Ruhrtriennale 2014: De Materie
Die Ruhrtriennale 2014 hat begonnen - zum dritten und letzten Male unter der künstlerischen Leitung von Heiner Goebbels. Das Festival startete am 15. August in der Kraftzentrale im Landschaftspark Duisburg mit dem Musiktheaterwerk "De Materie" des niederländischen Komponisten Louis Andriessen.
Der aus einer Musikerfamilie stammende Louis Andriessen, geboren 1939 in Utrecht NL, ist einer der herausragenden Komponisten Europas und eine namhafte Größe in der zeitgenössischen niederländischen Kunstszene.
Andriessen sagt, dass Oper in jedem Falle bedeute, dass es eine weitere Bedeutungsebene gibt, und dass man den Rhythmus und das Tempo des Textes beachten müsse.
Mit "De Materie" ist ihm ein ungewöhnliches Musiktheaterwerk gelungen. Es ist eine Oper, die zwar immer wieder auf traditionelle Musikformen Bezug nimmt, diese aber völlig neuartig einsetzt.
Ähnlich einer Symphonie in vier Sätzen setzt sich De Materie aus vier unabhängigen Teilen mit je ca. 25 Minuten Spieldauer zusammen. Jeder Teil reflektiert das Verhältnis von Geist und Materie.
Die Tonarten des vier-teiligen Stückes (Es-Moll, F-Moll, G-Dur und A-Dur) bilden ein geschlossenes Ganzes. Fasst man diese Tonarten in ihren Grund-Dreiklängen zusammen, erscheinen alle zwölf Töne. Kein Zufall, denn Andriessen musikalische Heimat liegt in der Zwölfton-Musik der 1950er Jahre. Er war der erste niederländische Komponist, der serielle Musik schrieb.
In der Neuinszenierung von Heiner Goebbels ist das Ensemble Modern Orchestra gemeinsam mit dem ChorWerk Ruhr unter Leitung von Peter Rundel zu hören. Das Ensemble Modern Orchestra wurde 1998 mit dem Ziel gegründet, ausschließlich Musik des 20. und 21. Jahrhunderts zur Aufführung zu bringen.
Dieses erste große Musiktheaterwerk von Andriessen für Solisten, Sprecherinnen, Chor und großes Ensemble ist seit seiner Uraufführung in Amsterdam 1989 nicht mehr szenisch realisiert worden.
Es schien gewartet zu haben - auf die Möglichkeiten, welche eine 160 Meter lange Industriehalle für dramaturgische Kunstgriffe zu bieten hat.
Heiner Goebbels, der mit seinem Team die Regie des Werkes übernommen hat, spürte schon bei den Proben die Kräfte, die im Stück wirken: Geist und Materie, Geplantes und Zufälliges, Einzelschicksale und Weltläufe - und in der Kraftzentrale des Landschaftsparks kamen dann noch die Größenverhältnisse der Halle, die Lichtverhältnisse, die Eigendynamik des Klangs, ... hinzu.
Die riesige Halle bietet eine rund 100 Meter lange Bühne, die zurückhaltend bespielt wird.
Wenig Farbe lenkt ab, Schwarz-Weiß-Töne passen zur Gegensätzlichkeit der diskutierten Größen- und Kraftverhältnisse, die eine visuelle Entsprechung in den Dimensionen finden. Ein bestechend klarer Chor (ChorWerk Ruhr) füllt stimmlich den Raum und kann neben der dynamischen, pulsierenden Musik als eigene Stimme bestehen.
Die Zusammenhänge von Materie, Geist und Gesellschaft werden in vier Abschnitten aus wechselnden Perspektiven reflektiert.
Zunächst dominiert die Materie: Unabhängigkeit, Wirtschaft, Wissenschaft werden verkündet.
