Fortsetzungsgeschichte: "Im Jahr des Herrn" (Zeitinsel-Saga) - Kapitel 6

6. … so gut wie keine Seeschlacht

Ohne einen weiteren längeren Aufenthalt umrundete der ZENTAUER das Kap Sao Vincente an der Südwest-Ecke der iberischen Halbinsel und steuerte unter Segel in Sichtweite der Küste der Algarve entlang.
Wenn der Wind sich hielt, hoffte der Kapitän in gut zwei Tagen die Meerenge von Gibraltar zu passieren, deren markante Felsen in der Römerzeit unter dem Namen „die Säulen des Herakles“ bekannt waren. Auf der europäischen Seite, so wusste Kapitän Hansen, gab es den Felsen beim späteren Gibraltar und auf der nordafrikanischen Seite den Berg Dschebel Musa.

»Die Meerenge ist an ihrer engsten Stelle nur 14 km breit«, erklärte der Kapitän ihnen beim Abendessen, »und der ständige Zufluss von Wasser aus dem Atlantik und der vorherrschende Westwind wird den ZENTAUER wie durch eine Düse ins Mittelmeer katapultieren. Auf die Dampfmaschine können wir getrost verzichten.«
»Und Kohle sparen«, ergänze Knut Haberling, der gerade dabei war, einige Notizen in sein Reisetagebuch zu machen, das er aufgeschlagen auf den Knien liegen hatte. »Wie lange werden wir bis Cartagena brauchen?«
»Bei gutem Wind vielleicht noch eine Woche«, antwortete der Kapitän nach kurzem Nachdenken.
»Und dort bleiben wir dann?« hakte der junge Presse-Mann nach. Der Kapitän nickte: »Ja, so ist es geplant. Ob wir dann im Spätsommer nach Hause zurückfahren oder hier überwintern, müssen wir noch besprechen. Vielleicht sollten wir den nächsten Winter wirklich im sonnigen Spanien verbringen.«
»Aber möglichst unauffällig«, warf Knut Haberling ein. »Wir sollten aufpassen, dass wir die Vergangenheit nicht durch unsere Anwesenheit und unser Agieren verändern.«
»Die wird sowieso neu geschrieben werden müssen«, widersprach ihm der Kapitän. »Oder hast Du in der Geschichte des römischen Reiches irgendwo gelesen, dass in Germanien plötzlich eine riesige Stadt auftauchte – mit Maschinen aus dem Orcus und so?«
»Mein Eindruck war, dass die Römer uns bewusst ignorieren. Es würde mich nicht wundern, wenn sie die Existenz der Stadt in ihren Annalen schlichtweg totschweigen.«
»Apropos Stadt«, sagte Urs Müller. »Was ist, wenn die Stadt wieder in ihre eigene Zeit zurückkehrt ist, während wir weg sind? Und je länger wir weg sind, desto größer ist doch die Gefahr …«
Sein Bruder unterbrach ihn: »Das Risiko war uns allen bewusst, Urs. Und wir wissen nicht, warum die Stadt in die Vergangenheit versetzt wurde und durch was oder wen. Sie kann heute schon wieder weg sein oder erst in 1.000 Jahren oder nie mehr …«
»Macht Euch doch nicht die Hose, Leute«, brummelte der Kapitän. »Sie ist noch da.«
»Und wieso bist Du Dir so sicher?« fragte Urs.
»Kommt mal mit zur Brücke«, sagte der Kapitän und stand auf. Auf der Brücke zeigte er auf einen grauen Kasten. »Das Funkgerät. Brauchen wir nicht. Gibt ja keinen Funk!« Er drückte eine Taste und die Kontrollen des Gerätes leuchteten auf. Er drehte an der Frequenzeinstellung, bis ein leises Pfeifen ertönte. »Nur das da.«
»Und was ist das?« wollte Jenny wissen.
»Duisburg-Ruhrort. Die Trägerwelle des Kurzwellensenders der Hafenmeisterei. Über den Sender liefen früher die aktuellen Wasserstandsmeldungen. Piet Piontek hat den Sender angeworfen, als wir abgefahren sind. Mir zuliebe.«
»Und der reicht soo weit? Bis nach Spanien?« fragte Jenny ungläubig und sah den Kapitän an. Hilmar Hansen nickte: »Genaueres kann Dir der Fitti vertellen, Deern. Der ist Fachmann in Funksachen.«
Jennys Blick wanderte zum Dicken Fitti. Der sagte: »Kurzwellen reichen zunächst mal bis zu 100 Kilometer weit. Sie werden aber gleichzeitig von der Ionosphäre, einer hohen Schicht unserer Atmosphäre reflektiert und wieder auf die Erde zurück geworfen. Dabei ist Eintrittswinkel gleich Austrittswinkel oder wie einer meiner Dumpfbacken von Lehrling mal richtig sagte: Was schräg rauf geht, kommt auch schräg wieder runter. Deshalb kann man Kurzwellensender noch in zigtausend Kilometer Entfernung hören.«
»Und solange der Ton zu hören ist, ist unsere Heimat noch da. Und was, wenn der Ton nicht mehr da ist?«
»Dann ist unsere Heimat wieder in ihre eigene Zeit zurückgekehrt oder jemand hat den Sender abgeschaltet«, knurrte der Dicke Fitti und spielte gedankenverloren mit den Enden seines gewaltigen Schurrbartes. »Genug erklärt?«
Jenny Schreiber schien ein wenig erschrocken zu sein und nickte: »Ja, danke.«
»Dann gehe ich jetzt mal schlafen«, gähnte der Dicke Fitti und stand auf. Auch Jenny und ihre Schwester erhoben sich und verließen das Deck. Knut Haberling klappte sein Tagebuch zu und folgte ihnen.
»Lass uns noch das Segel einholen«, sagte der Kapitän zu Lechti Müller und Franz Helmer. Die beiden ehemaligen Personenschützer nickten und lösten das Haltetau des Großsegels.
»Dann mach ich mich auch nützlich und werfe mal den Treibanker aus«, sagte Urs Müller und machte sich ebenfalls an die Arbeit. »Und danach gehe ich ebenfalls schlafen. Gute Nacht.«
»Gute Nacht«, antwortet der Ostfriese, strich sich kurz über seinen eigenen Schnurrbart und ergänzte: »Der Kapitän übernimmt freiwillig die erste Wache.«

