Buchbesprechung
Kleist: Die Marquise von O...
Heinrich von Kleist: Die Marquise von O... Die Verlobung in Santo Domingo; Verlag Philipp Reclam jr. Stuttgart 1968; 94 Seiten; ISBN: 3-15-001957-5
Die Geschichte beginnt mit einer sehr ungewöhnlichen Zeitungsannonce, in der „eine Dame von vortrefflichem Ruf […] bekannt machen [ließ], daß sie, ohne ihr Wissen, in andre Umstände gekommen sei, daß der Vater […] sich melden solle; und daß sie […] entschlossen wäre, ihn zu heiraten.“
Anschließend wird rückblickend erzählt, wie es zu dieser Situation gekommen ist: Die Zitadelle bei M..., deren Kommandant der Vater der Marquise ist, wird von russischen Truppen erstürmt. Die Marquise, welche nach dem Tod ihres Gatten zu ihrer Familie gezogen ist, fällt russischen Soldaten in die Hände und wird misshandelt, jedoch von einem russischen Offizier „gerettet“. Der vermeintliche Retter aber stellt sich später als Vergewaltiger der Marquise heraus.
Sei es, weil sie weiß, was geschehen wird, sei es wegen des Schocks – die Marquise fällt in Ohnmacht und erinnert sich hinterher nicht mehr an die Vergewaltigung. Später im Text (Zitat: „Ich will nichts wissen.“) erkennt der Leser, dass die Geschädigte versucht, die Wahrheit zu verdrängen. In ihren Erinnerungen ist der Graf F... nur noch der „edle Retter“.
Nach der Erstürmung der von der Familie bewohnten Zitadelle und deren anschließender Beschlagnahmung durch einen russischen Kommandanten müssen die Bewohner der Festung in ein Haus in der Stadt umziehen. Obwohl es der Familie gemessen an den aktuellen Umständen gut geht, leidet die sonst kerngesunde Marquise an einem unerklärlichen Unwohlsein.
Da die Familie von der Vergewaltigung der Marquise nichts weiß und sich noch immer in der Schuld des Grafen fühlt, ist sie sehr betroffen, als sie erfährt, dass er noch am Tag des Aufbruchs im Kampf erschossen wurde.
Doch entgegen den Berichten überlebt der Graf schwer verletzt. Nach seiner Heilung kehrt er zur Familie des Kommandanten zurück und hält mit einer leidenschaftlichen Liebeserklärung um die Hand der Marquise an. Die Mitglieder ihrer Familie sind dem Grafen nicht abgeneigt, verlangen aber nach einer Bedenkzeit, damit sie und die Marquise den Grafen besser kennenlernen können. Da der Graf jedoch durch wichtige Befehle fortgerufen wird, kann die Bitte nicht gewährt werden.
Von ihrer Schwangerschaft erfährt die Marquise erst, als sie wegen ihres chronischen Unwohlseins von einem Arzt und einer Hebamme untersucht wird. Die Marquise kann sich diese Schwangerschaft nicht erklären, da die Vergewaltigung aus ihrem Gedächtnis verschwunden ist, und hält sie daher zunächst für völlig unmöglich; sie hat Sorge, ihren Verstand zu verlieren, besinnt sich aber („Ihr Verstand, stark genug, in ihrer sonderbaren Lage nicht zu reißen […]“). Ihr Vater führt die Schwangerschaft auf „unsittliches Verhalten“ zurück und wirft sie aus dem Haus. Er will seine Enkel nicht länger in der Obhut der Marquise wissen und veranlasst deshalb seinen Sohn, den Forstmeister von G…, sie ihr zu entreißen. Dies erzürnt die Marquise und vertieft den Bruch zwischen ihr und ihrem Vater. Schweren Herzens verlässt die Marquise mit ihren Kindern die Wohnung und zieht in ihr altes Haus zurück. Sie veröffentlicht in den Zeitungen eine Annonce, in der sie bekannt gibt, dass sie unwissend schwanger geworden sei und dass sich der Vater des Kindes melden möge. Aus „Familienrücksichten“ wäre sie entschlossen, den Vater des Kindes zu heiraten.
Derweil kehrt der Graf F... aus Neapel zurück. Er erfährt, was vorgefallen ist und dass die Marquise nicht mehr im Hause ihres Vaters weilt. Der Graf ist entschlossen, ihr erneut einen Heiratsantrag zu machen. Die Marquise ist überrascht und zeigt sich von dem Antrag alles andere als begeistert. Äußerst schroff weist sie den Grafen zurück.
In der Zwischenzeit tadelt die Frau des Kommandanten, die in dem Werk auch Obristin genannt wird, ihren Mann wegen seines brutalen Verhaltens. Inzwischen ist eine weitere Annonce erschienen, in der der vermeintliche Vater des Kindes ankündigt, sich der Marquise im Hause ihres Vaters zu Füßen zu werfen. Die Obristin fragt sich nun, ob die Marquise vielleicht im Schlafe vergewaltigt wurde und entschließt sich zu einer List.
