Fortsetzungsgeschichte: "Im Jahr des Herrn" (Zeitinsel-Saga) - Kapitel 1

Herzlichen Dank an Werner Pöhling, Dr. Ulrich Scharfenort, „Guckytos“, u.v.a. für ihre guten Tipps.

1. Düsseldorf ist weg ...

»Leitstelle für U79, bitte kommen. Ich habe da ein Problem ...«

»Hier Leitstelle DVG. Was ist los?«

»Düsseldorf ist weg ...«

»Bitte was ...?«

»Hört sich komisch an, ich weiß, aber ich hatte gerade den Haltepunkt am Froschenteich passiert, bin dann in die Rechtskurve hinein gefahren. Dahinter kommt dann ja das lange gerade Stück ...«
»Ja, ja, ich kenn´ die Strecke«, knurrte Franz Lohmann, der diensthabende Verkehrsmeister der Duisburger Verkehrgesellschaft und nahm einen tiefen Schluck aus der Kafteetasse. »Es ist noch verdammt früh und ich habe ganz schlecht geschlafen, also komm zur Sache, Haro!«
»T´schuldige Franz. Also, ich hatte den Haltepunkt Froschenteich planmäßig um 5:12 Uhr passiert, dann hab ich die Bahn wieder beschleunigt, bin in die Rechtskurve eingefahren und wollte gerade auf 80 hochziehen - eigentlich müsste dann Düsseldorf-Wittlaer zu sehen sein, aber da ist nichts. Die Gleise hören einfach so auf.«
»Hast Du was an den Augen, Haro? Oder gestern Abend zu lange gefeiert?«
»Ich hab keinen Tropfen getrunken, Franz. Ehrlich! Aber Wittlaer ist nicht da und die Lichter vom Flughafen sehe ich auch nicht.«
»Vielleicht Nebel?«
»Nein, Franz! Auf dem halben Weg zwischen Froschenteich und Wittlaer hören die Gleise auf; einfach so! Hab´s zum Glück rechtzeitig gesehen und konnte noch bremsen. Die Gleise sind wie abgeschnitten! Dahinter ist nur noch Grasland mit einigen Büschen und Bäumen. Keine Gleise, kein Bahnhof - nix!«
»Hast Du Fahrgäste. Haro?«
»Ja. Zwei Männer und eine Frau. Sie stehen neben mir und sind auch fassungslos. Übrigens Franz ...«
»Ja, Haro.«
»Links von mir, auf der neuen Bundesstraße 8, da stehen ein paar Autos. Die Leute sind ausgestiegen und scheinen ziemlich verwirrt zu sein. Soweit ich sehen kann, endet die Bundesstraße auch im Nichts.«
»Bleib mal eben dran, Haro. Ich check mal was.« Franz Lohmann griff zum Telefon und wählte die Nummer der Rheinbahn, der Düsseldorfer Verkehrsgesellschaft, die die Stadtbahnlinie U79 gemeinsam mit der Duisburger Verkehrsgesellschaft betrieb. Doch bereits nach wenigen Sekunden legte er wieder auf.
»Bei der Rheinbahn gibt´s noch nicht einmal ein Freizeichen«, knurrte der 61-jährige Verkehrsmeister und sah seine junge Kollegin Sarah Klinger an, die mit ihm heute Morgen Dienst in der Duisburger Stadtbahn-Leitstelle hatte: »Ich fahr mal raus und sehe mir das Ganze mal selbst an. Übernimmst Du, bitte?«
Sarah nickte und setze sich an den Funktisch, während Franz seine Lederjacke anzog und den Schlüssel für den Dienstwagen einsteckte. Kurz bevor er die Leitstelle verließ, warf der Verkehrsmeister noch einen Blick auf die riesige Anzeigetafel, die das Liniennetz der DVG zeigte und sagte: »Halte alle Bahnen fest, die auf dem Weg nach Düsseldorf sind, Sarah. Sie sollen die nächsten Bahnhöfe anfahren und dort warten, bis ich mich melde. Mach auch ´ne Durchsage für die Haltestellen.«
»Kluges Köpfchen«, lächelte Sarah, nachdem Franz gegangen war, »denkt fast an alles.« Sie schaltete die Ausfahrsignale aller Bahnhöfe der Südstrecke auf Rot. Dann griff sie zum Mikrofon und begann mit ihrer Durchsage: »An alle Fahrgäste der U79 in Fahrtrichtung Düsseldorf. Wegen einer Verkehrsstörung ...«

