Umarmung des Grauens

Gute Nacht und träume süß - Schauer-Short-Story

Es war ein lauer Sommertag. Faul lagen die Kühe auf der Weide und vertrieben mit den wedelnden Schwänzen die Fliegen und Mücken. Langsam neigte sich der Tag seinem Ende zu, und die Sonne war fast verschwunden. Kühler wurde der Wind, der jetzt langsam von Westen aufkam. Mit vollen Milchkannen beladen ratterte ein altes Pferdefuhrwerk den ausgefahrenen Weg heran. Der Kutscher war in eine Art Halbschlaf verfallen. Der Oberkörper schwankte mit jeder Bewegung des Fuhrwerkes hin und her. Die Peitsche, die er in den Händen hielt, pendelte sachte und strich mit ihrem Ende jedes mal über das pralle Hinterteil des Zotten, der, schon recht altersschwach, langsam und gemächlich dahin trottete. Die Zeit schien stillzustehen.

Laurenz trat mit einem tiefen Seufzer aus der Haustür des Bauernkotten auf den Hof. Hinter ihm ertönte das Gekeife seiner Frau. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze. Erschöpft hielt er sich die Ohren zu, um zu vermeiden, das Geschrei noch länger hören zu müssen. Er war erst 38 Jahre alt. Seine hochgewachsene Gestalt war eine Augenweide. Das lockige, schon leicht angegraute Haar, lag voll um seinen Kopf. Die hellen Augen blickten normalerweise klar in die Welt. Nicht so seit einigen Jahren, seit er diese Frau geheiratet hatte. Gesinde hieß sie. Damals ein liebenswertes, friedliches und freundliches Wesen. Er hatte sich beim ersten Anblick in sie verliebt. Als aber die guten Jahre von den schlechten vertrieben wurden und die Armut bei ihnen Einzug hielt, änderte sich auch ihr Wesen. Aus der ruhigen Frau, die sich nicht so schnell aufregte, wurde ein unzufriedenes, keifendes Weib, das ihn mit ihren Schimpftiraden an den Rand des Wahnsinns trieb. Schon lange überlegte er, wie er sie loswerden könnte. Aber der Schuldenberg war so groß, daß an eine Scheidung nicht zu denken war.

Gesine holte erschöpft Atem. So war es immer. Er lief einfach vor den Problemen davon. Sie konnte sagen, was sie wollte. Stets schwieg er dazu und brachte kaum ein Wort heraus. Sie verlor dann die Nerven und schrie herum wie ein altes Fischweib. Es lag keineswegs in ihrer Absicht, so zu sein. Aber die entbehrungsvollen Jahre, die nach den glücklichen und reichen folgten, hatten aus ihr das gemacht, was sie heute war. Eine keifende, schlampige Frau, die ihrem Mann das Leben zur Hölle machte. Sie weinte still vor sich hin. Wie kamen sie aus diesem Teufelskreis je wieder heraus, wer bot ihnen die Hilfe an, die sie brauchten, ohne sie mit überhöhten Forderungen über den Leisten zu ziehen? Wer?

