Fortsetzungsgeschichte: "Im Jahr des Herrn" (Zeitinsel-Saga) - Kapitel 4

Heute stelle ich Euch den ZENTAUER und seine Besatzung vor.
Und die Reise beginnt ..

4. Der ZENTAUER

Ein Dreivierteljahr später war überall die Hoffnung geschwunden, dass sich das seltsame Zeitphänomen wieder auflösen und die Stadt mitsamt ihrem Umfeld in die Gegenwart zurückkehren würde. Viele Menschen hatten sich mit dem Schicksal arrangiert und nahmen die Dinge so, wie sie kamen. Sorgen machte man sich nicht, denn es gab sauberes Trinkwasser, genug zu essen und Energie war auch in ausreichender Menge da. Außerdem funktionierte die ärztliche Versorgung und um die Sicherheit der Stadt kümmerte sich die Polizei.
Da es den Menschen also wieder einigermaßen gut ging, kam schon bald der alte Drang des Menschen wieder durch, etwas Neues kennen zu lernen. Und das Neue begann ja jetzt quasi direkt vor der eigenen Haustür …

Eine kleine Gruppe von Neugierigen - alle gegen die bekanntesten Krankheiten geimpft - hatte beschlossen, trotz der möglichen Gefahren durch die Römer und vagabundierende Germanenstämme hinaus in die antike Welt zu ziehen. Mit Pferden und neu konstruierten Wagen waren 12 Menschen nach Süden aufgebrochen - ausgestattet mit echten Passierscheinen aus dem Stabsquartier der XX Legion in Castrum Novaesium. Ihr Ziel war die Stadt, die das geografische und kulturelle Zentrum jener Zeit bildete; die Hauptstadt des einzigen Weltreiches dieser Zeit: Rom! In Rom wollten sie das Wirken von Kaiser Tiberius beobachten, der seit dem Jahre 14 regierte.

Eine andere Gruppe – ebenfalls geimpft und mit echten Passierscheinen ausgestattet, wartete am Ruhrorter Rheinufer.
Sie bestand aus dem hageren Knut Haberling, dem 27 Jahre alten Presse-Volontär, der in der Nacht im Observatorium gewesen war, als man die Verschiebung der Sterne bemerkte hatte.
Haberling trug seine hellblonden Haare mittlerweile schulterlang und hatte sie zu einem Zopf zusammengebunden.
Zweiter im Bunde war Urs Müller, der pensionierten Rettungssanitäter, der bei der zum Glück glimpflich verlaufenden Notlandung des Airbus auf der Autobahn vielen Fluggästen Erste Hilfe geleistet hatte. Urs Müller war 62 Jahren alt, 1,80 m groß und hatte weißgraue Haare.
Weiterhin bestand die Gruppe aus der 35jährigen Jenny Schreiber, einer blonden Sprachwissenschaftlerin der Uni Duisburg/Essen und ihrer 2 Jahre jüngeren, rothaarigen Schwester Hanna, einer Ärztin des Deutschen Entwicklungsdienstes. Die beiden Mittdreißigerinnen waren Bekannte von Urs Müller und hatten über ihn von den Reiseplänen der kleinen Gruppe erfahren. Jenny und Hanna waren zu den Vorbereitungsgesprächen gekommen und letztlich geblieben.
Auch Urs´ Bruder Lechti und sein Arbeitskollege Franz Helmer gehörten der Gruppe an. Die beiden groß gewachsenen und dunkelhaarigen Männer waren Anfang 40 und 1,90 m bzw. 1,92 m groß. Sie waren von der Polizei zur Essener Sicherheitsfirma Köther gewechselt und hatten dort als Personenschützer gearbeitet.
Last but not least gab es dann noch den Dicken Fitti, einen 61 Jahre alten Hünen mit einem prächtigen und gepflegten Zwirbelschnurrbart, der mit bürgerlichem Namen Friedhelm Kohlschreiber hieß, den alle aber nur den Dicken Fitti nannten. Der Dicke Fitti war früher Werkstattleiter und Lehrlingsausbilder bei Thyssen gewesen und galt unter seinen Freunden als genialer Bastler. Manchmal - so munkelte man - brachte Fitti sogar kleine Wunder zustande; besonders wenn es darum ging, alten Autos oder Radios neues Leben einzuhauchen.

Die fünf Männer und die beiden Frauen warteten jetzt auf das Eintreffen von Hilmar Hansen und seinem Kahn. Über Hilmar Hansen wussten sie wenig, außer dass er Ostfriese war und sich seinerzeit zufällig mit seinem Schlepper im Duisburger Hafen aufgehalten hatte, als das Zeitphänomen aufgetreten war.

