Eine Wanderung durch Walsum
Bei Sankt Dionysius

Walsum aus der Ferne, 2019
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In der Ferne bläst eine Kapelle. An der „Wacholderquelle“ sitzen Menschen an Biergartengarnituren. Der Abend wird eingetrunken, es ist heiß. Die „Wacholderquelle“ steht seit zweihundert Jahren am Fuß des Rheindeichs, seit zehn Jahren im Schatten eines monströsen Kühlturms. Wo Hunderte Jahre lang ein Dorf war, ist jetzt nichts als ein Kraftwerk. Nur ein einsames Fischrestaurant, so alt wie die „Wacholderquelle“, ist geblieben; Auf der anderen Seite des Deichs steht der „Walsumer Hof“ mitsamt einer sinnlosen Verkehrsinsel dicht an die Mauer des Kraftwerks gedrängt. Die Fanfaren des Bürgerschützenvereins kommen näher. Neben der Kneipe stehen drei Kirmesbuden. Es gibt Zuckerwatte, ein Kinderkarussell dreht sich. Benjamin Blümchen, Fix und Foxy drehen sich. Allein. Kinder sieht man nicht hier. Ein paar Rentner sitzen an den Tischen, sie erwarten die Schützen beim Bier. Gebrannte Mandeln könnten sie dazu essen. „Leute, kauft gebrannte Mandeln!“, sollte irgendjemand rufen. Nirgends ist Bedienung zu sehen.

Das Kinderkarussell zirkuliert zum Gesang von Otto Waalkes, „Go West“ auf Deutsch. Das Tambourcorps der Schützen hält „Alte Kameraden“ dagegen. Gegenüber der Kneipe dehnt sich ein alter Kirchhof aus, St. Dionysius. Ein steinerner Bischof über dem Portal der Kirche spendet den Zechern seinen Segen. Der Wirt brennt seinen Wacholder noch selbst. An der Kirche lehnt eine Klinik für Trinker, für Suchtkranke aller Art. Neben dem Gasthaus zieht ein Hafenkanal die Grenze zwischen Industrie- und Naturschutzgebiet. Selten gewordene Vögel brüten in den Rheinauen, fliegen über dem Kühlturm des Kraftwerks und dem alten Fördergerüst dahinter, das von einem Steinkohlebergwerk übrig geblieben ist. Die Schützen kommen näher, ein Polizist geht mit einer Kelle voran. Früher säumte das ganze Dorf die Bürgersteige, wenn die Grünröcke kamen, man winkte, Kinder staunten ehrfürchtig. Heute sitzen die Leute schlecht gelaunt unter Deutschlandfahnen in ihren Gärten, beim Grillen in der Sommerhitze. „Alte Kameraden“ will niemand hören. Stumme Fernsehbilder flimmern unter Sonnenschirmen. Deutschland ist in der Vorrunde ausgeschieden, Kolumbien spielt gegen England, es brutzelt und qualmt. Die Schützen marschieren kaum beachtet. Ihre Damen tragen Hobbit-, Buddha-, Darth-Vader-Tattoos auf den Schultern zu biederen sommerlichen Ausgehkleidchen. Ein Mensch mit Hund knipst mit seinem Telefon den Umzug, der die „Wacholderquelle“ streift. Es geht bergauf, die Hauptstraße entlang, Hund und Herr folgen den Schützen. Die Schützen biegen rechts ab, Hund und Herr ändern ihren Kurs nicht.

An den Trümmern eines kleinen ländlichen Bahnhofs vorbei, steigen der Mann und sein vierbeiniger Begleiter auf eine Brücke. Ringsum bietet sich der Anblick verwaisten Industriegeländes. Das war einmal die Zeche Walsum. Gestrüpp und Abfall säumen die Straße. Im Verkaufsfenster einer kleinen Holzbude am Rande des Radwegs stehen Spargel, Erdbeeren und Kirschen zum Verkauf. Eine Verkäuferin sitzt daneben in ihrem Auto, eine hübsche Türkin, sie spielt mit ihrem Smartphone und hört Musik. Die Musik kommt aus zwei altmodischen Holzlautsprechern, die neben einem Schallplattenspieler aus den Siebzigern auf der Rückbank stehen. Es dreht sich eine Langspielplatte. Mireille Mathieu singt „Besser frei wie ein Vogel zu leben als im goldenen Käfig zu sein“, dann Peter Alexander „Die kleine Kneipe“. Die Türkin summt. Sie ist aufwändig geschminkt, trägt ihr wildes schwarzes Haar lang und offen, ein dezentes Dekolleté, zerrissene Jeans und an den Armen Henna-Tätowierungen. Erst erschrickt sie, als der kleine Hund vor der offenen Fahrertür stehen bleibt und schnuppert, dann spricht sie zu ihm und streichelt ihm den Kopf. Sie sei selbst Sängerin, erzählt sie dem Mann, als er ein Kilo Erdbeeren ordert, aber was sie singe, sei sicher nicht sein Geschmack, viel zu türkisch. Der Mann lacht. Er sucht an seinem Smartphone seine Musik und spielt der staunenden Frau Orient-Pop der Dissidenten vor. Eine Limousine stoppt. Ein freundlicher Mann steigt aus, er spricht Türkisch mit der Frau, er lacht, macht große Gesten, kauft einen ganzen Obstgarten. Der habe sie mal bei einer Hochzeit singen gehört, ruft die Frau dem Hundeführer zu, als er zum Abschied winkt.

