Protestcamp in der City
Um die Ecke wird am Fußballmuseum gebaut, auf der anderen Seite entsteht ein Partystrand, mit Sand und Palmen. Dazwischen haben syrische Kriegsflüchtlinge eine provisorische Plane am Dortberghaus befestigt.
Hier campieren sie nun seit dem 9. Juni. Vorher haben sie mit einer Aktion direkt von dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) an der Huckarder Straße auf ihre Situation aufmerksam gemacht, doch dort waren sie nach Störungen und befürchteten Übergriffen von Rechtsextremisten nicht mehr sicher.
Der 34-jährige Ibrahim Mustafa erzählt stellvertretend für andere von seiner Lage. Farzanda Khalaf übersetzt Fragen und Antworten auf Englisch. Seit siebeneinhalb Monaten ist Mustafa in Deutschland, „fingerprinted“, also aufgenommen, wurde er in Düsseldorf. In der Zwischenzeit war es schon in den verschiedensten Städten in ganz NRW untergebracht.
Sorge um Familie in Kobane
Seine Frau und seine zwei kleinen Kinder, fünf und zwei Jahre alt, musste der Journalist in der Grenzstadt Kobane zurücklassen. Die Stadt ist seit Monaten das Synonym für die Angriffe der IS auf die Bevölkerung. Wie es seiner Familie dort ergeht, weiß er nicht genau. Alle paar Tage hat er Kontakt mit ihnen - wenn es dort Internet-Empfang gibt.
Als Oppositioneller im Gefängnis
„Vor ein paar Tagen hat es wieder einen Angriff der IS auf Kobane gegeben“, erzählt er. „Die meisten meiner Verwandten dort sind tot.“ Früher hat Mustafa für den Sender al-Arabiya gearbeitet, fünf Mal saß der Oppositionelle in Syrien im Gefängnis, berichtet er.
„Seit ich hier bin, ist nichts weiter passiert. Ich habe alle meine Papiere beigebracht, doch noch immer ist über mein Asylverfahren nicht entschieden.“ Dabei hat die Regierungskoalition vereinbart, dass Verfahren für Kriegsflüchtlinge, die nach Deutschlang kommen, in drei Monaten entschieden sein sollen. Die Realität sieht anders aus.
Aktion gegen lange Bearbeitung
Denn die Situation ist für alle, die hier im Camp mit ihrer Aktion gegen die schleppende Bearbeitung demonstrieren, die gleiche: „Wir sind alle in derselben Lage“, so Mustafa. Rund 50 bis 100 Flüchtlinge aus ganz NRW halten sich hier zeitweise auf.
Allen brennt das eine Problem auf den Nägeln: Sie wollen so schnell wie möglich ihre Familien nach Deutschland in Sicherheit bringen. „Es ist für uns unglaublich, dass wir hier sind, aber unsere Familien noch im Krieg sind. Wir werden nicht aufgeben und das Camp nicht verlassen, bevor wir das erreicht haben“, erklären Ibrahim Mustafa und Farzanda Khalef übereinstimmend.
Ärzte und Lehrer harren im Camp aus
„Viele von den Flüchtlingen sind gut ausgebildet, da sind Ärzte, Lehrer und viele dabei, die studiert haben. Wir sind gekommen, um hier zu leben und zu arbeiten, das zu tun, was alle hier tun. Ich glaube an Deutschland, an die Demokratie, und bin hier in Deutschland, weil das Land die Menschenrechte respektiert“, so Mustafa. Sein Bruder lebt sein 20 Jahren hier und hat einen deutschen Pass.
Khalaf ergänzt: „Wir sind sehr geschockt, dass unsere Verfahren so lange dauern. Manche werden fast verrückt hier, einige wollten sich schon umbringen.
