Neuigkeiten aus dem Flüchtlingsrat Nordrhein-Westfalen
In NRW kommen immer mehr Kinder ihrer gesetzlichen Schulpflicht nicht nach. Der Grund: In vielen Städten fehlt es an Schulplätzen für neu zugewanderte Kinder und Jugendliche. Die Landesregierung verspricht nun ein Maßnahmenpaket.
„Wir lassen kein Kind zurück“ – Mit diesem Versprechen warb die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft im Wahlkampfjahr 2012 für ihre Schulpolitik. Ein Jahr nach ihrer Wiederwahl sieht die Realität in NRW jedoch anders aus.
Auch Kinder von Flüchtlingen sind zum regelmäßigen Schulbesuch berechtigt und verpflichtet. Immer häufiger kommt es aber zu übermäßigen Verzögerungen bei der Einschulung. Den Flüchtlingsrat NRW erreichten in letzter Zeit vermehrt Berichte, nach denen Kinder im schulpflichtigen Alter bis zu acht Wochen auf ihre Schuleingangsuntersuchung warten mussten. Erst danach beginnt die Suche nach einem Schulplatz, sodass insgesamt Wartezeiten von bis zu sechs Monaten entstehen. Ein Großteil der Auffangklassen, in denen Kinder und Jugendliche ohne deutsche Sprachkenntnisse zunächst unterkommen und besonders gefördert werden sollen, waren und sind an Hauptschulen angesiedelt. Da in den vergangenen Jahren zahlreiche Hauptschulen geschlossen wurden, sind vielerorts auch die Auffangklassen weggefallen. Die Politik hat es versäumt, hier frühzeitig für Ersatz zu sorgen.
In ihrer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der Piraten erklärte die Landesregierung Ende Juni, gemeinsam mit den Kommunen ein Maßnahmenpaket erarbeiten zu wollen, um die Beschulung aller Kinder und Jugendlichen zu sichern.
Der Flüchtlingsrat NRW begrüßt dieses Vorhaben ausdrücklich, drängt aber zugleich auf eine zeitnahe Lösung: „Kinder und Jugendliche haben nicht nur die Pflicht, sondern vor allem auch das Recht, regelmäßig eine Schule zu besuchen“, so Vorstandsmitglied Heinz Drucks. „Deshalb müssen die beteiligten Ämter und Behörden schnellstmöglich dafür sorgen, dass alle schulpflichtigen Kinder zeitnah den Schulbesuch aufnehmen können. Die verbleibenden acht Wochen bis zum Beginn des neuen Schuljahrs sollten dringend dafür genutzt werden, entsprechende Maßnahmen umzusetzen“.
Darüber hinaus regt Drucks an, verstärkt auch an Gymnasien, Real- und Gesamtschulen Auffangklassen einzurichten. „Fehlende Sprachkenntnisse sagen nichts darüber aus, für welche Schulform ein Kind geeignet wäre. Deshalb ist es nicht sinnvoll, die Auffangklassen fast ausschließlich an Hauptschulen einzurichten“.
Am 16. Juli 2013 möchte der Sozialausschuss der Stadt Essen über die Einführung von Sachleistungen für neu zugewiesene Flüchtlinge beraten. Fast genau ein Jahr, nachdem das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz migrationspolitischen Erwägungen für die Bemessung des Existenzminimums für Flüchtlinge eine klare Absage erteilt hat, soll durch die Gewährung von Essenspaketen statt Barleistungen ein Abschreckungseffekt eintreten, der die Zahl neu einreisender Flüchtlinge senkt.
Bereits im November vergangenen Jahres hatte es entsprechende Überlegungen gegeben, nun liegen konkrete Pläne vor. Alle ankommenden Flüchtlinge sollen zunächst zentral im größten Übergangswohnheim der Stadt untergebracht und dort mit Sachleistungen versorgt werden. Dies soll bei Folgeantragstellern bis zu einer Dauer von sechs Monaten praktiziert werden.
Dabei hatte sich der Rat der Stadt Essen in einem gemeinsamen Antrag von SPD und Linke, der am 24.11.2010 mit den Stimmen der Grünen verabschiedet wurde, noch seiner humanen Unterbringungspraxis gerühmt. Zur Versorgung von Flüchtlingen heißt es dort: „Sachleistungen, Gutscheine oder Geldkarten entsprechen nicht den humanitären Grundsätzen, die sich in Essen als gesellschaftlicher Konsens herausgebildet haben.“ Finanzielle Erwägungen sollen nun den Ausschlag für den politischen Umschwung geben. Durch die Umstellung auf Sachleistungen kommen auf die Stadt jährlich Mehrkosten von über 800.000 Euro zu. Dennoch erwartet der Sozialdezernent Peter Renzel eine Einsparung für die Kommune, wenn durch den „Wegfall finanzieller Anreize“ mindestens 100 Flüchtlinge pro Jahr weniger kommen.
„Es ist erschreckend, welche Missachtung die Stadt Essen mit ihren Plänen dem Urteil des Bundesverfassungsgericht entgegenbringt“, empört sich Heinz Drucks vom Vorstand des Flüchtlingsrats NRW. „Ob Sachleistungen überhaupt verfassungsgemäß sind, ist nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts weiterhin höchst fraglich. Jedoch haben die Richter deutlich zum Ausdruck gebracht, dass Sozialleistungen menschenwürdig ausgestaltet werden müssen und nicht als Abschreckungsinstrument dienen dürfen.“
Auch das Argument der Kosteneinsparung lässt er nicht gelten. „Die Menschen werden auch weiterhin Schutz suchend zu uns kommen. Kein Flüchtling hat sich von den bis zum letzten Jahr deutlich unter der Sozialhilfe liegenden Sätzen des Asylbewerberleistungsgesetzes oder der oftmals rigiden Unterbringungspraxis in der Vergangenheit abschrecken lassen. Wer sein Land verlässt, hat dafür zwingende Gründe. Die Entscheidung zur Flucht steht oder fällt nicht durch ein paar Euro mehr oder weniger.“
Mehrere Kommunen in NRW haben nach dem Urteil aus Karlsruhe von Gutschein- bzw. Sachleistungsgewährung auf Barleistungen umgestellt. Anfang Juni 2013 hat die Landesregierung in einem Erlass die „Vorzüge von Barleistungen“ hervorgehoben. Dass ausgerechnet eine Stadt wie Essen, die bislang durchweg Sozialleistungen für Flüchtlinge in Form von Bargeld erbracht hat, nun den umgekehrten Weg gehen möchte, zeigt deutlich die sich erneut verschlechternde Stimmung gegen Flüchtlinge.
Der Flüchtlingsrat NRW fordert den Rat der Stadt Essen auf, die eigens von ihm aufgestellten Grundsätze aus dem Antrag vom 24.11.2010 zu beherzigen und von der Einführung von Sachleistungen Abstand zu nehmen.
Autor:Andreas Rüdig aus Duisburg |
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