler der Hagener Pfarrkirche St. Marien an den Amtmann von Boele-Hagen sandte. Darin wird mitgeteilt, dass am nächsten Tag die Fronleichnamsprozession nach Boele durchgeführt werde. Doch diese Prozession hat es schon davor gegeben. In dem Schreiben heißt es nämlich, dass sie „wie alljährlich“ stattfinde.
Im 19. Jahrhundert wurde die Fronleichnamsprozession in Preußen, wo Katholiken insgesamt eine konfessionelle Minderheit waren, mancherorts aber auch zu einer Demonstration gegen die Einengung des katholischen Kirchenlebens durch die preußische Politik. Das gilt vor allem für die Zeit des sich ab 1871 verschärfenden und bis 1878 unvermindert andauernden so genannten Kulturkampfs.
Bei diesem von Otto von Bismarck als preußischem Ministerpräsidenten und Reichskanzler des Deutschen Kaiserreichs geführten Kampf vor allem gegen die katholische Kirche versuchte Berlin, seine Staatsautorität auch gegen die Kirchen durchzusetzen. In diesen Zusammenhang gehört auch das gemeinsame Rundschreiben vom 26. August 1874 des preußischen Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten sowie des preußischen Ministers des Innern.
Darin wurden die Ortspolizeibehörden streng angewiesen, zukünftig nur noch solche Prozessionen ohne vorherige polizeiliche Genehmigung zuzulassen, die „zweifellos hergebracht“ waren. Doch diese durften auch nur in der „hergebrachten“ Weise durchgeführt werden, wozu zum Beispiel die exakte Benutzung des bisherigen Wegs gehörte. Gegen jeden Verstoß war polizeilich vorzugehen. Andere, nicht „hergebrachte“ Prozessionen konnten die Ortspolizeibehörden nach eigenem Ermessen zulassen oder verbieten.
Prozessionen, an der größere Menschenmengen teilnehmen, waren nach dem Rundschreiben aber „in der Regel“ zu untersagen. Es ist verständlich, dass diese Anweisung den örtlichen Polizeibehörden einen beträchtlichen Spielraum hinsichtlich der Zulassung oder Nichtzulassung bzw. Behinderung der Fronleichnamsprozession einräumte.
Allerdings ist die Hagener Prozession vor Ort behördlich als „hergebracht“ anerkannt und auch in der Zeit des Kulturkamps offenbar jedes Jahr durchgeführt worden.

Auf Sonntag verschoben

Doch achtete die Polizeibehörde peinlich genau darauf, dass die Grenzen des „Hergebrachten“ dabei auch sonst nicht überschritten wurden. So konnten die bei der Prozession mitgeführten Fahnen erst entrollt werden, nachdem man Boeler Gebiet erreicht hatte. Während sich die Prozession auf dem Gebiet der Stadt Hagen befand, durfte auch weder gesungen noch gebetet und auch keine Musik gespielt werden.
Wiederholt musste die Hagener Prozession in der Vergangenheit aber am Fronleichnamstag witterungsbedingt ausfallen. Sie wurde dann in der Regel am darauf folgenden Sonntag nachgeholt. Das war auch 1911 der Fall, als die Prozession wegen des Regenwetters abgesagt werden musste. Sie fand dann am nächsten Sonntag, dem 18. Juni, aber bei „schönstem Wetter“ statt, wie es in einem Bericht in der Hagener Ausgabe der Westdeutschen Volkzeitung heißt.

Unfug verbieten

Im Laufe der Zeit hatte sich aber die Gewohnheit herausgebildet, unmittelbar nach der Prozession in Boele eine Art Kirmes mit Karussells, Schieß- und anderen Buden zur Volksbelustigung abzuhalten, die große Menschenmengen aus der ganzen Umgebung anzog. Dieses „Spektakel“ war aber dem Pfarrer Wilhelm Hecking der katholischen Pfarrerkirche St. Johannes-Baptist in Boele (1832-1890) ein Dorn im Auge.
Am 3. Mai 1887 wandte er sich schließlich schriftlich an den Amtmann von Boele-Hagen mit der Bitte, dem „Unfug“ ein Ende zu machen. Er begründete sein Ersuchen außer mit der bis spät in die Nacht andauernden Ruhestörung vor allem damit, dass von dieser Kirmes „größte Gefahr“ für die Sittlichkeit ausgehe, da das nächtliche „Umherschwirren“ nur zum „Bösen“ führe.
Doch der Amtmann weigerte sich, diese „Volksbelustigung“ zu verbieten, da sie nach dem von ihm eingeforderten Bericht des Boeler Gemeindevorstehers eigentlich kein - genehmigungspflichtiger - Jahrmarkt war. Er kam dem Pfarrer aber insoweit entgegen, als er anordnete, dass um 11 Uhr „Feierabend“ sein müsse.
Auch ein zwei Jahre später vom Boeler Kirchenvorstand an den Amtmann gesandtes neuerliches Gesuch in der Sache blieb erfolglos. Ebenfalls vom Amtmann in Boele abgelehnt - aus „polizeilichen Gründen“ - wurde das Gesuch des Pfarrers Schnettler, aus Anlass der Fronleichnamsprozession 1876 in Boele zu illuminieren und einen Fackelzug veranstalten zu dürfen.
Nachdem 1902 die Straßenbahnlinie Hagen Hauptbahnhof-Boele-Kabel eröffnet worden war, wurde auf der von der Prozession berührten Strecke während dieser Zeit der Betrieb eingestellt.
Die letzte Nachricht von der Großen Hagener Fronleichnamsprozession stammt aus dem Jahr 1923. Vermutlich hat die Prozession aber noch mindestens einige Jahre und wohl noch bis zum Zweiten Weltkrieg stattgefunden. Danach ist sie aber nicht mehr durchgeführt worden und in Vergessenheit geraten.

Die 1826-1829 erbaute zweitürmige katholische Pfarrkirche St. Marien in Hagen. Sie wurde 1895 durch einen Neubau ersetzt. | Foto: Stadtarchiv Hagen
Straßenbahnwagen der 1902 eröffneten Linie Hagen Hauptbahnhof-Boele Kabel der Hagener Straßenbahn AG; Aufnahme von 1912. | Foto: Stadtarchiv Hagen
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Lokalkompass Hagen aus Hagen

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