(Unabhängigkeitserklärung der Niederlanden, detaillierter Bericht über Schiffsteile, erste neuzeitliche Grundlagen der Atomphysik). Der zurückhaltende, von einer seitlichen Kanzel gesungene Bericht über Schifffahrtszubehör versinnbildlicht geradezu den Stolz der niederländischen Handelsmacht, ohne ins Kirchliche oder Belehrende zu kippen. Hier zeigt sich schon die hervorragend gemachte Dramaturgie des Stückes und das gekonnt minimalistisch eingesetzte Bühnenbild. Der Tenor Robin Tritschler ist in Haltung und Stimme eine Idealbesetzung.
Exakt choreografiert passen die hämmernden Musiktakte im Stil einer Toccata (Bezüge zu Bach tun sich auf) zum angedeuteten Szenario einer Schiffswerft und zum gesungenen Textinhalt.
Im zweiten Teil wird die Materie mystifiziert, eine Form der Vergeistigung beginnt.
Wieder lässt das zurückhaltende Bühnenbild, das lediglich den Grundriss der Kathedrale von Reims nachempfindet, Raum für eigenes Empfinden der Zuschauer. Die Sopranistin Evgeniya Sotnikova ist mit ihrer in höchsten Höhen noch kraftvoll zarten und klaren Stimme eine zum Dahinschmelzen sinnlich verklärte Beginen-Nonne. Andriessens Musik ergänzt die Szene mit Musikformen des 13. Jahrhunderts. Kanon- und Cantus firmus-Techniken erscheinen neben Gongs und Fortissimo-Akkorden, welche den Gang durch die Kathedrale versinnbildlichen um gleichermaßen eine atmosphärische Stimmung mit einem Stimmungsbogen aufzubauen, der in religiöser Ekstase mündet.
Der dritte Teil ist dem Geist gewidmet, welcher in Materie gezeigt wird. Die Kunsttheorie der abstrakten Malerei von Piet Mondrian wird in Form eines kinetischen Bühnenbildes aus Pendeln in den Mondrian-typischen Farben (Rot, Gelb, Blau, Schwarz und Weiß) dargestellt. Andriessens Musik orientiert sich in der Taktzahl an den Außenmaßen eines Mondrian-Bildes. Ohne die Struktur des Bildes zu übernehmen, hat Andriessen die Instrumente über fünf Gruppen, den fünf Farben entsprechend, verteilt. Das Klavier greift Mondrians Lieblingsmusik, den Boogie-Woogie, auf.
Lichtinstallationen und Tänzer öffnen die Szenerie zum Leichten und Heiteren hin - zum spielerischen Geist.
Im vierten und letzten Teil des Musiktheaters hat der Geist die Materie überwunden, was bleibt, wenn alles vergeht, sind Spuren des Geistes.
Der Tod kommt in abgeschwächter Form daher - als liebe Schafherde, die von Lichtspielen geleitet durch die Halle streift.
Musikalisch dominieren Pavane und Sonett. Szenisch betrauert schließlich Marie Curie ihren Mann, Liebe, Tod und Wissenschaft sind das Thema.
Andriessens Musik verbindet vorwärtsdrängende Energie, Sparsamkeit und Klarheit des Materials und charakteristische Klangerfindungen.
Er verbindet das per se Unpassende zu einem logischen Gefüge - Musik und Philosophie prallen aufeinander. Seine Musik baut auf, reißt ein, fügt neu zusammen, lässt wachsen, bezieht mit ein und lässt Raum für eigene Gedanken.
Solisten, Sprecherin, Tänzer, Chor und Ensemble sind hervorragend aufeinander abgestimmt und lassen das Pulsieren spüren, sie sind mal vage schwebend und dann wieder fordernd bestimmend.
Die Aufführung hatte den minutenlangen Applaus und die Bravos mehr als verdient.
Weitere Aufführungstermine sind am 22., 23. und 24. August 2014.
Infos unter www.ruhrtriennale.de.
Autor:Dorothea Weissbach aus Oberhausen |
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