Hoch ragt ein Weltkriegsbunker auf, rissiger grauer Beton, ein halblebensgroßes Kruzifix davor. Eine kleine Siedlung der 1940er Jahre, „Mickymaussiedlung“: kein Mensch weiß mehr, wie sie zu ihrem Namen kam. Irgendein armer Teufel, aus russischer Gefangenschaft heimgekehrt, hat damals diesen Jesus geschnitzt, ihn ans Kreuz gedübelt und hier aufgestellt. Das Holz hat sich während siebzig Jahren dem Bunker angeglichen, ist zersplittert und verwittert, Kunst geworden. Es scheint blankes Entsetzen über die Kriegsgreuel in den ausgemergelten Augenhöhlen des Heilands zu schimmern oder über den grauenhaften alten Bunker in seinem Rücken. Es scheint, als friere Christus. Damit es ihm ein bisschen besser geht, kommen Männer mit Farbtöpfen und Pinseln, eine junge Frau von der WAZ ist bei ihnen. Die Männer malen seine Beine und Arme rosa an, das seine Blöße bedeckende Tuch himmelblau, sie färben seinen Bart braun wie Kacke, die Dornenkrone wie Karamellpudding, seine Augen kriegen hühnereigroße braune Glupschpupillen, in den Löchern in Händen und Füßen steht bald frisches Blutrot. Die Zeitungsschreiberin notiert eilig, was die Männer ihr zu ihrem Tun erzählen, sie gehören dem stadtteilverschönernden Künstlerverein an und sind morgen mitsamt INRI in der Zeitung abgebildet. Breites Lächeln, artiger Text. Der Nazarener ist zufrieden. Mit frisch gebräuntem Bart und dem blauen Lappen vorm Gemächt fühlt er sich gleich viel leichter und sieht aus wie Vader Abraham und die Schlümpfe in Personalunion. Mickymaussiedlung. Irgendwer hat ein Bild von Tim und Struppi an sein Haus gemalt. Tim wirft sich im Gehen einen Mantel über, Struppi reißt die Ohren hoch, sie flüchten.

Es geht durch stetigen Wechsel kleiner Häuslebauerhäuschen mit Bergbaureminiszenzen in Vorgärten und 50er-Jahre-Mietkasernen mit durchgerosteten Teppichklopfstangen in den Hinterhöfen. Kohlewagen bewachen hochglanzlackiert, als Blumenbeete verkleidet, Schrebergärten. Wie eingeklemmt zwischen all dem, trutzig, letzter Mohikaner, steht unter Linden ein altes Gehöft aus schwärzlichem Backstein, dahinter weitere Mehrfamilienhäuser, Bungalows, ein betoniertes Altenheim. Ein bisschen Gewerbe, weite Getreidefelder, die Grenze zweier Städte im niederrheinischen Ruhrgebiet, am Horizont das nächste Kraftwerk. Ostwärts, weit oberhalb des Rheins, trägt ein Kirchturm Pickelhaube, tragen die Straßen Namen verdienter Herren des Kohlegeschäfts oder himmlischer Phänomene. Kometenplatz, Sternstraße, Jupiter-, Merkur-, Sonnenstraße. Ein Weltall mehrstöckiger Wohnklötze auf grüner Wiese, von der A59 flankiert, charakterlose Zweckbauensembles, kleine Läden, ein Großmarkt, alles durchschnitten von der B8 und aus drei Himmelsrichtungen von dem Nichts belauert, das vor langer Zeit rauchende Schlote ersetzte.