»Wo bleibt unser Friese denn?« knurrte Urs Müller. »Nach dem ganzen Regen der letzten Wochen hat der Rhein endlich genug Wasser, dass wir Richtung Holland aufbrechen können. Morgen kann das schon wieder ganz anders sein.«
»Der Friese wird schon kommen«, sagte Knut Haberling und grinste wissend, als ein leises, rumpelndes Geräusch zu hören war, das langsam lauter wurde.
»Siehs´te …«, nickte der Pressemann. Er zückte seine Kamera, um den alten Schleppkahn zu fotografieren, der jetzt gerade um den Hafenmund bog. »Zur Erinnerung an den Beginn einer hoffentlich schönen Fahrt.«

»Das ist laut! Das ist dreckig! Und das stinkt!«, schimpfte Jenny Schreiber und zeigte anklagend auf das Schiff, das sich gerade anschickte, anzulegen.
»Lass das ja nicht unseren den Käpt´n hören«, hielt ihre Schwester dagegen. »Wenn der mal richtig sauer ist, dann kippt der unsere ganzen Vorräte an grünem Tee über Bord oder unsere Sachen zum Wechseln oder vielleicht sogar unsere Schuhe …«

»Darf ich vorstellen …«, unterbrach sie die laute Stimme von Hilmar Hansen, der jetzt auf das Deck des Schiffes getreten war und seine alte Kapitänsmütze lupfte. »Länge: 1,72 Meter, Gewicht: 88 Kilogramm, Alter: 58 Jahre, Name: Hilmar Hansen, Beruf: Seefahrer. Und die Daten meines alten Freundes, auf dem ich hier stehe, sind diese: Länge: 32 Meter, Breite: 8,10 Meter und Tiefgang: 1, 23 Meter. Name: Der ZENTAUER.«
»Der ZENTAUER? Seit wann gibt man Schiffen männliche Namen?« fragte Knut Haberling, »normalerweise nimmt man immer Frauennamen.«
»Seit heute«, knurrte Hilmar Hansen kurz angebunden und lud die Mitglieder seiner Gruppe mit einer Handbewegung ein, aufs Schiff zu kommen.

»Hier sieht es aber ganz anders aus als letztens«, sagte Hanna Schreiber anerkennend, als sie die Treppe nach unten hinab gestiegen war.
»Jo Deern. Für Dich und Deine Schwester haben wir hinten links eine eigene Kabine zusammengeschustert. Und ein eigenes Klo. Wir Männer teilen uns die beiden anderen Kabinen«, sagte der Ostfriese laut. »Die Kombüse ist auch neu.«
»Die was?« fragte Jenny Schreiber nach und der Dicke Fitti lachte: »Auf Schiffen nennt man die Küche Kombüse. Euer Reich, Mädels.«
»Von wegen«, schimpfte Jenny Schreiber und stiefelte, ihren schweren Koffer mühsam hinter sich her wuchtend, hinter ihrer Schwester her.

*
»Wie Ihr seht, haben wir den alten Funk- und Lichtermast des Schleppers zu einem Segelmast umgebaut. Unser Segel ist aus schwerem, gummierten Kunstleinen gewebt und müsste die üblichen Stürme aushalten. Außerdem haben wir zwei Ersatzsegel an Bord und sogar einen mechanischen Webstuhl, falls auch die Ersatzsegel mal kaputt gehen sollten.«
Der mittelgroße rundliche Ostfriese mit dem roten Haarkranz drehte sich um, ging zu den flachen Aufbauten im vorderen Teil des Schiffes. »Und das hier …«, sagte er und öffnete die Tür zum Maschinenraum, »das ist unser ganzer Stolz. Das ist RUDI.«
»Rudi?« fragte Hanna verwundert.
»RUDI ist unsere nigel-nagel-neue Dampfmaschine. Das erste Modell der Neuserie, die sie bei Thyssen aufgelegt haben; enorm sparsam. Der Dicke Fitti und ich haben RUDI anstelle des Dieselmotors hier eingebaut.«
»Und wieso hat diese Maschine einen Namen?« fragte Jenny spitz.
»Wenn Du willst, dass eine Maschine dich treu begleitet, dann behandle sie so, als wäre sie Dein Freund. Und gib ihr einen Namen«, antwortete der Dicke Fitti feierlich.
»Und immer nur gutes Futter«, ergänzte Hilmar Hansen, »am besten Kohle. Und bevor jemand fragt: Ja, Steinkohle müsste es überall geben, denn sie wurde auch schon in der Römerzeit verwendet; vorwiegend zum Heizen. Und sollte mal keine Kohle greifbar sein, dann frisst unser RUDI zur Not auch Holz.«
»Ist das dahinten; ist das so etwas wie ein Dynamo?«, fragte Knut Haberling und zeigte auf ein Gerät, das an die Dampfmaschine angeflanscht war.
Der Ostfriese nickte und wuchtete seinen Körper wieder aus der Türe zum Maschinenraum heraus: »Richtig. Dieser Generator liefert Strom für unsere Bordinstrumente und für Licht, solange wir mit der Maschine fahren. Ansonsten haben wir hier … «, der Ostfriese zeigte auf die mattschwarzen Platten auf dem Dach des Maschinenraums, »unsere Solarzellen. Die Batterien dazu sind im Kielboden verteilt. Sind auch gut als Ballast, weil wir ja kein richtiges Schwert haben.«
»Schwert?« Diesmal war es Jenny Schreiber gewesen, die gefragt hatte.
»Ein Schwert ist quasi die Verlängerung des Kiels nach unten. Es stabilisiert die Querlage eines Schiffes. Aber weil wir oft im flachen Wasser unterwegs sind, haben wir das feste Schwert des ZENTAUER abgeschnitten und stattdessen ein so genanntes aufholbares Schwert eingebaut. Das Ding kann jetzt durch einen Schlitz im Kiel ausgefahren werden und vergrößert die Stabilität, wenn wir im tiefen Wasser unterwegs sind.«
»Apropos unterwegs«, warf Urs Müller ein. »Wann geht’s denn endlich los?«
Der Ostfriese sah auf die mechanische Uhr, die von außen gut sichtbar an der hinteren Wand des Steuerraums angebracht war und sagte: »Jetzt! Urs und Lechti, macht Ihr bitte die Leinen los. Wir legen ab. Ziel Holland,… äh, oder wie immer die Gegend da jetzt heißen mag.«