Das Pferdefuhrwerk erreichte die letzte Kurve des Heimweges und bog quietschend in den Hof ein. Laurenz ging dem Kutscher entgegen und faßte nach dem Pferdehalfter. "Na, Alter, haben die Kühe genug Milch zum Verkauf gegeben, oder reicht es mal wider nur für unseren eigenen Bedarf?" "Jo, auch! Die Kühe haben heuer mehr Milch gegeben, als in den ganzen Monaten zuvor. Ich weiß gar nicht, wie das kommt. Die Weide ist ziemlich abgegrast, und die Kühe finden nur noch das Notwendigste zu fressen, und trotzdem, die Euter waren prall und voll wie lange nicht mehr." Dem Alten stand die Verwunderung ob dieses "Wunders" erneut ins Gesicht geschrieben. Er konnte sich kaum über dieses Ereignis beruhigen. Auch Laurenz' Augen wurden groß vor Staunen, als er eine gefüllte Milchkanne nach der anderen vom Wagen hob. "Ja wo hast du denn um Himmelswillen die vielen Kannen her?" "Jo, was weiß ich? Sie standen am Wiesenrain auf der Milchbank, und alle tragen unseren Namen!" Laurenz überlegte, wer könnte die Kannen aus der Scheune an den Wiesenrain gestellt haben. Sein liebes Weib sicher nicht. Auch er hatte dem alten Knecht keinen Auftrag dazu gegeben. Wer also könnte es gewesen sein?
Gesine empfing ihren Mann mit der üblichen Frage: "Na, haben die Kühe endlich wieder Milch gegeben?" Freudestrahlend ging Laurenz auf sie zu: "Stell dir vor, mehr als in den vergangenen Monaten. Nun scheinen wir endlich die Pechsträhne hinter uns zu haben." Von der Freude überwältigt nahm er sie in die Arme, was er schon lange nicht mehr gemacht hat. Gesine versteinerte förmlich. Laurenz, der ihr leichenblasses Gesicht nicht sehen konnte, bemerkte dies. Verlegen ließ er sie wieder los. "Gesine, dies ist ein Zeichen, sollen wir nicht noch einmal von vorne anfangen? Ich denke oft an die schönen Jahre, die wir zusammen hatten, bis uns das Glück verließ. Komm, wir sind noch jung. Laß uns ein Kind haben, das an unserem Glück teilhaben soll." Gesine wusste nicht, was sie sagen sollte. Auf keinen Fall aber die Wahrheit.

Laurenz blühte unter den neuen Umständen förmlich auf. Seine Arbeitskraft schien überzugreifen auf die Milchkühe, deren Euter überzufließen schienen. Laurenz wunderte sich über gar nichts mehr. Hatte seine uralte Sau 20 Junge geworfen. Man stelle es sich vor, eine Sau, die seit Jahr und Tag nur noch ein Gnadendasein fristete, weil Laurenz ein alter Aberglauben daran hinderte, das einzige weibliche Borstenvieh zu schlachten. Die Koteletts sind sowieso nicht mehr zu genießen, pflegte er zu sagen, wenn ihn jemand danach fragte, wann er endlich dieses alte Unikum von seinem Erdendasein erlösen wolle. Laurenz hatte so seine eigenen Gedanken. Die hatte auch sein Vater und sein Großvater, ja sogar sein Urgroßvater schon gehabt.

Es ging die alte Sage, daß der, der das letzte weibliche Schwein auf einem Bauernhof tötete, niemals nach seinem eigenen Tod die ersehnte Ruhe finden würde. Er würde auf immer und ewig in der alten Dorfeiche weiterleben müssen, bis ein anderer Bauer sich des selben Vergehens schuldig machen würde. Außerdem würde er niemals mehr reiche Erträge aus der Erde oder dem Vieh herauswirtschaften können, es sei denn, er würde ein anderes lebendiges Opfer bringen. Laurenz hatte sich stets an die alten Regeln gehalten. Deshalb konnte er auch nicht verstehen, weshalb ihn sein Glück so abrupt im Stich gelassen hatte. Aber nun hat dieser böse Spuk ja ein Ende, dachte er bei sich und zog fröhlich pfeifend seinen Flug durch den fetten Acker. Für ihn war die Welt wieder in Ordnung.

Gesine stand im Schlafzimmer und presste das bleiche Gesicht an die kühle Fensterscheibe. Sie konnte sich an dem Glück nicht freuen. Ihre Hände pressten sich auf ihren Leib, in dem ein neues Lebewesen heranwuchs. Nur, es war nicht das Kind von Laurenz. Es war ein Wesen, an das sie nicht mal mehr im Traum zu denken wagte. Wie hatte ihr dies nur geschehen können? Ihr sträubten sich noch die Nackenhaare an die Erinnerung daran, wie sie zu dieser Leibesfrucht gekommen war. Ein leiser Schauer des Grauens kroch über ihren Körper, als ihr bewusst wurde, was sie in sich trug. Die Brut des Satans!