Herr und Hund stehen vor einem wuchtigen Felsbrocken, aus dem ein bemühter Metz eine Milde verströmende Heilige Barbara geschlagen hat. Sie blickt eine große Kreuzung an, über die viertelstündig eine Straßenbahn rattert: „Die Talibahn“, sagt man hier boshaft. Rumänen, Inder, Bulgaren, Syrer, Afrikaner, Türken fahren darin durch die übrigen Teile ihrer Heimat, durch Duisburg. Herr und Hund nicht. Der Hund zieht seinen Menschen die B8 entlang. Am Horizont ragen zwei der letzten Hochöfen ins Abendrot. Eine Treppe, von zerrissenem Bauzaun versperrt, führt hinauf zu einem grasüberwucherten Gleisbett, einem weiteren Bahnhof, seit fünfzig Jahren geschlossen. Nur manchmal befahren noch Güterzüge die Eisenbahntrasse, die die Hauptstraße in großer Höhe überspannt. Irgendwer hat ein Friedenslogo in die Betonstufen der Treppe geritzt und den Namen Karl Marx. Die Böschung ist voller Müll, leerer Bierflaschen und -dosen, das Wappen Walsums ist auf die vergammelte Einkaufstüte eines Billigmarkts gedruckt: Der enthauptete Dionysius trägt seinen Schädel unterm Arm, zwei ausgestreckte Finger der segnenden rechten Hand deuten auf einen Stern, der eine Null und zwei Neunen in sich trägt, darunter steht der Name Mars.

Zwischen einem türkischen Bäcker mit Döner-Anschluss und einem China-Imbiss ist eine Apotheke eingekeilt, um die nächste Ecke konkurrieren drei schäbige Pizzabuden. Der Hund kennt den Unterschied zwischen Marx und Mars nicht und kann sich nicht entscheiden, vor welcher Ladentür er scheißen will. Er schaut ins Firmament. Die Sonne brennt noch immer. Die meisten Hunde in der Gegend bekacken eine ehemalige Industriebahntrasse am Rande des Hafens. Der Kühlturm des Kraftwerks rückt wieder in den Blick, vorgelagert ein nichtssagender grauer Kubus, das Hochregallager eines Getränkegroßhandels. Eine Autofähre ist ausgewiesen, auf der früher die Bergleute übersetzten. Dicke Muttis mit Kopftüchtern streunen in langen Mänteln durch Gemüsegärten mit windschiefen Wellblechhütten, dumpfes Grollen aus dem Thyssen-Krupp-Hüttenwerk geht durch die Luft. Bagger stehen vor den Trümmern alter Häuser, der Hafen wird erweitert. Eichenprozessionsspinner verenden in Geröll. Einen Steinwurf weiter stehen brave Reihenhäuser mit gepflegtem Rasen und PVC-Springbrunnen vor den Türen. Über einem wehen Halbmond, Stern und Atatürk-Portrait an einem Mast, im Garten sitzt der Hausherr, einen Papagei auf der Schulter. Ein Fernsehteam filmt ihn, als er vom tagelangen Ausflug seines geliebten Minnoş erzählt. Tierliebhaber aus Hiesfeld, kaum zehn Kilometer entfernt, hatten den ausgehungerten Vogel aufgenommen, aber mit seinen Ausführungen nichts anfangen können, denn er sprach kein Deutsch. „Dat werd ich dem jetzt ma beibring´n“, verspricht der junge Türke der Fernsehkamera.

Die Mireille-Mathieu-Langspielplatte liegt in ihrer Papphülle auf der Rückbank. Die Erdbeerfrau hat den Verkaufsstand geschlossen. Aus ihrem Smartphone dringt ein fliegender Teppich, die Weltmusik der Dissidenten. „Song 4 A Rainbow“, „Morock´n´Roll“, „Three Fish In The Desert“. Der Wirt des Restaurants an der Kraftwerksbastei serviert Gästen Nilbarschfilet mit Salzkartoffeln, Kräutersoße und gemischtem Salat. Sie sitzen im üppigen Grün seines Biergartens, hören das Tuckern der Schiffsdiesel auf dem nahen Rhein, sehen Vögel auf dem Dach des alten Langhofs, in dem sich das Restaurant befindet. Es ist, als existierte gar kein Kraftwerk. Von der Wiese vor dem Gebäude hört man einen jungen Esel schreien. Eine Dame hält im Kauen ihr Smartphone in die Höhe, um die Geräuschkulisse einzufangen. Neuer Klingelton. Auf der anderen Deichseite sitzen die Schützen besoffen auf den Bierbänken. Zwei Patientinnen der Suchtklinik betreten die Szene. Sie drehen übermütig eine Runde auf dem Kinderkarussell, kaufen sich gebrannte Mandeln, sehen sich um, sind unschlüssig, ob sie hier bleiben oder wieder gehen sollen. Die Hitze des Sommertages bleibt standhaft. Am Himmel steht die Sichel des Mondes.

Jens E. Gelbhaar 2018

Walsum aus der Ferne, 2019
Wacholder-Brennerei Claus v. 1715, Walsum 1991
Autor:

Jens E. Gelbhaar aus Duisburg

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