"Jeden Tag verlieren wir eine Familie"
Umgerechnet jeden Tag verlieren wir eine Familie in Syrien, in drei Monaten sind wahrscheinlich alle weg.“ Weg bedeutet in diesem Fall: Tot, ermordet von der IS, oder vom syrischen Regime. Auch Khalaf ist in Sorge um seine Familie: „ Meine Familie ist in Karmishli, das ist an der türkischen Grenze. Weil meine Verwandten keine Pässe haben, können sie nicht in die Türkei. Die einzige Möglichkeit wäre, sich in den Irak durchzuschlagen. In Bagdad ist es aber zu gefährlich, und in Erbil ist Schluss, die Lager sind voll dort.“
Hilfe von Dortmundern
Viel Hilfe und Unterstützung bekommen die Flüchtlinge von den Dortmundern, geschützt werden sie rund um die Uhr von der Polizei. „Viele Leute sind gekommen und haben mit uns das Fastenbrechen gefeiert,“ erzählt Khalaf und zeigt Fotos davon auf seinem Handy. Auch Robert Rutkowski, Lokalpolitiker der Piraten begleitet den Protest der Flüchtlinge auf seine Art: Er sitzt, wann immer er Zeit hat, mit anderen Freiwilligen am Camp, hilft, wo es geht und unterstützt, wo es etwas zu tun gibt. „Support“ nennt er das. „Die Initiative dazu hat sich ganz automatisch ergeben. Nach dem Überfall der Nazis auf das Camp habe ich das erst richtig wahrgenommen, was da passiert.“
Er benennt die Schwierigkeiten bei der Bearbeitung der Asylanträge: „Früher konnte man einfach zum BAMF hingehen, man musste dann eben Schlange stehen, aber irgendwann kam man an die Reihe. Jetzt muss man sich telefonisch einen Termin holen und kommt dann nicht weiter.“ Fazit: Das Verfahren stockt schon am Anfang und kommt gar nicht erst richtig in Gang.
Innenminister besuchte Protest-Camp
Innenminister Ralf Jäger war zu Besuch im Camp, auch Polizeipräsident Gregor Lange. Die Flüchtlinge waren im NRW-Landtag, haben Ministerpräsident Hannelore Kraft dort getroffen. Viel Hoffnung auf eine schnelle Bearbeitung konnte sie den Kriegsflüchtlingen nicht machen.
Robert Rutlowski begleitet die Demonstration mit seinen Mitteln: Unter den Twitter hashtag #protestbamfdo berichtet er fortlaufend von den Ereignissen. „Das ist wie ein Zeitstrahl, da kann man alles, was passiert ist, noch einmal nachlesen.“
Lage verschärft sich
Unterdessen verschärft sich die Lage immer mehr: Angriffe und Anschläge auf Flüchtlingsheime nehmen deutschlandweit zu, und am Mittwochabend (1. Juli) stand die Erstaufnahme in Hacheney kurz vor der Schließung - wegen kompletter Überbelegung. Rund hundert Menschen mussten die Nacht im Freien verbringen.
Für die kommenden Monate muss mit weiter steigenden Flüchtlingszahlen gerechnet werden. Nie zuvor waren weltweit so viele Menschen auf der Flucht wie in diesen Tagen.
Hintergrund: Flüchtlingsströme
Seit dem Zweiten Weltkrieg waren nicht mehr so viele Menschen auf der Flucht: Knapp 60 Millionen Menschen flüchten weltweit vor Kriegen, Konflikten und Verfolgung - die höchste Zahl, die jemals von dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR)verzeichnet wurde, und sie wächst rasant.
Die Entwicklung begann 2011 mit dem Ausbruch des Krieges in Syrien, der mittlerweile weltweit die größten Fluchtbewegungen verursacht hat. Weltweit wurden im Jahr 2014 täglich durchschnittlich 42500 Menschen zu Flüchtlingen, Asylsuchenden oder Binnenvertriebenen. Das entspricht einer Vervierfachung über die letzten vier Jahre.
Statistisch betrachtet ist von 122 Menschen weltweit aktuell eine Person entweder ein Flüchtling, binnenvertrieben oder asylsuchend. Wären alle Menschen auf der Flucht Bürger eines einzigen Landes, stünde die Nation bevölkerungsmäßig weltweit auf Platz 24.
Seit 2010 hat sich die Zahl der Flüchtlinge vervierfacht. 1,8 Millionen Asylsuchende warten weltweit auf den Ausgang ihres Asylverfahrens.Die Hälfte aller Flüchtlinge sind Kinder.
Nachgefragt
Der Stadt-Anzeiger sprach mit Christoph Sander, Sprecher des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF)in Nürnberg.
Besteht ein gesetzlicher Anspruch von Flüchtlingen aus Kriegs- und Krisengebieten auf Bearbeitung ihrer Asylanträge innerhalb von drei Monaten? Warum kann diese Frist nicht eingehalten werden?
