Goodbye Saturn
2006 wurde dem Pluto der Planetenstatus aberkannt, weil er zu klein war. Und nun ist der Saturn geschlossen, weil seine Erlöse zu klein waren.
Meinen ersten Rasierer hab ich in diesem Saturn gekauft. Und alle meine Eierkocher, die verreckt sind, nachdem — wahrscheinlich terroristisch motivierte — Eier darin explodiert sind. Meine Kamera, mit der ich gestern die Fassade fotografierte. Meine SD-Karten. Meinen Drucker, für den mich Johannes Gensfleisch a.k.a. Gutenberg mit seiner Bibel erschlagen würde — nur um das Teil zu kriegen.
Ich mochte den Laden.
Bevor er vor ein paar Jahren renoviert wurde, konnte man noch echte Rohrpostleitungen an den Kassen bewundern. Und als vor einiger Zeit die Preisschilder auf LC-Displays umgestellt wurden, konnte man die technologischen Möglichkeiten von Dynamic Pricing förmlich riechen. All die Jahre durfte die Niederrhein-Metropole Wesel dank Saturn dem moore'schem Gesetz der Speicher-Entwicklung beim Wirken zusehen.
Das Alles gehört jetzt der Vergangenheit an. Wie ein Nokia 3210 als Geschäftsstandort.
Es mangelte an Kundschaft, weil sich die Konsumenten offenbar kollektiv dazu verschworen haben, lieber hoffnungslos unterbezahlte Lieferdienstler, (nein… Lieferdiener… oder noch passender: Liefersklaven) quer durch Lagerzentren und Straßen zu jagen, als sich für einen Spaziergang mit anschließender Unterstützung des Einzelhandels in die Weseler City zu bequemen. Wobei… ohne Saturn das »City«feeling nun irgendwie kränkelt; denn gerade Saturn hatte ja dieses großstädtische Attribut von Moderne und Urban Lifestyle herbeigebracht.
Technikmüdigkeit kann nicht der Grund für die Geschäftsaufgabe sein.
Im Winter laufen Hunde 'rum, die sind so LED-illuminiert, die sehen aus, als ob sie gerade vom Set des dritten Tron-Filmes kommen. Und 99% der Leute haben mehr Prozessorpower in der Hosentasche, als Konrad Zuse Lochkarten gebraucht hätte, um sich daraus einen doppelten Trumptower zu bauen. Auf dem Ladebalken zur vollständigen Digitalisierung laufen wir weiter fröhlich pfeifend auf den Lebensstatus »Mediensuchti« oder »Cyborg« zu. Wir haben Schrittzähler und Park-Assistenten und suchen Pokémons. Vor hundert Jahren wäre man für die Suche nach inmateriellen Drachen in die Irrenanstalt gekommen — heute ist es einer der wenigen Gründe, mal »raus« zu gehen.
Der Mensch hat sich zu seinen Adern aus Blut nun Kabel für Strom und Antennen für Funk anbei getan.
Diese Zeiten wären für Saturn eigentlich das Paradies — nur dass die Bäume der Erkenntnis von Gut und Böse jetzt mit ihren Früchten werfen, um Aufmerksamkeit zu kriegen und Kunden abzuwerben.
Die Zeiten wären in der Tat gnädig — doch Geiz ist geiler. Das war mal Saturns Motto und selbst verliehener Unique Selling Point. Jetzt wurde der Point of Sale genau davon gefressen.
Wäre es nicht so traurig, gälte es als Ironie des Schicksals.
Man kann den Verkäuferinnen und Verkäufern nur alles Gute wünschen. Und sich bedanken: für die Geduld, die es braucht, um zu erklären, dass 1000GB kein Terabyte sind, und dass die goldenen W-Lan-Kabel nicht aus sind, sondern dass es sie nicht gibt. Sich bedanken, für die Freundlichkeit und dem Wunsch, dem Kunden so viel Auswahl zu bieten, dass man auch die Gefahr einging, sich damit zu überwerfen.
Was die Zukunft bringt? Meist wird es ein neues iPhone sein. Was die Zukunft dem Standort Kreuzstraße 13 bringt? Keine Ahnung.
Wenn man den demografischen Wandel zu Rate zieht, kommt dort vielleicht ein Fashion-Outlet für beige Funktionswesten rein.
Wenn man die Trendanalysen exponentiell weiterdenkt, könnte dort aber genauso gut auch eine Wasserpfeifen-Erlebniswelt eröffnen.
Oder irgendwer wird kommen und vorschlagen, die Halle in der Farbe »Betonsymphonie« zu streichen und ein Parkdeck daraus zu machen.
Das Cityfeeling wird draufgehen — das ist klar.
Mach's gut, altes Technikhaus. Ich werd' dich vermissen.
Autor:Timothy Kampmann aus Wesel |
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