*

Rund 20 Kilometer östlich des Standortes des ZENTAUER schob sich eine römische Bireme durch das Abendrot des Atlantiks. Das Schiff hatte seinen Hafen bei den Säulen des Herakles vor kurzem verlassen und war nun auf dem Weg Richtung Westen. Die Ruderer auf den beiden Decks mussten sich kräftig in ihre Riemen stemmen, um das Schiff gegen den Strom zu bewegen, der vom Atlantik in das Mittelmeer hineinströmte und dort das durch starke Verdunstung fehlende Wasser ausglich.
Auf dem Oberdeck der SINISTRE hatte es sich der Schiffsführer, Sinus Sinistre, gemütlich gemacht. Er beobachtete seinen Freund Plawus, der am Ausguck stand und nach Westen sah.
»Siehst Du was?«
»Ein Schiff! Aber noch sehr weit entfernt.« Plawus wies auf das Bild der untergehenden Sonne und die Silhouette des Schiffes, das sich winzig klein davor abzeichnete.
»Das könnte das Schiff sein, von dem in der Schnell-Meldung aus Porticia die Rede war«, knurrte der glatzköpfige Kapitän der SINISTRE und ließ sich von einem Sklaven einen Becher Wein bringen. Er nahm einen großen Schluck und fuhr fort: »Das Nordmänner-Schiff, das wir kontrollieren sollen.«
»Die sollen aber ziemlich gefährlich sein«, sagte Plawus mit sorgenvoller Stimme.
»Ach was! Wir halten mit unserem Katapult und unseren zwanzig kampferprobten Soldaten alle Trümpfe in der Hand«, beruhigte ihn der Schiffsführer. »Keine Angst!«

*

Am nächsten Morgen:

»Es ist noch da. Und schau Dir die seltsame Silhouette an. Ein komisches Schiff. Vielleicht doch Piraten?«
»Piraten haben keine komischen Schiffe, sondern kleine Boote, die sie mit 8 oder 1o Mann rudern können. Das Schiff dort ist viel größer«, antworte der Kapitän mürrisch.
»Aber was ist es dann? Und schau; sie setzen Segel. Die haben uns gesehen und wollen flüchten!« rief Plawus aufgeregt.
»Wir sind schneller«, antworte der Kapitän und gab den Ruderern den Befehl, die Fahrt zu erhöhen.
»Beruhige Dich. Ich werde das Katapult laden lassen und rufe die Soldaten an Deck«, knurrte der Schiffsführer und gab die entsprechenden Befehle.