*
Natürlich hatte der Rhein zur Zeit der Römerzeit kein durchgehend tiefes Fahrwasser und so kam der ZENTAUER oft nur langsam voran. Weil die Untiefen auch mit Hilfe des Echolots nicht immer rechtzeitig zu erkennen waren, fuhren sie nur tagsüber und meist stand der schweigsame Urs Müller am Bug, wo er versuchte, Untiefen oder treibende Bäume so rechtzeitig auszumachen, dass Hilmar Hansen am Steuer des ZENTAUER noch ausweichen konnte. Dem Ostfriesen zur Seite stand die rothaarige Hanna Schreiber, die vor zwei Jahren ihren Segelschein gemacht hatte und während ihrer Ausbildung auch in der Bedienung von Echolot und Radar eingewiesen worden war.
Die weitere Aufgabenverteilung hatte sich schnell ergeben. Schon bei den Vorbereitungsgesprächen hatte sich der Pressemann Knut Haberling als begeisterter Hobbykoch geoutet und Ansprüche auf die Kombüse angemeldet. Ihm assistierte Jenny Schreiber, die nicht nur sprachgewandt war, sondern sich auch mit Wildkräutern und essbarem Wildgemüse recht gut auskannte. Der treueste Kunde der Kombüse war natürlich der Dicke Fitti, der sich stets in der Nähe von etwas Essbarem herumdrückte, solange RUDI und der Rest der Schiffstechnik nicht nach seiner intensiven Bemutterung verlangten.
Um die Sicherheit kümmerten sich die beiden ehemaligen Personenschützer, wobei der ruhige Franz Helmer meist die Nachtwachen übernahm und Lechti Müller tagsüber „ein bisschen Sicherheit“ verbreitete, wie er es nannte, wenn er in seinem mattschwarzen Sportanzug gelassen über das Deck spazierte.

Die Fahrt verlief weitgehend ruhig - zumindest für die Besatzung der ZENTAUER. Gänzlich anders empfanden das die wenigen Bewohner der dünn besiedelten niederrheinische Tiefebene und des angrenzenden südlichen Gelderlands. Ihnen hatte das fauchende und Rauch speiende Ungetüm auf dem breiten Fluss einen Riesenschreck eingejagt. Und auch die germanischen Späher auf der rechten Rheinseite hätten sicher nicht geahnt, dass dort gerade ein paar ihrer Nachfahren auf die erste dokumentierte Kreuzfahrt der Geschichte gingen.

Wobei auch nicht jeder an Bord des ZENTAUER wusste, wohin die Reise wirklich gehen sollte. Wenn alles gut lief - so die offizielle Version - dann wollte man es die Küste entlang bis nach Spanien schaffen, doch zwei Personen an Bord hatten andere Pläne im Hinterkopf. Sie hatten ein sehr konkretes Ziel und mit ihnen auch eine der drei schweren Kisten, die schwarzgekleidete Männer noch am Abend vor der Abfahrt heimlich im Heck des Schiffes verstaut hatten ...

(Fortsetzung folgt)

Autor:

Uwe Kirchberg aus Duisburg

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