„Die europäische Asylpolitik ist ein Desaster“

Seit zwei Jahren in Sachen Zuwanderung im Krisenmodus: Sozialdezernent Reinhold 
Spaniel. | Foto: Hannes Kirchner
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Duisburgs Stadtdirektor und Sozialdezernent Reinhold Spaniel zur Flüchtlingskrise

Geht es um Flüchtlinge, gilt er als Koryphäe. Seit 20 Jahren beschäftigt sich Duisburgs Stadtdirektor und Sozialdezernent Reinhold Spaniel mit der Problematik. Seit zwei Jahren befindet er sich, wie er selber sagt, „im Krisenmodus“. Waren es erst die Armutsflüchtlinge aus Südosteuropa, so gilt es nun, die Auswirkungen der neuen Völkerwanderung in den Griff zu kriegen. Der Wochen-Anzeiger traf sich am vergangenen Donnerstag, während im Bundestag das Asylpaket verabschiedet wurde, mit Reinhold Spaniel.

WA: Nach der anfänglichen Euphorie in Sachen Flüchtlinge scheint die Stimmung zu kippen. Wie stellt sich für Sie die Situation in Duisburg dar?

Reinhold Spaniel: In der Tat, im Moment wird die Willkommenskultur hinterfragt. Noch vor wenigen Wochen haben wir Szenen gesehen, wo die Bevölkerung an Bahnhöfen Beifall klatschte, als die Flüchtlinge ankamen. Es sind Bilder um die Welt gegangen, in denen sich Deutschland fantastisch dargestellt hat. Das hätte man den Deutschen nicht zugetraut. Angesichts der derzeitigen Lage muss man versuchen, diese Willkommenskultur zu hegen und zu pflegen. Denn eines muss man aus Erfahrung wissen, so eine euphorische Welle ist eine Momentaufnahme, und jede Welle ebbt im Leben auch wieder ab, und man verfällt dann wieder in den normalen Modus. Der wird sich auch bald einstellen und das ist auch gut so. Man muss nur gucken, dass das Pendel nicht ins Gegenteil ausschlägt.

Haben wir denn überhaupt eine Chance, das zu schaffen, wenn jetzt die Stimmung kippt?

Ich bin ja auf allen Bürgerveranstaltungen und treff‘ mich auch mit gesellschaftlichen Gruppen wie zum Beispiel Kirchen und Gewerkschaften. In den Bürgerveranstaltungen sind meine Erfahrungen, dass zuerst einmal viele Ängste, Befürchtungen und natürlich Gerüchte bestehen. Ich geh‘ da hin, weil ich meine, das ist Chefsache. Und zum zweiten, weil ich meine, die Bürger haben das Recht, Fragen zu stellen, Ängste zu äußern. Diese Fragen muss man sachlich beantworten, manchmal muss man auch etwas richtigstellen. Der Bürger hat Fragen, wie „Ist die Sicherheit gewährleistet?“, „Wie ist geregelt, dass die Asylbewerber einen strukturierten Tagesablauf haben?“.
Eines ist doch völlig klar, wenn ein strukturierter Tagesablauf vorliegt, mit Behördengängen, Kochen, Spielangeboten für Kinder und Sprachkursen, ist die Sache doch eine ganz andere, als wenn man die Menschen sich selbst überlässt und sie vor lauter Langeweile nicht wissen, was sie machen sollen. Darüber muss man mit der Bevölkerung reden. Wir haben in jeder Unterkunft städtisches Betreuungspersonal, an das sich die Bürger wenden können, wenn mal Probleme entstehen. Wenn die Asylbewerber zu laut sind oder sich auf der Straße nicht adäquat verhalten, dann kann man auf unser Personal zugehen. Sie regeln das dann in der Unterkunft und sprechen mit den Leuten.

„Das ist ja ein Mensch wie du und ich“

Meine Erfahrung ist, zu Beginn der Belegung einer Unterkunft gibt es in der Bevölkerung zunächst einmal Abwehr und Ängste und dann kommt es im Laufe der Zeit zu Begegnungen von Mensch zu Mensch. Das ist nun mal so. Und wenn man so von Mensch zu Mensch dem anderen in die Augen guckt und miteinander kommuniziert – viele Syrer können gut Englisch – dann ändert sich das. Dann erkennt man, das ist ja ein Mensch wie du und ich. Es entstehen Freundschaften und Patenschaften, bis hin zu Unterstützerkreisen, die sich dann gegen eine Abschiebung wenden.

Wie sieht die Flüchtlings-
situation in Duisburg in Zahlen aus?

Wir haben zurzeit 3 500 Asylbewerber in der Stadt untergebracht. Die Zahl steigt täglich. Im Moment haben wir die Situation, dass täglich 30 kommen. Das heißt, wir nehmen jeden Monat 600 Asylbewerber auf. Das sind die, die wir kommunal aufnehmen. Jetzt hatten wir in den letzten beiden Wochen zweimal eine dramatische Situation, dass zu diesen 600, die im Monat kommen, die Bezirksregierung einmal auf uns zugekommen ist und am Freitag gesagt hat, ihr müsst bis Montag 200 zusätzlich aufnehmen. Und eine Woche später die gleiche Situation, wo es hieß, am nächsten Montag kommen wieder 300. So haben wir im letzten Monat weit über 1 000 Flüchtlinge aufgenommen. Die 600, die jeden Monat kommen, haben wir zu 50 Prozent in Unterkünften, dazu gehören unsere Übergangsunterkünfte, teilweise feste Häuser, Container und auch Turnhallen, ja im Notfall auch Turnhallen, untergebracht. Die andere Hälfte der bislang 3 500 Flüchtlinge haben wir in Wohnungen untergebracht. Die Unterbringung in Wohnungen, mit dem Konzept haben sich andere Städte schon abfeiern lassen, das machen wir in Duisburg schon seit 15 Jahren.