Die Nacht kam schnell und fiel über das Land fast ohne Vorwarnung. Eine drückende Stille lastete auf den Menschen des Ortes, die in der Nähe der alten Eiche lebten. Schwer fiel das Atmen, die Gedanken ließen sich nicht steuern. Eine seltsame Trägheit machte sich in den Hirnen breit. Laurenz fiel es schwer, an den nächsten Tag zu denken. Er lag mit offenen Augen im Bett und versuchte mühsam, sich zu konzentrieren. Es gelang ihm nicht. Langsam drehte er sich zu Gesine. Seine Hand tastete nach der ihren. Seit sie wieder zueinandergefunden hatten, nachdem das Glück ihnen wieder hold war, war sie wie verwandelt. Keine Widerreden mehr, kein Gekeife, kein Schreien und Tadeln. Hingebungsvoll wie in den ersten Jahren ihrer Ehe war sie seit dieser Zeit. Und dennoch, irgend etwas an ihr war seltsam. Er wusste nicht was, aber es war etwas zwischen ihnen, das er nicht zu deuten wusste. Das sie schwanger war, hatte ihn sehr glücklich gemacht. Aber das war es nicht, das zwischen ihnen stand. Wie ein Geheimnis legte es sich auf das Haus. Seine Hand wollte die ihre fassen, aber Gesine war nicht im Bett. Laurenz hatte nicht bemerkt, dass sie leise wieder aus dem Bett aufgestanden war und das Zimmer verlassen hatte.
Laurenz versuchte nachzudenken, aber der Druck auf seinem Kopf ließ es nicht zu. Schon wusste er nicht mehr, was er eigentlich wollte. Verwirrt lag er eine zeitlang mit offenen Augen da. Eine bleierne Müdigkeit überfiel ihm plötzlich und versenkte ihn in sekundenschnelle in einen traumlosen Schlaf.
Draußen strich ein leichter Wind über das mit Riet gedeckte Dach. Ein leiser Heulton, für das menschliche Ohr kaum wahrnehmbar, klang von der alten Eiche herüber. Gesine folgte diesem Ton auf nackten Füßen, nur mit einem dünnen Nachthemd bekleidet. Mit traumwandlerischer Sicherheit setzte sie Fuß vor Fuß auf dem unebenen Weg und schritt rasch aus. Ihre weitgeöffneten Augen fixierten einen noch unsichtbaren Punkt in der Ferne. Gesine wußte nicht, ob sie dies alles nur träumte. Sie empfand keine Kälte, nicht die Steine unter ihren nackten Fußsohlen, nicht ihre Umgebung. Sie fühle nur diesen Drang zu gehen und diesem Ton zu folgen der unablässig in derselben Tonart zu hören war. Nach fast 15 Minuten war sie am Ziel. Sie stand vor der uralten Eiche. Ein blasser Vollmond stand über ihrem Wipfel und blickte auf das Menschenkind herab. In der Ferne ertönte die alte Kirchturmuhr. Mitternacht! Plötzlich war der Heulton verschwunden. Eine bleierne Stille machte sich breit. Gesine stand da und wartete. Plötzlich ging ein Rauschen durch die Zweige des Baumes. Aber kein Ast bewegte sich. Es war , als würden Gedanken, Wünsche, Träume, Gefühle, Hoffnungen, Liebe lebendig. Und der Hass!

