Die schwarze Witwe führt über den Waldfriedhof
Unterwegs mit der "Friedhofsflüsterin"
Duisburg-Wanheimerort. Eine seltsame Anspannung liegt in der Trauerhalle des Waldfriedhofs in Duisburg. Gleich wird sie kommen: Die schwarze Witwe. Und schon verstummen die Gespräche der rund 100 Zuschauer, als sie auch schon aus den hinteren Reihen nach vorne kommt. Mit ihrem auffallend schwarzen Hut, dem langen schwarzen Mantel und der Lockenmähne scheint sie wie aus der Zeit gefallen. Was sie auch ist. Schließlich ist die „Friedhofsflüsterin“ eine Witwe, die im 19. Jahrhundert beheimatet ist und angeblich 17 Ehemänner überlebt hat. In ihrer süffisant-humorvollen Art plaudert sie über Vorzeichen des Todes, Bräuche und Volksglauben. Ihr Publikum freut es, welches an diesem 4. November 2023 mit Regenschirmen und Taschenlampen ausgestattet ist, um der schwarzen Witwe an diesem Novemberabend bedingungslos in die Dunkelheit des Waldfriedhofs zu folgen.
Die Friedhofsflüsterin, im wahren Leben Dr. Anja Kretschmer, hat als Kunsthistorikerin über „Häuser der Ewigkeit. Mausoleen und Grabkapellen des 19. Jahrhundert“ promoviert und dabei so einiges an Wissenswertes, aber auch Absurdes rund um Friedhöfe und Trauerkultur zusammengetragen. Schon als Kind hat sie sich auf Friedhöfen in der Oberlausitz herumgetrieben und dabei ein unbefangenes Verhältnis zu den letzten Ruhestätten entwickelt. Offenbar nicht ohne Grund, denn schließlich sei, so gesteht die dreifache Mutter, ja bei ihrer Geburt ein Leichenwagen vor dem Haus vorbeigefahren.
Ihren Zuschauern berichtet sie davon, welche sicheren Anzeichen des nahen Todes es geben würde: „Wenn Raben sich auf dem Dachfirst niederlassen, dann wird in der nächsten Zeit jemand sterben. Rufen die Raben „starb, starb“, so würde bald die Ehefrau abberufen. Rufen die Raben „starb, starb, starb“ der Ehemann. Nur bei Mehrfamilienhäusern sei schwierig zuzuordnen, welcher Ehemann bzw. welche Ehefrau denn gemeint sei.“
Anja Kretschmer bemängelt, dass das Selbstverständliche und Unabwendbare der Welt heutzutage so stark aus unserem Alltag verdrängt ist, dass Sterben faktisch nur noch im Krankenhaus und nicht mehr in den eigenen vier Wänden stattfindet. Ihre Kunstfigur berichtet der Besuchergruppe, dass es früher selbstverständlich war, dass die Brautleute zur Hochzeit ihr Totenhemd geschenkt bekamen und man schon mal Maß für den Sarg genommen habe – nicht bei den Brautleuten, sondern bei deren Eltern, denn schließlich seien sie ja als nächstes an der Reihe.
Mit ihrer Besuchergruppe im Schlepptau schlendert sie weiter über den Friedhof, in dem zum Trauermonat November die Kerzen im Dunkel an die vielen Verstorbenen erinnern. Sie plaudert dabei über die Bräuche, welche nach Eintritt des Todes im Haus vollzogen wurden. So wurden Uhren angehalten, um die Todeszeit zu dokumentieren und Fenster geöffnet, damit die Seele entweichen und sich keinesfalls im Haus verfangen konnte. Die Menschen ihrer Zeit, so berichtet die schwarze Witwe, stellten allerhand Sachen an, damit die Seele des Verstorbenen nicht ins Haus zurückkehrte um als „Nachzehrer“ den nächsten aus der Familie ins Reich der Toten zu holen. Spiegel wurden verhängt, damit nicht zwei Tote im Haus waren. Üblicherweise wurden Tote drei Tage lang im Haus aufgebahrt, so dass die Familie und die Nachbarn sich in aller Ruhe vom Verstorbenen verabschieden konnten. Von einer 24/7-Mentalität heutiger Bestatter, die die Verstorbenen sofort und auch mitten in der Nacht aus dem Haus holten, war man damals noch weit entfernt. Grund hierfür war, dass Bestattungen noch durch den Familien- und Nachbarschaftskreis erfolgten. Über den Tod informierten nicht etwa Zeitungsanzeigen und WhatsApp-Nachrichten, sondern der Leichenbitter, der die traurige Nachricht mündlich von Haus zu Haus trug und zur Beerdigung einlud.
Das der Tote „mit den Füßen voran“ aus dem Haus getragen wurde, hatte einen ganz einfachen Grund: Man wollte, dass der Verstorbene Richtung Friedhof und nicht etwa Richtung Haus guckte, damit er keinesfalls zurückkommen sollte. Zur Sicherheit trug man den Sarg dreimal um die Kirche herum, damit der Verstorbene so verwirrt sei und den Weg mit Sicherheit nicht zurückfinden sollte.
Aus unserer heutigen Sicht scheinen manche Bräuche wie Aberglaube. Gleichwohl haben sich viele Rituale, wie das Öffnen des Fensters nach Eintritt des Todes, bis heute bewahrt. Kretschmer findet, dass wir uns viel Öfters auf unsere Ahnen und ihren Totenkult besinnen sollten. Sie kritisiert, wie wir unsere Verstorbenen heutzutage geradezu „entsorgen“, in dem wir diese anonym bestatten und selbst Trauerfeiern nicht mehr stattfinden. Die schwarze Witwe bemängelt, wie viele Menschen heute „Sang- und Klanglos“ (übrigens auch ein Ritual, wonach kein Verstorbener ohne Gesang und ohne Klingeln beerdigt wurde) unter die Erde kommen: „Wir bestatten Menschen heute so, als ob es sie nie gegeben hätte“. Natürlich waren auch zu ihrer Zeit die Kosten der Beerdigung nicht unerheblich, aber die Menschen hätten hierauf wirklich ein Leben lang gespart. Heutzutage würde man es wohl „Vorsorgeverträge“ nennen, die auch viele Bestattungsunternehmen anbieten.
Anja Kretschmer wirbt für eine Rückbesinnung auf die alten Werte und freut sich gerade über die jungen und motivierten Bestatter, die vieles von dem, was zur Zeit der schwarzen Witwe selbstverständlich war, wieder zu den Menschen zurückbringen. So sind auch heute Hausaufbahrungen genauso möglich wie auch bei der hygienischen Versorgung des Leichnams dabei zu sein und aktiv daran mitzuwirken.
Nach etwas über einer Stunde ist der nächtliche Rundgang über den Waldfriedhof, der in diesen Tagen seinen 100. Geburtstag feiert, beendet. Die schwarze Witwe erinnert ihre Begleiter daran, dass sie keinesfalls den selben Weg nach Hause nehmen sollen, welcher sie heute zum Friedhof geführt hat. Andernfalls bestünde die Gefahr, so warnt sie mit einem süffisanten Unterton, dass die Toten einem folgen würden...
Buchtipp
„Friedhofsgeflüster“ von Anja Kretschmer
Garamond, 19,90 €
ISBN 9 783946 964261
Autor:Dirk R. Schuchardt aus Duisburg |
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