Bernard Schultze - Gegenwelten

Bernard Schultze - Retrospektive im MKM vom 19.10.2012 bis 20.1.2013
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Das Museum Küppersmühle in Duisburg zeigt noch bis zum 20.1.2013 die Werkschau eines Künstlers, dessen Leben und Wirken in unsere Tage, in die heutige Welt und besonders ins Ruhrgebiet passt. Seine Biografie wie auch seine vielfältigen Arbeiten erzählen von Zusammenbruch, wirtschaftlichem Totalverlust, Migrationshintergrund, Neuanfang aus dem Nichts heraus, Innovationsgeist, Wandlungsfähigkeit und Neugier auf das Leben wie auch von der persönlichen Disziplin eines agilen Mannes, der seine Schicksalsschläge als Glücksfall ansah um Neues beginnen zu können, einem, der mutig gegen den Strom schwamm und sich bemühte, seiner Zeit stets eine Nasenlänge voraus zu sein. Bei soviel Aktualität vergisst man schnell, dass Bernard Schultze's Geburtstag schon fast 100 Jahre zurück liegt.

Bernard Schultze wurde 1915 im heutigen Polen geboren, studierte von 1934 bis 1939 Kunst in Berlin und Düsseldorf und musste als Soldat der Wehrmacht von 1939 bis 1945 - also den gesamten 2. Weltkrieg lang - als deutscher Soldat in Russland und Afrika sowohl Täter als auch Opfer sein.
Seine wirtschaftliche Existenz wurde 1944 bei einem Bombenangriff auf Berlin vernichtet.
Nach der Flüchtlingszeit begann er ab 1947 in Frankfurt am Main wieder mit dem Malen - in einer Zeit, als die Stadt noch in Trümmern lag und potentielle Käufer dünn gesäht waren.

Nach den Kriegserlebnissen, dem unmittelbaren Miterleben von Tod, Zerstörung und Gräultaten konnte und wollte Schultze - wie so viele andere Künstler der damaligen Zeit - nicht mit dem fortfahren, was bislang in der Kunst üblich war und wandte sich der abstrakten, nicht geometrischen Malerei zu.

Zunächst machte Schultze noch bei verschiedenen Kunstrichtungen Anleihen: Picasso, Kubismus, Willi Baumeister, Surrealismus und die ganze klassische Moderne wurden von ihm im Schnelldurchgang abgearbeitet. Dabei formte sich seine eigene Intention, Farbe von Konzept, Kontur und lokaler Bindung zu befreien. Diese informelle Malerei war zugleich eine persönliche Befreiung von dem verlogenen Realismus der Nazikunst.

Bernard Schultze's traumatische Erlebnisse von Sterben, Zerstörung und Verlust sowie den damit einhergehenden Ängsten prägten fortan seinen Umgang mit der alltäglichen Angst, die in das Leben eines jeden eindringt. Angst wurde für ihn zur Triebfeder, die er quasi in Selbsttherapie mit den Mitteln der Malerei zu überwinden versuchte. Die kreative Umsetzung seiner Gedanken und inneren Monologe in Bilder verschaffte ihm eine Erleichterung von dem traumatisch Erlebten. Schultze fand einen Weg, selbst den Verlust all seines Besitzes ins Positive umzudeuten. Für ihn war es der glückhafte Neubeginn, der Aufbruch in eine neue Schaffensphase, mit - wie er mal sagte - "nichts als einer Rolle Verdunkelungspapier und Leimfarbe neu zu beginnen".

1952 begründete Schultze mit den Künstlerkollegen Karl Otto Götz, Otto Greis und Heinz Kreutz die "Quadriga", die erste avantgardistische Künstlergruppe im Nachkriegsdeutschland. Mit der deutschen Variante des Tachismus war die Keimzelle des deutschen Informel entstanden. Den Quadriga-Künstlern gelang der Anschluss an die nationale wie internationale Kunstszene.

Schultze's Bilder blieben, anders als die seiner informellen Mitstreiter, zumeist surreal assoziativ oder vermitteln über ihre Bildtitel Erzählerisches, so dass sie einen eigenen Kosmos entwickeln.
Der Wiedererkennungswert von Schultze's Gemälden liegt gerade darin, dass der informellen Malerei eine persönliche visionär-erzählerische Komponente innewohnt.