Gesine stand wie in Trance da. Sie fühlte, wie unzählige Hände nach ihrem Körper tasteten und mit gierigen Fingern über ihren Leib strichen. Und doch war keine Hand zu sehen. Es war alles nur Gefühl. Ein leises Kichern war zu hören, als die unsichtbaren Finger ihre vollen Brüste berührten. Ein Gefühl der Glückseligkeit durchdrang ihren Körper, als sie sich von den Händen gestreichelt und umarmt fühlte. Dicht drängte sie den Körper an die alte Eiche und verschmolz mit ihr. Die Gefühle trugen sie hoch zu den Sternen, als sie ihren Höhepunkt erlebte. Sie war nicht mehr Körper, sie war nur noch Gefühl und eins mit der Eiche.
Mit der Eiche, in der seit mehreren hundert Jahren der Geist des Bauern lebte, der die alten Regeln nicht beachtet und das letzte weibliche Tier auf seinem Hof geschlachtet hatte. Die Hungersnot hatte ihm keinen anderen Ausweg gelassen. Nach seinem Tod nun wurde der alte Fluch wahr , und sein Geist wurde von der Eiche aufgesogen wie ein Tropfen Wasser von einem trockenen Schwamm. Und nicht nur sein Geist, sondern auch alle anderen, die zu diesem Zeitpunkt starben. Und so gelangten nicht nur gute Geister in den Baum, sondern auch böse, unberechenbare, zerstörerische Geister, die Unheil in die Welt bringen wollten. Gesine, die die Mähr über die Eiche von einer alten Einsiedlerin kannte, wurde schon lange wie magisch von der Eiche angezogen. Auch gefielen ihr die Geschichten, die die Alte, deren Alter niemand wusste oder schätzen konnte, erzählte. So kam es, dass Gesine oft zu der Eigenbrödlerin ging und es sich angewöhnt hatte, ihr ihre Sorgen und Nöte zu erzählen. So wusste die Alte auch über die Sorgen, die sich auf dem Kleinen Hof breitgemacht hatten, Bescheid. In einer Vollmondnacht schlich sie zu dem Hof und klopfte leise ans Fenster. Gesine schrak hoch. Die Alte rief leise nach ihr. Gesine stand auf und ging hinaus vor die Tür. "Wenn du dein Glück zurückhaben willst, dann komm mit mir und frage nicht", war alles, was die Alte zu ihr sagte. In jener Nacht ging Gesine das erste mal den Weg zu der Eiche. Auf dem Weg dorthin verspürte sie ein eigenartiges Gefühl. Es war keine Angst, nein, es war.... Sie wusste es selbst nicht. Als die beiden nächtlichen Wanderer bei der Eiche angekommen waren, war es Gesine, als ob ein leises Lachen ertönte. Ein Schauer lief über ihren Rücken, aber es war kein unangenehmer. Ein Kribbeln machte sich in ihrem Körper breit, das sie sich nicht erklären konnte. Und in dieser Nacht erlebte Gesine das erste mal die Vereinigung mit der Eiche. Als sie später in ihrem Bett lag, konnte sie sich nicht daran erinnern, was eigentlich geschehen war. Sie fühlte sich sonderbar leicht und wohl und glücklich, wie seit langem nicht. Von Stund an hatte das Glück wieder Einzug auf dem Hof gehalten.
Gesine saß auf der Bank vor dem Haus, als die Alte unvermittelt vor ihr stand. "Du musst heute Nacht zur Eiche gehen, wenn nicht wieder die alten Sorgen bei Euch einkehren sollen", sagte sie mit einem hämischen Grinsen auf dem Gesicht. "Was soll ich bei der Eiche?" fragte Gesine erstaunt. Sie hatte nichts davon in ihrem Gedächtnis behalten, was in jener Nacht geschehen war. "Du wirst schon sehen!" Die Alte machte sich auf den Weg und war in wenigen Sekunden aus Gesines Blickfeld verschwunden. Gesine verschwendete keinen Gedanken mehr an die Alte, und als sie ins Bett ging, hatte sie das Gespräch schon vergessen.

In dieser Nacht hörte sie zum ersten mal diesen Ton. Schlafwandlerisch stand sie auf und folgte magisch gezogen diesem Klang. Sie stand vor der Eiche. Und wieder griffen die tausend unsichtbaren Hände nach ihr. Doch dieses mal war es anders. Bei vollem Bewusstsein, aber unfähig sich zu wehren spürte sie, was mit ihr geschah. Sie fühlte und sah nichts. Das Grauen machte sich in ihr breit. Sie versuchte zu schreien, aber kein Ton kam über ihre Lippen. Mit schreckgeweiteten Augen sah sie, wie die Eiche lebte und sah doch nichts. Sie hörte die Stimmen, die wispernd an ihr Ohr drangen und hörte doch keinen Ton. Ihr Geist fing die Botschaft auf, die die Stimmen ihr eingaben. "Ein Kind, wir brauchen ein Kind von Dir, um weiterleben zu können. Du musst es freiwillig tun, Du musst nur ja sagen. nur ja, nur ja!" Gesines Verstand wehrte sich gegen das, was sie erlebte, aber er hatte keine Chance. Die Hände begannen mit ihr zu spielen. Ungeahnte Glückseligkeiten erlebte sie in wenigen Sekunden. "Sag nur ja, nur ja, dann ist alles gut!" Im Augenblick der höchsten Ekstase konnte sie nicht anders und schrie das ja heraus und wurde im selben Augenblick eins mit dem Baum. Als sie wieder sie selbst war, konnte und wollte sie nicht glauben, was passiert war. Ein höhnisches Lachen war die Antwort auf ihre Tränen. Am Himmel türmten sich die Wolken zu drohenden Bergen auf, und der Mond versteckte sein Angesicht. Ein unendliches Grauen fiel auf die Erde und entlockte ihr ein Schluchzen. Gesine taumelte mehr als sie lief weg von diesem Ort der Verderbnis und konnte ihrem Schicksal doch nicht entgehen. Die Frucht lag in ihrem Schoß, unabwendbar, unweigerlich mit ihr verwachsen, bereit zu gedeihen , von ihr geboren zu werden und das Verderben auf die Erde zu bringen. Dies war die einzige Nacht, die Gesine nicht vergaß!
Wochen zogen ins Land, und Gesine wurde jede Vollmondnacht zu der Eiche gerufen. Jedes mal erlebte sie das Spiel der unsichtbaren Hände und die tausend Freuden, die sie ihr verschafften, und jedes mal befühlten die unsichtbaren Hände ihren Leib, der die ungeliebte Frucht in sich trug. Aber jedes mal vergaß sie auch, was sie in den Nächten erlebte. Nur die Erinnerung an die einzige Nacht nicht, und mit Bangen und tausend Ängsten wartete sie auf ihre Niederkunft.