*
Franz Lohmann hatte die A59 nach Süden genommen und war nach knapp 10 Minuten am Autobahnkreuz Süd angekommen. Dort wechselte er auf die alte Bundesstraße 8 und erreichte nach weiteren zwei Minuten die kleine Siedlung am Froschenteich, die mitten in den Feldern lag und schon zu Düsseldorf gehörte. Hinter den ersten Häusern bog er nach links ab, überquerte die Trasse der Stadtbahn und fuhr dann noch ein Stückchen nach Süden. Er parkte den Wagen in Sichtweite des rot-weißen Stadtbahnzuges, der nicht weit von ihm auf den Gleisen stand.
Haro Schmitt hatte ihn kommen gesehen und kam ihm entgegen: »Moin Franz. Ich versteh das Ganze ja auch nicht ...«
»Zeig mir mal die Stelle«, knurrte Franz und folgte dem Fahrer der Bahn bis an die Stelle, wo die beiden Gleise endeten. Er beugte sich hinunter und murmelte: »Sauber abgeschnitten ...«
»Genau wie die Oberleitung«, sagte Haro Schmitt und zeigte nach oben, wo die Drähte der Fahrleitung lose herunter baumelten. »Und was machen wir jetzt?«
»Ich ruf die Zentrale an. Die Kollegin soll die Chefs aus den Betten klingeln - und die Polizei informieren. Und Du setzt am besten zurück. Am Froschenteich ist ein Gleiswechsel.«

»Und was ist mit uns?« fragte einer der Fahrgäste. »Ich muss nach Düsseldorf. Um 6 Uhr beginnt mein Dienst an der Pforte des Innenministeriums.«
»Aber so wie es im Moment aussieht ...«, sagte Franz Lohmann leise, zeigte nach Süden und sah den grauhaarigen Mann an, »gibt es diese Stadt nicht mehr. Und auch kein Innenministerium ...«

*
Polizeipräsidium Duisburg, Einsatzleitstelle, 5:50 Uhr.

Der 31-jährige Polizeioberkommissar Heinz Paulig nahm den Kopfhörer ab und legte ihn auf das Pult. Er wischte sich über die müden Augen und rief: »So, Leute. Die Nacht ist rum. Ich hab Feierabend. Ist unsere Ablösung schon fertig?«
»Marcus, Thomas und Verena habe ich gerade gesehen. Die ziehen sich nur noch um und werden gleich hier sein«, antwortete Klaus Neumann, der Dienstgruppenleiter der Nachtschicht. »Nur von Berti hab ich noch nichts gehört? Keine Ahnung, warum. Haben wir vielleicht Glatteis in Kerken?«
»Nicht dass ich wüsste«, murmelte Heinz Paulig.
»Dann wird Berti wohl gleich kommen«, antwortete Neumann und stand auf. »Ich übernehme den Platz solange. Geh Du mal nach Haus, Heinz.«
Doch der angesprochene Heinz Paulig schüttelte den Kopf: »Ich habe hier noch einen Ruf, Chef. Den nehm´ ich noch.«
Der Polizeioberkommissar setzte sich den Kopfhörer wieder auf und meldete sich: »Polizei Duisburg, guten Morgen. Was kann ich für Sie tun? - ... - Bitte? - ... - einen Moment, ich stell Sie mal laut.« Heinz Paulig drückte auf einen Schalter und sagte: »Hört Euch das an, Leute. Da will uns einer veräppeln; angeblich eine Überleitung aus dem Flugfunk:«

... flight Lufthansa LH-409 aus New York. Wir haben nur noch für ca. 12 Minuten Treibstoff und benötigen dringend eine Landemöglichkeit. So, wie es aussieht, ist der Flughafen Düsseldorf nicht da, wo er sein soll. Kann mir das bitte jemand erklären?

»Hier Einsatzleitstelle der Polizei in Duisburg. Hauptkommissar Neumann. Was ist mit dem Düsseldorfer Flughafen?«

Dort, wo er sein soll, sind nur Wälder ...; auch die Stadt ist nicht zu sehen. Aus der Luft sieht man nur noch Duisburg und ein Stück von Mülheim. Alle anderen Städte sind verschwunden!

»Der hat se doch nicht mehr alle«, knurrte Klaus Neumann wütend, spielte das Spiel aber weiter: »Was ist beispielsweise mit dem Sportflughafen Essen/Mülheim?«

Negativ! Nur noch Reste. Aber wir haben keine Zeit für lange Reden - ich muss gleich runter. Was können Sie mir empfehlen?

»Empfehlen? Hören Sie mal gut zu, Sie Spinner! Sie hören sofort mit dem Quatsch auf, sonst kriegen wir Sie wegen Behinderung der Polizeiarbeit dran. Oder wegen sonst was ...«
Doch die Stimme aus dem Funk schien sich von dieser Drohung überhaupt nicht beeindrucken zu lassen. Ganz im Gegenteil:

Sie hören jetzt auf zu labern, mein lieber Herr Hauptkommissar - das hier ist verdammt ernst! Todernst! Haben Sie eine Ahnung, wie das ist, wenn mein Airbus gleich in Ihre Innenstadt kracht? Oder in das Tanklager etwas weiter nördlich? Also tun Sie mal was Ungewöhnliches und schmeißen Ihren Denkapparat an! Ich will eine provisorische Landemöglichkeit und zwar jetzt und sofort!