Wie kommen Sie an die Wohnungen?

Die Wohnungen kommen überwiegend von Wohnungsgesellschaften und Wohnungsgenossenschaften. Hier sind an erster Stelle Gebag und Immeo zu nennen, die uns hervorragend helfen und uns Kontingente von leerstehenden Häusern anbieten, die ich dann anmiete. Davon profitieren wir beide. Ich profitiere, weil ich gute Unterkünfte bekomme, und die Wohnungsunternehmen davon, dass sie ihre leerstehenden Wohnungen vermietet bekommen – an einen seriösen Mieter. Ich bin der beste Mieter in dieser Stadt, einen sichereren Mieter als mich können sie nicht haben.

Wie sieht es mit den Kosten aus?

Bei den Wohnungen bewegen wir uns im normalen Bereich, eher so bei 5,49 Euro pro Quadratmeter. Zu den Kosten pro Flüchtling: Wir kriegen im Moment 46 Prozent vom Land erstattet. Heute soll ja im Bundestag das neue Asylpaket verabschiedet werden. Da soll dann eine Pauschale kommen in Höhe von 670 Euro pro Asylbewerber, die der Bund ans Land zahlt. Selbst, wenn diese Summe in vollem Umfang an die Kommunen weitergeleitet würde, würde sie nicht ausreichen. Die letzte Zahl die man mir errechnet hat, liegt bei 1100 Euro pro Asylbewerber pro Monat.

Was kommt da so pro Jahr für Duisburg zusammen?

Ich geb‘ zweistellige Millionenbeträge pro Jahr aus, das ist ja kein Geheimnis. Die Hochrechnung für 2015 beläuft sich auf 37,8 Millionen Euro. Daran kann man auch die dramatische Entwicklung erkennen. Im Jahr 2013 waren es 10,3 Millionen Euro, 2014 16,9 Millionen.

Kommen wir mal zur bundespolitischen Situation.

Anfang 2015 gab es die ersten Prognosen vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), dass 300 000 Flüchtlinge kommen, im Frühsommer waren es 400 000 bis 500 000 und nach der Sommerpause 800000.
Jetzt kommen zwei Probleme: Der Bund bearbeitet die Asylanträge. 275 000 sollen unbearbeitet sein. Solange das so ist, sind die Leute hier in den Kommunen, auch in Duisburg. Der Bund, zuständig Herr de Maizière, hat viel zu lange gewartet, das Problem verharmlost. Stichwort: Wir sind gefordert, aber nicht überfordert. Da hat Herr de Maizière wohl die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Mittlerweile sieht er das auch anders.
Der neue Chef des BAMF hat sofort 3 000 neue Stellen zur Abarbeitung der Anträge beantragt. Jetzt muss man eines wissen. Sie müssen die Stellen ausschreiben, Personal auswählen und das dann schulen und einarbeiten. Bei Asylanträgen geht es um Leben oder Tod, das ist eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe, nicht mit der Genehmigung einer Garage zu vergleichen. Da kann man nicht mal eben einen zweitägigen Schnellkurs machen.

Wie sehen Sie die europäische Asylpolitik?

Ich muss es mal sagen: Die europäische Asylpolitik ist ein Desaster, anders kann ich das nicht bezeichnen. Es wird eine der größten Aufgaben sein, die Asylpolitik auf gesunde Füße zu stellen, denn im Moment, nach meiner Wahrnehmung, gibt es ein ziemliches Durch-einander, keine einheitlichen Standards, was Asylrecht und Versorgung anbelangt. Das muss man erst einmal auf gemeinsame Füße stellen. Genau wie die Aufnahmequoten. Die Osteuropäer halten sich vornehm zurück. Wer von der EU profitiert, muss auch Solidarität zeigen in guten wie in schlechten Zeiten. Die Aufnahmebereitschaft in Großbritannien halte ich auch für diskutabel. Die Engländer wollen bis 2020 20 000 Syrer aufnehmen, macht 4 000 pro Jahr, die nehme ich in Duisburg alleine auf!

Letzte Frage: Werden wir es schaffen?

Mutti hat gesagt: „Wir schaffen das!“ Die anderen Länder sagen: „Was stellen die sich da so an in Deutschland? Eines der reichsten und produktivsten Länder dieser Erde stöhnt, was sollen wir denn sagen?“ Asylrecht ist ein individuelles Recht, das keine Obergrenze kennt. Die weiße Fahne zu hissen, geht nicht. In der Realität gibt es faktische Grenzen, die haben wir bald erreicht. Gut, ich kann noch zehn Turnhallen oder Stadthallen belegen. Es gibt keine Tabus mehr. Im Moment ist Krisenbewältigung angesagt, es geht erst einmal um die Verhinderung von Obdachlosigkeit. Woran viele nicht denken: Für diejenigen, die hier bleiben und anerkannt werden, muss sich unsere Gesellschaft ja aufstellen. Kindergartenplätze, Schulen, Sprachkurse, Arbeitsprogramme et cetera – die Integration kommt ja noch. Und die werden wir nicht aus der Portokasse bezahlen können!

Autor:

Andreas F. Becker aus Duisburg

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