Bei der im Koalitionsvertrag vereinbarten Bearbeitungsdauer von drei Monaten für Asylanträge handelt es sich um keine gesetzliche Vorgabe. Eine zeitliche Vorgabe für die Umsetzung gibt es nicht. Jeder Asylantrag stellt immer einen Einzelfall dar, der individuell zu prüfen ist. Hierbei unterscheidet sich das Asylverfahren von Fall zu Fall. Das gleiche gilt für die Verfahrensdauer: Es gibt Verfahren die schneller entschieden werden können und Verfahren die länger dauern. Geprägt wird die Verfahrensdauer von einer Vielzahl verschiedener Faktoren, hier die wichtigsten:
· Herkunftsland: Handelt es sich z.B. um Anträge, bei denen die Sachlage klar ist, so ist eine Entscheidung sehr viel zügiger möglich als in Fällen, in denen weitere Sachverhaltsaufklärung erforderlich ist.
· Besondere Fallgestaltungen, Krankheitsfälle: Erfordern in der Regel weitere Sachverhaltsermittlungen bis hin zur Einholung umfangreicher ärztlicher Gutachten.
· Hohe Zugangszahlen: Erhöhte Zugänge, wie in den ersten Monaten 2015 aus dem Kosovo, erfordern vermehrte Anhörungen zu Lasten von Entscheidungen. Gleichzeitig kann dies dazu führen, dass Außenstellen je nach Verteilung der Antragsteller einer höheren Anhörungsbelastung ausgesetzt sind. Hierdurch können sich
zwangsläufig längere Zeiten zwischen Antragstellung und Anhörung ergeben.
Was beabsichtigt das BAMF zu tun, um die Unterlagen zügiger zu bearbeiten?
Ein Asylverfahren beim BAMF dauert von der Aktenanlage bis zur Zustellung des Bescheids gegenwärtig im Schnitt 5,1 Monate. Menschen, die in der Bundesrepublik Deutschland Asyl beantragen, sollten grundsätzlich so schnell wie möglich Klarheit darüber erhalten, ob ihnen dieser Schutz gewährt werden kann und sie in Deutschland bleiben können oder ob bei Ihnen keine schutzrelevanten Gründe bestehen und ihr Antrag abgelehnt wird. Das BAMF hat daher bereits 2014 umfangreiche Maßnahmen zur Beschleunigung der Verfahren eingeleitet:
· Der Arbeitsbereich Asyl wurde verstärkt. Im 2. Halbjahr 2014 hat das BAMF 300 zusätzliche Stellen im Bereich Asyl erhalten, die alle besetzt wurden. Für das Jahr 2015 hat das BAMF weitere 350 Stellen erhalten, deren Besetzung fast abgeschlossen ist.
Im weiteren Verlauf des Jahres 2015 werden dem BAMF zusätzlich hierzu 1.000 weitere Stellen zur Verfügung gestellt, die besetzt werden können.
· Seit In-Kraft-Treten des Gesetzes über die sicheren Herkunftsländer (6.11.2014) können Anträge von Personen aus Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina beschleunigt bearbeitet werden.
· Im Oktober 2014 hat das BAMF ein verkürztes Verfahren für Antragsteller eingeführt, die nachweislich aus Syrien oder dem Nord-Irak stammen. Die Prüfung ihrer Anträge dauert mittlerweile in der Regel nur wenige Wochen, sie erhalten Schutz in der Bundesrepublik Deutschland.
· Seit Mitte Februar bis Mitte Mai wurden Asylanträge von Antragstellern aus dem Kosovo in einem besonders konzentrierten Verfahren bearbeitet Link.
Diese Maßnahmen haben bereits zu einer deutlichen Verkürzung der Verfahrensdauer geführt, denn die durchschnittliche Verfahrensdauer liegt gegenwärtig wie eingangs dargestellt bei 5,1 Monaten – im Jahr 2014 lag sie noch bei durchschnittlich 7,1 Monaten. Für Anträge, die nach dem 1.1.2014 gestellt wurden, liegt die durchschnittliche Verfahrensdauer bereits jetzt bei 3,5 Monaten. Unter diesen Anträgenbefinden sich besonders viele aus Herkunftsländern, die prioritär und besonders schnell bearbeitet werden können, wie etwa aus Syrien, Kosovo und den Westbalkanstaaten.
Werden die Flüchtlinge aus Krisengebieten nach der Genfer Konvention behandelt bzw. wenn nein, wie sind die Vorgaben zur Erteilung einer Duldung bzw eines Bleiberechts? Und ist es möglich, in diesen Fällen auf eine Einzelfallprüfung zu verzichten?
Für Flüchtlinge aus Syrien wird seit Ende letzten Jahres bereits ein beschleunigtes Verfahren durchgeführt. Unter bestimmten Voraussetzungen kann hierbei auf die Anhörung verzichtet werden. Detaillierte Informationen hierzu gibt's auf der Homepage des Bundesministeriums hier
Autor:Lokalkompass Dortmund-City aus Dortmund-City |
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