Wohl jeder zweite hat einen getöteten Menschen gesehen - Interview mit der Trauerbegleiterin Mariel Pauls-Reize

Foto: privat
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„Willkommen in Deutschland! Und jetzt?“ – das ist eine Frage, die sich alle Hilfsorganisationen stellen. Trauerbegleiterin Mariel Pauls-Reize weiß, dass die meisten Flüchtlinge traumatische Erlebnisse hinter sich haben.

G. Mariel Pauls-Reize ist Trauerbegleiterin und Familientherapeutin. Die Vorsitzende im Verein Young Supporters e.V. mit Sitz in Duisburg hat Erfahrung mit Menschen, die großes Leid erfahren haben.

Frau Pauls-Reize, wie können wir als Normalbürger den Flüchtlingen im Ruhrgebiet helfen?

Pauls-Reize: Jetzt fängt die Arbeit eigentlich erst richtig an. Nun sind die Menschen mit ihren Erlebnissen hier. Wichtig ist zu wissen: Alle Flüchtlinge trauern. Alle, die hier ankommen, haben etwas verloren, ihre Heimat, ihre Sprache und ihre Kultur, und es kann sein, dass sie auch einen Angehörigen verloren haben.
Was jeder tun kann ist zum Beispiel Zuhören. Zuhören ist eine große Unterstützung. Interesse an der Geschichte des anderen zeigen – dafür muss ich nicht einmal geschult sein. So kann man eine Verbindung herstellen.

Worauf kommt es beim Zuhören an?

Pauls-Reize: Wichtig ist es, ihnen zu zeigen, wer man ist, zu erkennen geben, dass man nicht von einer Behörde kommt, sondern sich als Privatperson für sie interessiert.
Das braucht vor allem Mut, weil ich ja auch damit rechnen muss, dass mir jemand eine Geschichte erzählt, die unter die Haut geht.
Auf der anderen Seite, wenn wir weghören oder die Straßenseite wechseln, lassen wir sie mit ihrer Trauer alleine und – ich glaube – dass sich das auch auf die Stimmung in unserem Land auswirken wird.

Welche Folgen kann das mit sich bringen?

Pauls-Reize: Die Folgen können wir noch nicht absehen. Ein Beispiel: Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man den Menschen nicht geholfen, sie mit ihrer Trauer allein gelassen, es war so und man wusste es ja nicht besser. Die Trümmerfrauen beispielsweise haben die Zähne zusammen gebissen und keiner hat danach gefragt, wie sie sich fühlen. Das hatte später Auswirkung auf das Familienleben und deren Kinder, weil zu wenig Gefühle weitergegeben wurden.
Heute wissen wir das besser. Wir wissen, dass diese traumatisierten Menschen Unterstützung brauchen. Für die unbegleiteten jüngeren Flüchtlinge gibt es schon Konzepte. Sie werden weitestgehend in Krisen- und Trauerbewältigungsgruppen aufgefangen.

Und wie kann man den Erwachsenen helfen?

Pauls-Reize: Wir wissen noch nicht, ob die Menschen mit unserer Struktur klarkommen. Es ist schon eine Herausforderung, dass wir mit unseren therapeutischen Systemen und Kommunikationsformen überhaupt die Menschen erreichen. Wahrscheinlich müssen wir vieles ausprobieren. Abgesehen davon ist die Frage, ob wir genügend Therapie-Plätze haben.
Viele haben Gewalt- und Missbrauchserfahrungen gemacht oder haben sogar Angehörige und Freunde sterben sehen. Die Bundestherapeutenkammer geht davon aus, dass jeder Zweite einen getöteten Menschen gesehen hat. Wir werden uns darauf einstellen müssen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Vortrag

 Der Vortrag mit anschließendem Gespräch zum Thema „Trauer und Trauma von Flüchtlingen“ richtet sich an Personen, die in der Flüchtlingshilfe aktiv werden wollen.
 Termin: Dienstag, 29. September, von 18.30 bis 20 Uhr im Regenbogenhaus der Grafschafter Diakonie gGmbH, Beethovenstraße 18, in Rheinhausen.
 Leitung: G. Mariel Pauls-Reize, Trauerbegleiterin, systemische Familientherapeutin und Vorsitzende im Verein Young Supporters e.V.
www.young-supporters.com

Foto: privat
Autor:

Harald Landgraf aus Dinslaken

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