Als die Stunde näher rückte und sie das Kind gebären sollte, verdunkelte sich der wolkenlose Himmel und ein Sturm zog von Norden heran. Windböen peitschten die Felder und die Bäume duckten sich unter der Kraft des Sturmes. Gesine lag auf ihrem Bett und wusste nicht, was sie tun sollte. Die Wehen hatte heftig und ohne Vorwarnung eingesetzt. Laurenz war irgendwo auf den Feldern. Der Knecht in den Ställen. Weit und breit war niemand, der ihr helfen konnte. Ein Schrei drang ihr aus der Kehle, als die Schmerzen fast unerträglich wurden. Wie aus der Erde gezaubert stand plötzlich die Alte vor ihr. Ihr zahnloser Mund verzerrte sich zu einem höhnischen Grinsen. "Gel, die Umarmungen der Eiche waren schöner," flüsterte sie lüstern. "Das Streicheln der Hände und Finger gaben dir Lust, nicht wahr? Jetzt wirst du der Eiche einen Sohn schenken, einen Sohn", kicherte sie . Gesine war verwirrt. Wie kam die Alte ins Haus? Wer hatte sie hereingelassen, und was erzählte sie da von Umarmungen? Nur einmal, nur einmal war dies doch passiert, und dann nie wieder. Verzweiflung überkam sie. Fragend sah sie die Alte an: "Hilf mir," flehte sie, "bitte, bitte hilf mir. Die Schmerzen sind fürchterlich. Gib mir etwas, irgend etwas, damit sie aufhören." "Du musst mitkommen", flüsterte die alte Hexe kaum hörbar, "mitkommen musst du, zu der Eiche, zu der Eiche." "Ich kann nicht", weinte Gesine, "ich kann doch nicht!" "Doch, du kannst!" Befehlend und kerzengerade stand die Alte vor ihr. Unter dem zwingenden Blick versuchte Gesine aufzustehen. Mühsam kam sie auf die Beine. "Siehst du, wenn man will, geht alles." Die Alte nahm Gesine bei der Hand. "Ich führe dich, ich führe dich zu deinen tausend Liebhabern, denen du heute Nacht einen Sohn schenken wirst!"

