Love-and-Peace-Festival vor 50 Jahren
Das "europäische Woodstock": Auf den Spuren von legendären Festivals und Erinnerungskulturen

Prof. Frank Hillebrandt und seine Mitarbeiterin Amela Radetinac mit einem "Schatz" aus der Schallplattensammlung des Soziologen: Das Cover ist im Stil der 1960er Jahre gestaltet. | Foto: FernUniversität
  • Prof. Frank Hillebrandt und seine Mitarbeiterin Amela Radetinac mit einem "Schatz" aus der Schallplattensammlung des Soziologen: Das Cover ist im Stil der 1960er Jahre gestaltet.
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Vor 50 Jahren, vom 4. bis 6. September 1970, fand das erste mehrtägige Popfestival auf dem europäischen Kontinent statt. Das „Love-and-Peace-Festival“ lockte 25.000 bis 30.000 Besucher auf die Ostseeinsel Fehmarn. Hier trat Jimi Hendrix letztmalig vor seinem Tod am 18. September 1970 vor einem großen Publikum auf – einer der Gründe, warum das Fehmarn-Festival heute noch für viele ein Begriff ist. Die Musik der 1960-er und 1970-er Jahre und die Festival-Kultur haben jedoch viel mehr Veränderungen in Populärkultur, Gesellschaft, Politik und sogar der Wirtschaft ausgelöst, als gemeinhin bekannt ist. Prof. Dr. Frank Hillebrandt von der FernUniversität in Hagen erforscht sie in seinem Lehrgebiet Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie.

Für ihn und seine Mitarbeiterin Amela Radetinac hat hierbei das Festival auf Fehmarn große Bedeutung: Das Woodstock- und das Monterey-Festival in den USA sind schon vielfach untersucht worden. „Zeitzeugen erzählen vor allem mythische Heldengeschichten“, so Hillebrandt: „Diese Ereignisse sind für die empirische Forschung ‚verbrannt‘. Der Feldzugang zu Fehmarn ist leichter.“

Festival der Subkultur

Angekündigt worden war das Insel-Ereignis als „Europäisches Woodstock“ mit einigen Bands, die auch beim „Original“ aufgetreten waren. Top Act war natürlich Jimi Hendrix. Das Festival verlief chaotisch: Es regnete und stürmte, einige Bands kamen nicht, die Technik funktionierte schlecht, Hamburger Rocker drangsalierten als „Ordner“ das Publikum.
Die drei jungen Veranstalter standen anschließend vor einem riesigen Schuldenberg. Dennoch hat Hillebrandt großen Respekt vor ihrer Leistung, renommierte Bands und ganz besonders Hendrix verpflichtet zu haben.
Die beiden Forschenden der FernUniversität konnten zwei Veteranen dieses Festivals interviewen. Auf der Insel lernten Hillebrandt und Radetinac zudem noch zwei Einheimische kennen, die damals als Polizist und als Rettungsschwimmerin dabei waren. Mit der Musik und der Veranstaltung konnten diese beiden wenig anfangen: „Das Festival war Subkultur und damit im Bewusstsein der Bevölkerung nichts Erinnerungswertes. Wohl aber für die, die dafür extra auf die Insel kamen.“
„Entscheidend für die Popularität eines Festivals ist nicht immer die Musik, sondern dass man viele um sich weiß, die ‚so sind wie ich‘“, erläutert Hillebrandt.
„Es ging vor allem darum, ein großes ‚Wir‘ zu haben.“ Woodstock ist für ihn das beste Beispiel „für die Kunst, viele zu sein, die nichts mehr hatten, keine Nahrung, die sich trotzdem eine schöne Zeit machten“. So war es auch auf Fehmarn: „Regen, Gewitter, nichts mehr zu essen, keine vernünftige sanitäre Versorgung – aber man hat es gemeinsam hinbekommen.“

Eigene Wege, nachhaltige Veränderungen

Dabei steht, so Hillebrandt, das Festival durchaus in Verbindung mit Entwicklungen, die massive Veränderungen in der Gesellschaft, in der Politik und sogar in der Wirtschaft zur Folge hatten. Das damals noch recht neue Veranstaltungsformat Festival wäre ohne die Hippies kaum denkbar: „Was die anderen machten, war ihnen eigentlich egal. Sie wollten der Welt zeigen: Wir wollen es nicht so machen wie Ihr – um neun ins Büro und um fünf wieder raus.“ So waren auch ihre Festivals etwas, was es vorher nicht gab.
Ihre Kultur hat, so Hillebrandt, weitreichende Veränderungen bewirkt: „Es ‚anders zu machen‘ hat sich ja sogar in der heutigen Ökonomie durchaus durchgesetzt! Wo gibt es in der Arbeitswelt noch solch hierarchische Strukturen wie früher? Die digitalen Neugründungen der letzten Jahrzehnte haben sich sehr stark auf die Hippie-Kultur bezogen. Es gibt Kolleginnen und Kollegen in der Soziologie, die sagen, das Silikon Valley sei eigentlich ein Ausfluss von Woodstock, weil erst die wenig hierarchische Arbeitsstruktur die ganze Kreativität hervorgebracht habe.“ In Gesellschaft und Politik sieht er einen direkten Weg von den Hippies über die Sponti-Bewegung zu den Grünen.

Veranstaltungsformat erfolgreich

Für den FernUni-Soziologen hat sich das Festivalformat trotz des Scheiterns auf Fehmarn etabliert. Es ist eine ganz wichtige Veranstaltungsform des Rock und Pop geworden, allerdings inzwischen professionell organisiert: „Das Chaotische – Zelten im Schlamm etwa – wird heute zum Programm, das wissen die Leute vorher.“
Die damaligen Organisatoren hatten offensichtlich zur richtigen Zeit die richtige Idee. Frank Hillebrandt: „Wenn man jetzt noch einmal mit ‚Chaos-Festivals‘ neu anfangen würde, würde das wahrscheinlich nicht klappen. Der Zeitgeist ist einfach nicht danach. Damals hat man es einfach so gemacht, als Rebellion, als Gegenkultur, als Ausstieg aus der Gesellschaft. Die wollten mit dem ganzen Kommerziellen und der ganzen vermieften Nach-Adenauer-Gesellschaft nichts mehr zu tun haben!“ So war das neue Format ein Fundament für weitere Veranstaltungen dieser Art: „Man konnte sich sicher sein, dass es genügend Interessierte gibt.“

Die Erinnerungskultur in der Musik

Für Musik ist Erinnerung – auch an das Festival auf Fehmarn – äußerst wichtig, so der Forscher: „In der Erinnerungskultur muss man eine ‚Gründungsphase‘ haben. Etwa, indem man die ‚Heiligen der Musik‘ wie Hendrix auf ein Podest hebt.“ In filmischen Dokumentationen rückte der Rock- und Bluesmusiker – wie Hillebrandt und seine Mitarbeiterin Amela Radetinac feststellten – im Lauf der Jahre immer mehr in den Mittelpunkt. Hendrix wurde zu einer Ikone der Popkultur.
Die Popmusik braucht diese Personifizierung und die Erinnerungen an die Ereignisse als Fundament, um sich weiter reproduzieren zu können: „Hendrix‘ letzter Auftritt ist nicht zuletzt der Grund dafür, dass man sich noch heute des Festivals so stark erinnert“, so Hillebrandt. „Wie wäre wohl die Erinnerungskultur, wenn er nicht gestorben wäre?“

Autor:

Lokalkompass Hagen aus Hagen

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