Was die Besatzung der SINISTRE natürlich nicht wissen konnte, war, dass die Leute auf dem ZENTAUER über Technik verfügten, die erst in vielen Jahrhunderten erfunden werden sollte; insbesondere über starke Ferngläser. Und so bekamen es Kapitän Hansen und seine Mannschaft natürlich mit, dass man an Bord der SINISTRE ein Katapult hatte und man gerade dabei war, es zu laden.
»Wir kommen hier friedlich angeschippert und die Bande lädt ihre Kanone. Ich glaube es nicht«, knurrte Hilmar Hansen.
»Ist wohl eher ein Katapult, Käpt´n. Soll ich ein paar Granaten nach oben holen?« fragte Lechti Müller. »Solche von der Sorte, wie wir sie in Porticia eingesetzt haben?«
»Hol mal hoch, Lechti. Ich hab da nämlich eine Idee ...« Er öffnete die Tür der Kajüte und rief laut nach unten: »Die Dampfmaschine läuft doch, Fitti.«
»RUDI läuft, Chef. Auf Stand-By, wie immer.«
»Fahr ihn hoch, Fitti. Wir brauchen Vollgas. Und nimm die ganz fette Kohle, die wir in Nordfrankreich eingetauscht haben, damit es richtig schön qualmt.«
»10 Minuten, Chef.«
»Reicht. Danke.«
Der Kapitän wandte sich an Lechti Müller: »Hilf mir mal, das Segel wieder einzuholen. Das stört nur bei dem, was ich jetzt vorhabe.«

*

»Was ma …, ma …, machen die da?« fragte Plawus sichtlich irritiert. Er zeigte auf den ZENTAUER, der gerade seinen Kurs gewechselt hatte und jetzt auf die römische Bireme zuhielt.
Noch war das andere Schiff weit entfernt, aber für jeden an Bord der SINISTRE war jetzt klar, dass das kein normales Schiff war, denn es hielt mit voller Fahrt auf sie zu und es hatte kein Segel aufgezogen ...

»Hört doch. Es …schnaubt«, murmelte der ängstliche Plawus. »Und jetzt stößt es auch Rauch aus. Das ist kein Schiff. Das ist ein wütendes Wesen aus dem Orcus. Ein Da, da, Draco …«

»Katapult klar? Lanzen wurfbereit?« fragte Sinus Sinistre mit leicht unsicherem Ton in seiner Stimme. Die Soldaten nickten.

»Beim Jupiter, ist der schnell. Der Drache kommt …, nein, er stürmt auf uns zu! Riesig und schwarz. Es will uns fressen! Hiiiilfe!« Voller Panik rannte Plawus die Stiege zu Unterdeck hinunter und versteckte sich hinter den Ruderbänken. Sinus Sinistre sah ihm nach, streckte seinen Körper und brüllte: »Feuer!« Dann verließ auch ihn der Mut. Er wandte sich ab und rannte ebenfalls unter Deck.

»Ich geb Dir gleich Feuer, Du Knalltüte!« knurrte Hilmar Hansen, der mit dem ZENTAUER schon nah genug heran war, um das Kommando des Römers verstanden zu haben. »Lechti, Franz? Seid Ihr soweit?«
»Und wie!« knurrte Lechti Müller.
»Dann gebt ihnen Feuer, wenn sie es unbedingt wollen.«
Die beiden Männer hoben ihre Spezial-Gewehre, an deren vorderen Enden Granaten aufgesteckt waren und drückten ab. Die Granaten jaulten davon und schlugen kurze Zeit später auf dem Deck der SINISTRE ein. Nur Sekunden später brach die Hölle auf dem römischen Schiff los und eine nicht enden wollende Orgie aus Blitzen, Kreischen und Donnern nahm ihren Anfang …

*

Der grob geschliffene Stein des römischen Katapultes hatte den ZENTAUER tatsächlich getroffen; er war im Heck eingeschlagen und hatte einige Planken eingedrückt. Der Schaden war nicht schlimm, aber man würde Holz brauchen, um ihn zu beheben, wenn man nicht das Risiko eingehen wollte, sich bei schwerem Seegang Wasser ins Schiff zu holen.
Hilmar Hansen hatte sich den Schaden angesehen und sagte: »Dann wollen wir mal dem schönen Ort Gibraltar einen Besuch abstatten.«
»Gibraltar gibt es noch nicht«, widersprach Hanna Schreiber.
»Das mag sein, Deern«, knurrte der Kapitän, »aber den Felsen gibt es schon und die Höhlen auch.«