Laurenz kam langsam zu sich. Ein am Boden liegender Ast, vom Sturm aufgewirbelt, hatte ihn am Kopf getroffen, und er war besinnungslos zusammengebrochen. Verstört blickte er um sich. Es war tiefschwarze Nacht. Am Himmel war kein Stern zu sehen. Auch der Vollmond war hinter dunklen Wolken verborgen. Ein unheimliches Gefühl beschlich ihn. Gesine, was war mit Gesine? Er rappelte sich hoch und kam auf die Beine. Er schwankte noch ein wenig hin und her, bis er wieder sicher auf den Beinen stand. Plötzlich ertönte ein ohrenbetäubender Donnerschlag. Ein Sausen lag über ihm, dass ihm schier das Trommelfell zu platzen drohte. Er hielt sich die Ohren zu. Aber der Ton war zu durchdringend. Laurenz taumelte auf dem Weg hin und her, als er versuchte nach Hause zu gelangen. Aber der Ton zog ihn in eine andere Richtung. Kurze Zeit später stand er vor der Eiche. Er glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Gesine lag völlig nackt auf der Erde, nein, nicht auf der Erde. Sie schwebte wenige Zentimeter über ihr. Der Leib wölbte sich hoch auf und er sah, dass die Geburt bereits im vollen Gange war. Er wollte zu ihr hineilen, aber er konnte sich nicht bewegen. Eine unsichtbare Macht hielt ihn fest. Er wollte rufen, aber auch seine Stimme gehorchte ihm nicht. Er vernahm ein Wispern und Flüstern, ohne das er Stimmen hörte. Wie Gesine sah er, wie der Baum lebendig wurde, ohne lebendig zu sein. Wie Hände nach ihr griffen und sich an ihr zu schaffen machten. Weit wurden ihre Beine gespreizt, Hände griffen in sie hinein und zogen ein Kind aus ihrem Körper. Ihr Schrei der unendlichen Qual deckte sich mit dem Schrei des Neugeborenen. Das Böse war auf der Welt!

Fast sofort verließ der Schmerz Gesines Körper. Sie war erschöpft. Sie wollte nicht wahrhaben, was hier mit ihr geschah. Hilfesuchend wollte sie sich umsehen, aber die Geister hielten sie noch in ihrem Bann. Ihr Geist vernahm die Botschaft der Bösen. "Zum Dank für diesen Sohn, in den wir bald einziehen werden, sollst du jede Vollmondnacht die Freuden der Lust erleben. Und du sollst bei vollem Verstand sein, wenn wir dich lieben, wenn unsere Hände nach dir greifen. Wenn wir deinen Körper liebkosen. Du wirst dich uns nicht entziehen können. Wir sind immer da. Wenn du das Kind an deiner Brust nährst, nährst du gleichzeitig uns. Wir werden wachsen und gedeihen, Dank dir und deiner Milch!" Ein ekelerregendes Kichern war zu hören. Gesine spürte die Finger über ihren Körper wandern. Sie ließen ihr keine Erholungspause. Nach langer Zeit spürte sie die aufsteigende Erregung. Sie wehrte sich gegen das Gefühl, vergebens. Die Geister ließen keinen Zentimeter ihrer Haut unberührt. mit unglaublicher Sanftheit massierten die Finger das wohlige Gefühl aus ihr heraus. Als sie den Höhepunkt erreichte, zuckten Blitze vom Himmel, Donner grollte und strömender Regen schlug aus den pechschwarzen Wolken nieder auf ihren geschundenen Leib. Verzweifeltes Schluchzen löste sich endlich aus ihrer Kehle und auch Laurenz war wieder in der Lage, sich zu bewegen. Mit großen Sätzen hastete er zu seiner Frau, die hart auf dem Boden aufgeschlagen war. Sie schrie und schrie und schlug mit den Armen um sich. Er versuchte vergebens, sie zu beruhigen. Nach einiger Zeit hörte sie von selber auf . Erschöpft holte sie Atem. Ihr verzweifelter Blick fragte, was soll werden?

Das Kind lag neben ihr auf dem weichen Moos. Es war von unbeschreiblicher Schönheit. Die Züge waren makellos, die Haut weiß und ohne Fehl. Seine Glieder waren perfekt. Gesine sah voll Widerwillen auf das kleine Geschöpf. Es schien, so unbekleidet wie es war, keine Kälte zu verspüren. Die Augen waren auf Gesine gerichtet und sein Geist nahm mit dem ihren Kontakt auf. "Hier bin ich, dein leibliches Kind und die Ausgeburt der Hölle. Du hast keine Chance gegen mich. Du kannst mich nicht töten. ich habe alle Macht der Welt in mir. Wenn du mich auch ablehnst, bald wirst du mich lieben müssen, denn ich erfülle dir jeden Wunsch. Jeden, aber du musst tun, was ich will, bis dieser schwächliche lächerliche Körper groß genug für mich ist." Auch Laurenz wurde diese Botschaft kundgetan, und sein Inneres zog sich vor Grauen zusammen. Er nahm das Kind auf den Arm und half Gesine auf die Beine. Gemeinsam gingen sie langsam nach Hause. Beide wollten sich ihre Zukunft nicht vorstellen.