»Aber wir haben hier seit 45 Jahren keinen Flugplatz mehr, LH-409. Das Einzige, was hier 2 Kilometer geradeaus läuft, das ist unsere Regattabahn.«

Negativ. Wir sind kein Wasserflugzeug.

»Und was wäre mit der Autobahn? Die A3 ist hier ziemlich breit; eine Richtungsfahrbahn hat gut 14 Meter.«

Könnte klappen. Ich habe Freunde in Oberhausen und kenne mich hier ein wenig aus. Mein Airbus hat allerdings eine Flügelspannweite von 34,10 m. Wie hoch sind die Leitplanken? Gibt es Lampenmasten auf dem Mittelstreifen. Oder Schilderbrücken und solche Sachen?

»Soweit ich mich erinnere, gibt es zwischen dem Kaiserberger Kreuz und Oberhausen gut zwei Kilometer Autobahn ohne Schilderbrücken; keine Lampenmasten und auch keinen starken Baumwuchs. Aber dann kommen einige Unterführungen ...«

... dann schicken Sie mal schnell alles, was Sie haben, dahin. Also Feuerwehr, Notarzt, u.s.w. Ich bin gleich über dem Zoo und sehe den Spaghettiknoten vor mir. Wenig Verkehr. Ich habe keine Wahl und geh jetzt runter ...

Nachdem die Stimme im Funk schwieg, sah Klaus Neumann seinen Kollegen Heinz Paulig an und sagte zögerlich: »Ich weiß nicht so recht.«
Doch nur wenige Sekunden später kam eine Meldung über den Polizeifunk herein, die den vermeintlichen Scherz als bitteren Ernst enttarnte: Nach Angabe der Besatzung von Egon 3112, die mit ihrem Streifenwagen am Duisburger Zoo standen, wäre gerade ein sehr großes Flugzeug ganz niedrig über sie hinweg geflogen.
Klaus Neumann zögerte keine Sekunde mehr und gab Großalarm für die Polizei, die Feuerwehr und alle Rettungseinheiten!

*
Urs Müller zog seine Angel aus dem Wasser der Ruhr und betrachtete den kleinen Fisch, der da am Haken zappelte. Er nahm den Fisch, löste ihn vorsichtig vom Haken und warf ihn wieder zurück in den Fluss. »Hau ab und sag Deinen großen Brüdern Bescheid, dass es hier ganz leckere Maden gibt ...«, schimpfte er leise und wollte gerade eine Made auf den Haken aufziehen, als ein lautes Jaulen seine Konzentration störte.
Er erhob sich von seinem Sitz und sah zu der mächtigen Autobahnbrücke hoch, die die Ruhr an der Stelle überspannte, wo er seinen Angel-Stammplatz hatte, seit er in Rente war. Fassungslos starrte er auf das riesige Flugzeug, das in wenigen Metern Höhe über der Autobahn schwebte.
»Mein Gott ...«, stammelte Urs, »das sieht ja so aus, als wenn der hier runter kommen will ...«

Urs Müller warf sein Angelzeug weg und rannte den Deich hoch. Er überquerte die Uferstraße und stieg die Treppe zur Autobahnbrücke hoch. Völlig außer Atem erreichte er die Fahrbahn, kletterte über die Leitplanke und sprang auf die Standspur. Vor ihm, keine hundert Meter entfernt, berührte das Fahrwerk des Flugzeugs gerade die Fahrbahn und das Motorengeräusch steigerte sich zum Inferno.
»Ach du scheiße. Der macht tatsächlich ernst«, stammelte Urs, der schon oft genug geflogen war, um zu wissen, dass der Pilot gerade vollen Gegenschub auf die Triebwerke gegeben hatte. Er winkte einem Autofahrer zu, der sein Fahrzeug auf der rechten Spur angehalten hatte und völlig entgeistert nach vorn schaute. Urs riss die Beifahrertür auf und schrie: »Ich bin ausgebildeter Rettungssanitäter. Fahren Sie hinter dem Flugzeug her! Los Mann; machen Sie schon!«
Der Fahrer, ein junger Mann von vielleicht 20 Jahren, schien noch zu zögern und Urs schnauzte ihn an: »Wenn Sie Schiss haben, dann hauen Sie ab und lassen Sie mich fahren. Jede Sekunde zählt jetzt! Es geht um Leben und Tod!«
»Aber wenn die Kiste hochgeht ...«, murmelte der Fahrer ängstlich, doch Urs schüttelte den Kopf: »So schnell explodieren Flugzeuge nicht«, log Urs, »nur im Fernsehen. Und jetzt fahren Sie endlich los, verdammt!«
Nach endlosen Sekunden gab der junge Mann endlich Gas. Der Wagen ruckte an und raste hinter dem Flugzeug her, das gerade eine Notlandung auf der Autobahn versuchte ...

(Fortsetzung folgt)

Autor:

Uwe Kirchberg aus Duisburg

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