Einige Seemeilen entfernt …

Ein blasser Kapitän sah seinen Freund und Waffengefährten an: »Wir werden anlegen und Meldung machen müssen.«
»Und uns lächerlich machen? Meinst Du, irgendwer wird uns diese Geschichte glauben, Kapitän? Ich habe mit den Soldaten gesprochen und mit den Ruderern. Alle meinen, dass es besser wäre, wenn wir die Sache mit diesem Geisterschiff einfach …, mmh…, sagen wir mal, vergessen würden.«
»Und unseren ursprünglichen Auftrag weiter ausführen?« Der Kapitän überlegte. »Proviant haben wir genug gebunkert. Trinkwasser auch. Und wenn wir von unserer Suche zurück sind, fragt kein Porcinus mehr nach diesem verrückten Schiff.« Er nickte und wandte sich Plawus zu: »Und weißt Du was, alter Freund. Wenn wir dieses sagenhafte Atlantis, von dem die Griechen erzählen, wirklich finden sollten, dann bleibe ich dort. Ich bin es so leid …«

*

Ohne weitere Zwischenfälle erreichte der ZENTAUER die Säulen des Herakles am Abend des nächsten Tages. Im Schutz der Nacht und mit Hilfe der Radaranlage des Schiffes passierte der ZENTAUER die Engstelle und nahm Kurs auf die Küste unterhalb des Felsens von Gibraltar. Zweihundert Meter von der Küste entfernt stellte Kapitän Hansen das Radar auf Nahortung, setzte sich die Nachtsichtbrille auf und schaltete den Infrarotscheinwerfer des Schiffes ein.
»Jetzt schauen wir mal, ob wir nicht eine große Höhle für unser Schiff finden. Im 21. Jahrhundert gibt es so etwas nicht mehr; die Engländer haben da eine Menge herumgesprengt. Aber jetzt und hier …«
»Schaden kann´s nicht«, murmelte der Dicke Fitti. »Wir werden ein paar Tage für die Reparatur brauchen: Holz besorgen, zusägen, einpassen und in Ruhe abdichten. Und noch was: Wenn wir hier schon das Rauch speiende Ungeheuer aus der Hölle spielen, dann könnten wir den Bug des ZENTAUER auch gleich mit einer hübschen Fratze verzieren, so wie diese AIDA-Schiffe. Farbe haben wir ja mitgenommen.«
»Die haben aber einen Kussmund, Fittilein«, lachte Hanna Schreiber und ahmte einen Kussmund nach: »Soooo einen.«
»Gebt mal Ruhe«, unterbrach sie der Kapitän. »Da vorn ist eine Einfahrt. Sieht gut aus, nur ziemlich eng. Ich muss mich konzentrieren, denn wenn wir uns bei der Einfahrt den Bug unseres Schleppers verhunzen, dann wird das nichts mit Fittis Fratzenmalerei.«

30 Minuten später:

Die Höhle, die sich hinter der gefundenen Einfahrt verbarg, war nicht nur groß genug für den ZENTAUER, es gab darin sogar einen großen Untergrundsee. Nach einer kurzen Untersuchung der Höhle ließ Kapitän Hansen den Anker fallen und fuhr die Dampfmaschine herunter. »So, Schluss für Heute. Zeit zum Schlafen. Gute Nacht, Deerns und Kerls.«
»Nacht Käpt´n.«

Der nächste Morgen:

»Nach der ganzen Aufregung um den ZENTAUER ist so ein versteckter Rückzugsort bestimmt nicht das Falscheste«, sagte Hanna Schreiber beim Frühstück am nächsten Morgen. Sie hatten ihren Tisch am Ufer des Untergrundsees aufgebaut, wo noch ein diffuses Licht von außen einfiel.
»Wo steckt eigentlich Lechti?« fragte der Dicke Fitti, der gerade seinen Kampf mit einem harten Stück Brot ausfocht.
»Der ist bestimmt Brötchen holen, Fitti«, lachte Hanna Schreiber. Fitti schluckte erst und dann fiel er in das Lachen der anderen ein. »Ne, im Ernst, Lechti ist draußen, die Lage peilen«, klärte der Kapitän die anderen Mitfahrer auf.

»Alles ruhig« sagte der Gesuchte, als er sich wenige Minuten später an die Frühstückstafel setzte. »Ein paar Segel in der Meerenge, aber nichts in der Nähe. Und Holz für die Reparatur gibt es auch, Käpt´n. Richtung Festland ist ein großes Waldstück.«

(Fortsetzung folgt)

Autor:

Uwe Kirchberg aus Duisburg

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