Der alte Knecht war schon kurz nach der Geburt des Kindes gestorben, das heißt, er war an den Folgen eines Sturzes von einer Leiter gestorben. Die letzten Tage vor seinem Tod waren für ihn die Hölle. Schmerzen quälten ihn ohne Unterbrechung, bis er endlich seinen letzten Atemzug tat. Bald darauf verunglückte auch ein Vertreter auf dem Hof, der seine Waren feilbot. Gesine pflegte auch ihn bis zu seinem Tod. Laurenz, der nun die ganze Arbeit allein bewältigen musste, dachte daran, einen neuen jüngeren Knecht einzustellen. Aber so sehr er auch suchte, er konnte keinen finden. Aber auch ohne fremde Hilfe gedieh das Vieh, trug der Acker Früchte und Korn, ohne dass jemand eine Hand rühren musste. Das es so war, fiel Laurenz erst nach einiger Zeit auf. Zu sehr grübelte er herum und versuchte, die grauenvolle Nacht und die Geburt des Kindes zu vergessen. Aber was er auch anstellte, stets hatte er das Bild vor Augen, wie Gesine den Jungen gebar.

Bald verfiel Laurenz in tiefe Trübsinnigkeit und Depressionen, aus der sein Geist nicht mehr herausfand. Gefangen in seinem eigenen Körper vegetierte er nach ein paar Monaten nur noch vor sich her. Gesine verfolgte dies mit Entsetzen. Sie hatte Angst, Laurenz zu verlieren und mit dem Kind allein dazustehen. "Sorge dich nicht", sprach der Geist des Kindes zu ihr. Was grämst du dich um diesen Hurensohn? Ohne ihn bist du viel besser dran" Da wusste Gesine mit einem mal, dass die Todesfälle auf dem Hof und auch die Krankheit Laurenz keine Zufälle waren. Und als Laurenz das Zeitliche segnete, stand für sie fest, dass das Kind Schuld daran war.

Das Kind ließ seinen Geist schweben und suchen und fand Gesines Geist. "Nun sind wir zwei allein. Niemand wird uns mehr stören. Bis meine Zeit kommt, wird niemand mehr diesen Hof betreten. Komm, säuge mich, damit ich zu Kräften komme und schneller wachse." Leichenblass ließ Gesine ihre Arbeit liegen. Sie ging zu dem Kind, das in der alten Bauernwiege lag, in dem auch einst Laurenz gelegen hatte. Hasserfüllt sah sie es an. Sie hob die Arme und wollte auf das Kind einschlagen. Aber kaum hatte sie die Arme zum Schlag erhoben, als sie von einer unsichtbaren Kraft festgehalten wurde. Bösartig sah das Kind sie an. "Nie wieder, hörst du, nie wieder erhebst du die Hand gegen mich!" Gesine wimmerte leise vor sich hin. Gehorsam ließ sie die Arme sinken und nahm das Kind aus der Wiege. Sie öffnete ihr Kleid und legte das Kind an die volle Brust. Gierig saugte das Wesen an der Brustwarze. Süße Milch strömte heraus und ergoss sich in den Schlund des Kindes. Mit jedem Schluck trank es Kraft und Stärke in sich hinein. Gesine stöhnte auf, als die Brust geleert war und das Kind kräftiger weiter saugte. Kaum konnte sie seinen Mund von der Warze lösen. Sie legte es an der anderen Seite an, und wieder saugte der Unhold das kostbare Nass in sich hinein.

Die Macht des Bösen wuchs schnell. Mit Erreichen des 7. Lebensjahres war der Junge so groß wie ein ausgewachsener Mann. In all den Jahren wurde Gesine in jeder Vollmondnacht zu der Eiche gerufen. Stets war sie bei vollem Bewusstsein und konnte sich doch nicht wehren. Längst hatte sie jeden Widerstand aufgegeben. Es hatte keinen Sinn. Ergeben ertrug sie ihr Schicksal, sie sah schon lange keinen Ausweg mehr aus ihrer Situation. Der Hof wuchs und gedieh. Längst hatten die anderen Dorfbewohner bemerkt, dass mit dem Hof etwas nicht mit rechten Dingen zugehen konnte. Sie mieden es, Gesine zu begegnen und bekreuzigten sich, wenn sie den Jungen sahen. Er war immer noch von bestechlicher Schönheit. Sein Geist wurde mit jedem Tag stärker. Er befahl Gesine, und sie gehorchte. Und bald sollte es an der Zeit sein, da die Geister der Eiche in seinen Körper einziehen würden.