Sie fährt zur Marquise und teilt ihr mit, dass sie den Vater des ungeborenen Kindes kenne und es der Jäger Leopardo sei. Als die Obristin anhand der Reaktion der Marquise erkennt, dass diese tatsächlich von nichts weiß, ist sie von ihrer Unschuld überzeugt. Unter Tränen entschuldigt sie sich bei der Marquise und nimmt sie zurück in die Stadt. Nachdem die Obristin dem Kommandanten von allem berichtet hat, entschuldigt auch er sich unter Tränen bei der Marquise und nimmt sie wieder bei sich auf.
Im Hause des Obristen wartet man in äußerster Gespanntheit darauf, dass der Vater des ungeborenen Kindes erscheint. Der Eintreffende ist aber der Graf F... Verwirrt will sich die Marquise in ihre Gemächer zurückziehen, wird jedoch von ihrer Mutter zurückgehalten. Tatsächlich ist der Graf, der aufrichtige Reue zeigt, der Gesuchte. Heulend und schreiend zieht sich die Schwangere zurück und ist im Gegensatz zu ihren Eltern nicht bereit, dem Grafen seine Tat zu vergeben, hat sie ihn doch bisher immer als ihren Retter angesehen.
Ihre Eltern interpretieren diese Reaktion als eine vorübergehende Überreizung ihrer Nerven und arrangieren alles für die bevorstehende Eheschließung. Ein Heiratsvertrag wird aufgesetzt, in welchem der Graf als Ehemann auf alle Rechte verzichtet, sich aber bereit erklärt, allen Pflichten eines solchen nachzukommen.
Nach der Trauung bezieht der Graf eine Wohnung in der Nähe, setzt jedoch keinen Fuß in das Haus des Obristen, in dem die Marquise weiterhin lebt. Sein höfliches Verhalten bei gelegentlichen Begegnungen beruhigt die Familie der Marquise derart, dass er der Taufe seines Sohnes beiwohnen darf. Unter den Geschenken, die die Gäste seinem Sohn darbringen, befindet sich eine Schenkung einer hohen Geldsumme durch den Grafen und sein Testament, in dem er die Marquise als seine alleinige Erbin einsetzt.
Von diesem Tag an darf er beim Obristen vorsprechen. Bald darauf beginnt der Graf erneut, um die Marquise zu werben. Diesmal weist sie ihn nicht ab, da sie ihn mittlerweile lieb gewonnen hat.
Das Original erschien im Jahre 1808 in der Literaturzeitschrift Phöbus. Die Reaktionen darauf waren nicht unbedingt positiv. Was (zumindest aus heutiger Sicht) nicht unbedingt am Inhalt, sondern am Erzählstil liegt. Er ist einfach zu staubtrocken. So fehlt beispielsweise durchgehend jegliche direkte Rede. Als heutiger, moderner Leser hat man schnell den Eindruck ein Bürohengst hätte hier auf Beamtendeutsch gteschrieben. Oder ein anderweitiger Schriftsteller ein Exposé einer geplanten Geschichte zu Papier gebracht. - Anschaulichkeit, Lebendigkeit und spannende Erzähltweise sehen anders aus.
Ist dies eine Erzählung, wie der Verlag behaupet? Oder eine Novelle, wie die literaturwissenschaftliche Sekundärliteratur meint? Das können Fachleute sicherlich besser beurteilen.
Es bleibt die Frage, welche Moralvorstellungen hier vermittelt werden. Es geht wohl um eine unwissentlich zustandegekommene Schwangerschaft. Uneheliche Kinder und Vergewaltigungen sind zwar auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein Thema (zumindest die Vergewaltigung); in der Literatur kann aber offener damit umgegangen werden als zu Beginn des 19. Jahrhunderts.
Die Erzählweise ist viel zu altertümlich und antiquiert, als daß man dieses Reclam-Heft (es ist die Nummer 1597 der Universal-Bibliothek) im schulischen Deutsch-Untterricht einsetzen könnte.
WIe geht man mit einer Vergewaltigung um? Was ist das überhaupt? Wo fängt sie an und wo hört sie auf? Wie geht man mit Kindern um, die aus einer solchen Vergewaltigung hervorgehen? Wie stehen die Großaltern zu diesen ihren Enkelkindern? Sollte der Kindesvater zu der "Frucht seiner Lenden" stehen und dei Kindesmutter heiraten?
Dies ist eine kleine Auswahl an Fragen, über die man mit Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden sprechen kann, sowohl in der Schule wie auch im Elternhaus. Als Einstieg wäre dafür eine moderne, zeitgemäßere Literatur vonnöten, die eher der Lebenswelt unserer "nachwachsenden Rohstoffe" entspricht.
Es dürfte wohl inzwischen auch Interpretations- und Verständnishilfen für Erwachsene und Jugendliche gleichermaßen geben. Lassen wir sie weg. Sie machen das Werk auch nicht lesenswerter.
Autor:Andreas Rüdig aus Duisburg |
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