Vom Segen und Fluch des Fortschritts
Krankenhausaufenthalte sind meistens kein Zuckerschlecken und schon gar nicht, wenn man sich selber nicht mehr helfen kann und fremde Hilfe benötigt. Um so schlimmer ist es, wenn man die scheinbar einfachsten Dinge nicht mehr ausführen kann.
Das Krankenhaustelefon klingelt. Die alte Dame hält es in der Hand und guckt hilflos die Tasten an. Ihre Augen zucken hin und her. Mit zittrigem Finger drückt sie auf diese Taste, auf jene. Erfolglos! Das Telefon klingelt weiter, bis der Anrufer auflegt. Nach zehn Minuten klingelt es wieder und der hilflose Versuch, mit dem Anrufer verbunden zu werden, scheitert erneut. Beim nächsten Anruf gebe ich als Bettnachbarin Hilfestellung. Ich habe meine Telefonanlage in der Hand und zeige, welche Tasten die alte Dame drücken muss. Ich kommentiere die Anweisungen mit lauter Stimme, denn sie ist schwerhörig und hat ihr Hörgerät nicht eingesetzt es gibt Rückkoppelungen, wenn sie damit telefoniert). Ich denke, dass man mich bis auf den Flur hören müsse. Nach geglücktem Telefonat studiert die alte Frau zum wiederholten Mal die Gebrauchanweisung. Geistig ist sie noch ziemlich fitt, nur manchmal versteht sie nicht, was gemeint ist, mit der Technik kommt sie nicht zurecht. Je nach Einfall des Lichtes sieht man im Display der Telefonanlage nichts. Es ist, als würde man im Sommer mit dem Laptop im Garten sitzen.
Fortschritt ist gut und wichtig, nur sollte er auch für den Alltagsgebrauch tauglich sein. Mit dieser Telefonbedienung kann man das Licht ein- und ausschalten, das Pflegepersonal rufen, Fernseher und Radio einschalten und eben auch telefonieren. Wer sich mit der Computertechnik auskennt, wird keine Schwierigkeiten mit diesem System haben und auch jüngere Leute werden sich schnell mit der Technik vertraut machen. Aber eine fast 89 Jahre alte Patientin, deren technisches Verständnis gegen Null geht, was die fortschrittlichen Kommunikationsanlagen angeht, deren Kurzzeitgedächtnis in dieser Sache nach einigen Sekunden versagt, wird an diesem “neumodischen Kram” schlichtweg verzweifeln. Und der helfende Bettnachbar, der auch krankheitsbedingt dort liegt und nicht zum Vergnügen, auch.
Die Verantwortlichen sollten sich darüber einmal Gedanken machen, dass es gerade für alte Leute sehr hilfreich wäre, wenn analog ein "stinknormales" Telefon zur Verfügung stehen würde, um den alten Menschen das Leben etwas leichter zu machen, wenn sie schon hilflos und krank auf fremde Hilfe angewiesen sind. Wenn sie dann nicht mal in der Lage sind “zu telefonieren” - "Ich bin zu doof, ich kapiere das nicht." - kann sich jeder einigermaßen intelligente Mensch vorstellen, wie hilflos und ausgeliefert sich der Mensch vorkommen muss, der dort liegt. Das Leben kann so einfach sein, macht es doch nicht so kompliziert. Und denkt daran, Ihr hochmotivierten Menschen mit dem Drang nach Erneuerungen und Fortschritt, auch Ihr werdet einmal alt, auch wenn Ihr Euch das heute noch nicht vorstellen könnt oder wollt.
Autor:Ingrid Lenders aus Duisburg |
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