Es war Mitternacht. Wieder ertönten von der Kirchturmuhr die Schläge bis hin zu der verfluchten Eiche. Gesine stand im Vollmond vor ihr. Wieder war sie dem Ton gefolgt, der sie diesen Weg zu gehen zwang. Aber doch war heute etwas anders. Die gierigen Hände, die sie sonst sofort erfassten, ließen sie heute in Ruhe. Gesine stand und wartete voll Angst, was passieren würde. Da nahm sie eine leichte Bewegung neben sich wahr. Der Junge, die Brut des Bösen, stand neben ihr. Kein Lüftchen wehte, kein Ton war mehr zu hören. Es war, als hielte die Welt den Atem an. Der Junge trat ganz nahe an Gesine heran. Er sah ihr in die Augen, diese Augen, die alles Böse der Welt wieder spiegelten hielten ihren Blick gefangen. Gesine konnte sich nicht rühren. Wieder hatte diese Lähmung von ihr Besitz ergriffen. Sie war zu nichts fähig, nur ihr Verstand war wach und vernahm das Wispern . Die Geister machten sich bereit, aus der Eiche in den Körper des Jungen zu ziehen. Er stand hochaufgerichtet da. Seine breiten Schultern reckten sich und die Kraft, die schon jetzt in ihm steckte wurde sichtbar. Ein Brausen erfüllte die Luft. Der Körper des Jungen bog sich wie ein Bogen, er wankte hin und her. Plötzlich war es wieder totenstill. Der Junge tat einen tiefen Atemzug. Er drehte sich um und sah Gesine an: "Es ist vollzogen!" Ein diabolisches Grinsen verzerrte sein Gesicht. Nichts war von der Schönheit geblieben. Eine abgrundtiefe Hässlichkeit hatte von ihm Besitz ergriffen. Seine Hände streckten sich vor und ergriffen Gesine. Er warf sie zu Boden. Breitbeinig stand er über ihr und weidete sich an ihrem Entsetzen . Ein höhnisches Lachen kam aus seinem Mund, als er in sie eindrang. Vor Schmerzen wollte sie aufschreien, aber die Stimme versagte auch jetzt ihren Dienst. Sie sehnte sich nach einer Ohnmacht, nach Vergessen, aber das Böse ließ dies nicht zu. Bei vollem Bewusstsein erlebte sie die Gewalt, die ihr angetan wurde. Nichts war von der Lust geblieben., die sie die ganzen Jahre während jeder Vollmondnacht erlebt hatte. Sie war jetzt 35 Jahre und erlebte jetzt das Schlimmste in ihrem Leben. Plötzlich umfing sie aber gnädigerweise doch eine Ohnmacht. Als sie wieder zu sich kam, lag sie zu Hause in ihrem Zimmer auf dem Bett. Ihr ganzer Körper zeigte die Spuren der brutalen Umarmung. Gesine lag da und war nicht in der Lage sich zu erheben und zu säubern. Stumm und Tränen los starrte sie an die Decke. Erst nach Stunden war sie in der Lage aufzustehen. Ohne sichtbare Bewegung ging sie in die Küche. Sie nahm das schräfste Messer, das sie finden konnte und stach es sich ins Herz. Verwundert, dass sie keine Schmerzen empfand, hatte sie nur einen Gedanken: "Warum habe ich dies nicht schon viel früher getan, schon damals, als ich dieses Wesen unter dem Herzen trug. Warum?" Eine selige Wärme und das Gefühl unendlicher Geborgenheit überflutete ihren geschundenen Körper. Gute Mächte hoben sie auf, und ihre staunenden Augen sahen die Herrlichkeit des Paradieses.

Aber das Böse wuchs und ging umher auf Erden, bis in alle Ewigkeit. Bis heute!

Autor:

Ingrid Lenders aus Duisburg

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