Schon ab 1954 experimentierte Schultze mit der Mehrdimensionalität der Fläche.
Plastische Einklebungen und Einschmelzungen verschiedener Materialien lassen Hohlräume, Tentakel, Beulen aus dem Bildgrund erwachsen - das zweidimensionale Bild erobert mit organischen Anmutungen den 3-dimensionalen Raum.

Schon bald entstehen Reliefbilder und freie Plastikbilder, mit denen Schultze die zuvor bestehende Trennung zwischen zweidimensionaler Malerei und dreidimensionaler Plastik aufhebt. Die Übergänge der Dimensionalität sind zugleich Übergänge vom Organischem ins Anorganische, vom Mensch zum Gewächs.

Mit den sogenannten "Tabuskris" und "Zungen-Collagen" schafft Schultze neuartige Werkgruppen.
"Tabuskris" sind aus der surrealistischen écriture automatique entlehnte, handschriftartig verfasste Schrift-Zeichen-Bilder.
Auf filigran gezeichneten und aquarellierten Papierarbeiten scheinen abstehende Papier-"Zungen" in den Raum vorzudringen, so dass sich die zeichnerische Geste plastisch aus der Bildfläche heraus zu bewegen scheint.

In den 1970'er Jahren nutzte Bernard Schultze aus seiner Verehrung der spätmittelalterlichen Malerei heraus die Technik der Grisaille-Malerei für seine Hell-Dunkel Malerei in Schwarz-Weiß-Grau-Tönen, mit der er den Grenzbereich zwischen Zeichnerischem und Malerischem auslotete.
In seinen Grisaillen erkundet Schultze den innerbildlichen Raum. Hier erleben wir Schultze in einem ruhigen In-Sich-Gekehrt-Sein, in innerer Versenkung und Kontemplation.

Der meiner Ansicht nach wichtigste Teil von Bernard Schultze's Werkstücken sind die ab 1961 entstandenen sogenannten "Migof"-Gebilde. Die von Schultze stammende Wortschöpfung steht für vollplastische Objekte, die Kreaturen zwischen Lebewesen und Kunst darstellen. Diese uneindeutigen Schwellen-Existenzen stehen zwischen Wachsen und Verwesen, zwischen Himmel und Hölle, zwischen Feen und Dämonen oder Menschen und verschlingender Natur. Gerade diese immer noch hochaktuellen Arbeiten strahlen aus bis in die Avantgardekunst der heutigen Zeit.

In der von Eva Müller-Remmert kuratierten Ausstellung im MKM in Duisburg begegnet man den "Migofs" in verschiedenen Ausstellungsräumen, die jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten gewidmet sind.
Die mit einigen absichtlichen Brüchen chronologische Hängung präsentiert die Werkschau eines der wichtigsten Vertreter des deutschen Informel. In akribischen Recherchen hat Frau Müller-Remmert rund 80 Gemälde, Zeichnungen, "Migof"-Objekte und Rauminstallationen aus fast 60 Jahren intensiven künstlerischen Schaffens zusammen getragen. Diese wie in einem Schultze'schen Energieraum vereinten Schlüsselwerke geben Kunde von den kosmischen Weiten, der inneren Versenkung, den beklemmenden Angst- und Zerstörungsbildern eines Bernard Schultze, bei dem der Verfall aber immer auch mit neuem Werden und hoffnungsvollem Wachsen einhergeht.

Eine gelungene Retrospektive auf das Werk des 2005 im Alter von fast 90 Jahren verstorbenen Pioniers der informellen Kunst!
Die aktuelle Ausstellung ist nicht nur aktuell und informativ sondern lädt auch zu eigenen Erkundungen und Auslegungen der surreal anmutenden Details ein.

Das MKM bietet neben einem Katalog auch jeden Sonntag ab 15 Uhr Führungen durch die Ausstellung und die Sammlung an. Im Dauerausstellungsbereich wird Bernard Schultze nochmals in einem eigenen Raum präsentiert und kann zugleich in Korrelation zu den übrigen Künstlern der deutschen Nachkriegs-Avantgarde gesehen werden.

Autor:

Dorothea Weissbach aus Oberhausen

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